Vom Lohnvergleich bis zu flexiblen Arbeitszeiten
Im Bereich HR warteten nicht weniger als 18 strategische Ziele auf mich, die ich gemeinsam mit der lokalen HR-Abteilung umzusetzen hatte. Schnell stellte sich heraus, dass die lokalen Angestellten gut ausgebildet und fleissig waren sowie über eine schnelle Auffassungsgabe verfügten. Was sie oftmals nicht hatten, waren dieser typisch mitteleuropäische Ehrgeiz, die Verbindlichkeit, der kritische und wache Geist, der unbändige Wille zur ständigen Verbesserung und zum Hinterfragen bestehender Prozesse. Geschichte, Erziehung, Kultur, Politik und vor allem die Bildung führen zu diametral anderen Prioritäten, Ansichten und Handlungen. Das war enorm spannend, bereichernd, manchmal auch einfach nur mühsam, unverständlich und herausfordernd. Je länger ich in Nicaragua lebte, je näher kam ich den Leuten im HR und den anderen Mitarbeitenden in der Firma, je mehr Vertrauen bauten wir auf und je dynamischer und fruchtbarer wurde die Zusammenarbeit.
Am Ende des zweijährigen Einsatzes war die Liste des Erreichten lang: Initiierung und Durchführung eines landesweiten Lohnvergleichs mit über 50 NGO, Einführung von Mitarbeiter- und Zielvereinbarungsgesprächen, Neugestaltung der Lohnpolitik, Einführung flexibler Arbeitszeiten, Gründung einer Mitarbeitervertretung, Neudefinition von Rekrutierungs-, Einführungs-, Entwicklungs- und Trennungsprozessen, Potenzialanalysen, eine Vielzahl durchgeführter Schulungen in den Bereichen Kommunikation, Leadership und betriebliche Gesundheitsförderung. Und natürlich vieles mehr!
Karriere dynamisiert: Mehr Verantwortung dank Auslandseinsatz
Das Beste für mich war, dass ich Zeit hatte, mich vertieft mit den entsprechenden Konzepten auseinanderzusetzen, und nicht ständig durch operative Angelegenheiten des Tagesgeschäfts abgelenkt wurde. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie ungenau und unvollständig meine HR-Arbeiten in der Schweiz aufgesetzt gewesen waren. Kurz: Dank des Einsatzes bin ich heute im Bereich HR bezüglich des Fachwissens und der didaktischen Fähigkeiten viel weiter als zuvor. Ganz abgesehen von den Erfahrungen, die ich abseits der Arbeit in diesem wunderbaren Land habe sammeln dürfen. Heute übrigens, zwei Jahre später und zurück in der Schweiz, bin ich auch dank des Einsatzes im Ausland in eine neue HR-Leitungsfunktion mit mehr Verantwortung eingestiegen. Von wegen Karriere aufs Spiel gesetzt, im Gegenteil, meine Karriere wurde dynamisiert.
Viele Leute fragen mich heute nach meiner Rückkehr, wie es denn so war in Nicaragua. Was soll ich dazu sagen? Wie soll ich ein Leben beschreiben, das in seiner Ganzheit so komplett anders war, mir alles abverlangt und mir gleichzeitig eine neue Dimension geschenkt hat, die mein ganzes Dasein in einem neuen Licht erscheinen lässt? Was ich gesehen habe, was ich gelernt habe, lässt vieles, von dem ich überzeugt war, an das ich geglaubt habe, in neuem Licht erscheinen. Ich glaube, ich bin heute differenzierter in der Betrachtung der Gesellschaft, bin offener, pragmatischer, dankbarer und nicht mehr blind ob einer gewissen Masslosigkeit unseres Lebens in der Schweiz.
Was wir in der Schweiz haben, ist nicht selbstverständlich. Wohlverstanden: Ich habe mich gefreut, wieder in meine Heimat zurückkehren zu dürfen. Die Entbehrungen waren gross trotz Einkaufszentren, die Distanz zu Freunden und Familie trotz Skype beträchtlich, die Unterschiede in der Betrachtung des Lebens zwischen mir als Fremdem und den Einheimischen nicht auszublenden. Und trotzdem strahlt mein Herz, wenn es an die Zeit in Nicaragua denkt, an die Zeit als Auslandschweizer fernab der Heimat. Die finanziellen Einbussen, die ich in Kauf genommen habe, sind nichts im Vergleich zu den Erlebnissen, Freundschaften, Eindrücken und Erfahrungen, die ich in mir trage und die mir niemand mehr nehmen kann. Und wann machen Sie diesen Schritt?
Nicaragua
Nicaragua ist ein Land in Zentralamerika und grenzt im Osten an das Karibische Meer, im Westen an den Pazifik, im Süden an Costa Rica und im Norden an Honduras. Gebirge mit einer Höhe von über 2000 Metern grenzen an Vulkane, Flüsse und riesige Süsswasserseen. Das Land hat eine bewegte Geschichte hinter sich, wurde aufgrund seiner geografischen Lage und seiner Bodenschätze jahrhundertelang durch europäische Mächte und die USA besetzt, ausgebeutet und instrumentalisiert. Immer wieder wurde Nicaragua auch von gewaltigen Umweltkatastrophen heimgesucht. Schliesslich entlud sich der Hass auf eine jahrzehntelange, grausame Diktatur in einer Revolution, der fast zehn Jahre Bürgerkrieg folgten. Seit Anfang der 90er-Jahre befindet sich das Land in einem langsamen Prozess zu einer Zivilgesellschaft, zur Bewältigung der Vergangenheit und unzähliger Traumata, die fast alle Bürger und Bürgerinnen in sich tragen. Heute ist Nicaragua mit seinen 6 Millionen Einwohnern und einer Fläche, die dreimal so gross ist wie diejenige der Schweiz, eines der ärmsten Länder der Welt und wird von einer mächtigen Partei kontrolliert. Und trotzdem: In den letzten Jahren haben die intensiven Bemühungen zum Ausbau von Infrastruktur, Bildung, Bürgerbeteiligung und Tourismus zu neuer Hoffnung für das gebeutelte Land geführt. (Christoph Siegenthaler)