Auslandeinsatz

Schweizer modernisiert in Nicaragua die HR-Abteilung einer NGO

Wer glaubt, Organisationen in Entwicklungsländern hätten bescheidene Ansprüche und Anforderungen im HR und im 
betriebswirtschaftlichen Bereich, der irrt: Auch als HR-Leiter kann man in einem solchen Betrieb viel dazulernen, was einem später im schweizerischen Arbeitsalltag zugutekommt. Ein Erfahrungsbericht von Christoph Siegenthaler.

Warum eigentlich nicht Nicaragua? Warum nicht die Chance packen, die sich mir bietet, und mein HR-Fachwissen auf einem anderen Kontinent und in einem anderen kulturellen Umfeld anwenden? Eigentlich gab es keinen Grund, weshalb ich diesen Schritt nicht wagen sollte. Die Zeit war gekommen, Bestehendes zu verlassen, in die Welt hinauszuziehen und die eigene Komfortzone zu verlassen. Die Zeit war da, Neues zu lernen, aber auch etwas von dem Glück zurückzugeben, das mir durch mein Leben in der Schweiz ohne mein Zutun in die Wiege gelegt worden war. Und so nahm ein Projekt, das zu Beginn nichts weiter als eine von vielen Ideen war, rasch konkrete Formen an – und sollte eine der besten Erfahrungen meines bisherigen Lebens werden.

Aber der Reihe nach: Im Januar 2009 erhielt ich das entscheidende Mail der Organisation Interteam aus Luzern, welche Fachspezialisten sucht und diese als Berater in Entwicklungsländer sendet, um gemeinsam mit einer Partnerorganisation vor Ort einen Beitrag zur Entwicklung und Förderung von Wohlstand zu leisten. Mein Puls erhöhte sich: Ab 2010 würde sich die Option eines mehrjährigen Einsatzes in Nicaragua ergeben, notabene als HR-Fachspezialist und verbunden mit dem Auftrag, in einer NGO mit 130 Mitarbeitenden eine zeitgemässe HR-Abteilung aufzubauen. Zum Zeitpunkt des Entscheids war ich HR-Leiter eines internationalen KMU und im Endspurt zum Masterabschluss in Betriebswirtschaft. Gemeinsam mit meiner Partnerin sagte ich Ja zu einem Freiwilligeneinsatz, Nein zu einem Schweizer Gehalt und Ja zum Sammeln von Erfahrungen. Wir durchliefen eine intensive und gute Vorbereitungsphase durch Interteam.

Hohe Ansprüche, auch von Seiten der Hilfsorganisationen

2010 also nahm ich meine Arbeit bei der NGO La Cuculmeca in Jinotega, Nicaragua, auf. Anfangs noch mit beträchtlichen Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen eines anderen Landes und in einer für mich neuen Sprache. Doch der Einsatz sollte sich schliesslich zu einer kleinen Erfolgsgeschichte entwickeln.

Die Überraschung war gross, als ich das erste Mal die NGO betrat. Ich staunte nicht schlecht, dass in dieser Stadt im Hochland Nicaraguas, in eben dieser NGO, jede Menge Laptops, Beamer sowie ein strategischer Plan auf Basis einer Balanced Scorecard vorhanden waren. Der erste Blick in ein Sitzungszimmer zeigte mir, dass gerade eine Schulung zum Umgang mit Pivot-Tabellen stattfand. Die Strategie wurde mittels systemischen Ansatzes initiiert.

Ich merkte also rasch, dass Entwicklungsland nicht einfach gleichzusetzen ist mit Rückstand, Armut und Korruption. Diese Umstände sind zwar nicht zu verneinen, aber die Extreme führen zu Zuständen, wie wir sie aus Schwarzweiss-Filmen aus vergangenen Zeiten her kennen, bis zur Modernität, die einem europäischen Land in nichts nachsteht. Auch in Entwicklungsländern sind die Ansprüche an betriebswirtschaftliche Themen hoch, nicht zuletzt wegen der Forderungen der europäischen und amerikanischen Hilfsorganisationen. Damit diese ihre Gelder einbringen und damit die Durchführung von Projekten ermöglichen, müssen strenge Auflagen eingehalten werden. La Cuculmeca finanziert mit den Geldern  Projekte in den Bereichen Agro-Ökologie und -Ökonomie, Bürgerbeteiligung, Bildung und nachhaltiger Tourismus. Dies trägt dazu bei, die Lebensbedingungen der armen Landbevölkerung zu verbessern.

Das Unternehmen Interteam

Wissen teilen – Armut lindern. Nach diesem 
Leitmotiv setzt sich Interteam seit 1964 ein für bessere Lebensbedingungen in armutsbetroffenen Ländern und für mehr Solidarität der Schweiz mit den Menschen im Süden. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Weitergabe von Wissen, Fertigkeiten und Erfahrung an Partnerorganisationen. Dazu vermittelt Interteam qualifizierte Schweizer Berufsleute in dreijährige Einsätze nach Afrika und Lateinamerika. Die rund 70 Interteam-Fachleute engagieren sich in den Bereichen Bildung, Ernährung und Gesundheit. Gemeinsam werden neue Wege beschritten und solide Grundlagen geschaffen, um die Lebenssituation der 
lokalen Bevölkerung nachhaltig zu verbessern. 
Interteam-Einsätze sind gegenseitiges Lernen. 
Die Fachleute sensibilisieren aufgrund ihrer 
Erfahrungen auch die Schweizer Bevölkerung für die Anliegen der Menschen im Süden. Als Zewo-zertifizierte Non-Profit-Organisation 
garantiert Interteam einen verantwortungsvollen Umgang mit Spenden und Mitgliederbeiträgen sowie öffentlichen, privaten und kirchlichen 
Geldern. www.interteam.ch, info@interteam.ch

 

Vom Lohnvergleich bis zu flexiblen Arbeitszeiten

Im Bereich HR warteten nicht weniger als 18 strategische Ziele auf mich, die ich gemeinsam mit der lokalen HR-Abteilung umzusetzen hatte. Schnell stellte sich heraus, dass die lokalen Angestellten gut ausgebildet und fleissig waren sowie über eine schnelle Auffassungsgabe verfügten. Was sie oftmals nicht hatten, waren dieser typisch mitteleuropäische Ehrgeiz, die Verbindlichkeit, der kritische und wache Geist, der unbändige Wille zur ständigen Verbesserung und zum Hinterfragen bestehender Prozesse. Geschichte, Erziehung, Kultur, Politik und vor allem die Bildung führen zu diametral anderen Prioritäten, Ansichten und Handlungen. Das war enorm spannend, bereichernd, manchmal auch einfach nur mühsam, unverständlich und herausfordernd. Je länger ich in Nicaragua lebte, je näher kam ich den Leuten im HR und den anderen Mitarbeitenden in der Firma, je mehr Vertrauen bauten wir auf und je dynamischer und fruchtbarer wurde die Zusammenarbeit.

Am Ende des zweijährigen Einsatzes war die Liste des Erreichten lang: Initiierung und Durchführung eines landesweiten Lohnvergleichs mit über 50 NGO, Einführung von Mitarbeiter- und Zielvereinbarungsgesprächen, Neugestaltung der Lohnpolitik, Einführung flexibler Arbeitszeiten, Gründung einer Mitarbeitervertretung, Neudefinition von Rekrutierungs-, Einführungs-, Entwicklungs- und Trennungsprozessen, Potenzialanalysen, eine Vielzahl durchgeführter Schulungen in den Bereichen Kommunikation, Leadership und betriebliche Gesundheitsförderung. Und natürlich vieles mehr!

Karriere dynamisiert: Mehr 
Verantwortung dank Auslandseinsatz

Das Beste für mich war, dass ich Zeit hatte, mich vertieft mit den entsprechenden Konzepten auseinanderzusetzen, und nicht ständig durch operative Angelegenheiten des Tagesgeschäfts abgelenkt wurde. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie ungenau und unvollständig meine HR-Arbeiten in der Schweiz aufgesetzt gewesen waren. Kurz: Dank des Einsatzes bin ich heute im Bereich HR bezüglich des Fachwissens und der didaktischen Fähigkeiten viel weiter als zuvor. Ganz abgesehen von den Erfahrungen, die ich abseits der Arbeit in diesem wunderbaren Land habe sammeln dürfen. Heute übrigens, zwei Jahre später und zurück in der Schweiz, bin ich auch dank des Einsatzes im Ausland in eine neue HR-Leitungsfunktion mit mehr Verantwortung eingestiegen. Von wegen Karriere aufs Spiel gesetzt, im Gegenteil, meine Karriere wurde dynamisiert.

Viele Leute fragen mich heute nach meiner Rückkehr, wie es denn so war in Nicaragua. Was soll ich dazu sagen? Wie soll ich ein Leben beschreiben, das in seiner Ganzheit so komplett anders war, mir alles abverlangt und mir gleichzeitig eine neue Dimension geschenkt hat, die mein ganzes Dasein in einem neuen Licht erscheinen lässt? Was ich gesehen habe, was ich gelernt habe, lässt vieles, von dem ich überzeugt war, an das ich geglaubt habe, in neuem Licht erscheinen. Ich glaube, ich bin heute differenzierter in der Betrachtung der Gesellschaft, bin offener, pragmatischer, dankbarer und nicht mehr blind ob einer gewissen Masslosigkeit unseres Lebens in der Schweiz.

Was wir in der Schweiz haben, ist nicht selbstverständlich. Wohlverstanden: Ich habe mich gefreut, wieder in meine Heimat zurückkehren zu dürfen. Die Entbehrungen waren gross trotz Einkaufszentren, die Distanz zu Freunden und Familie trotz Skype beträchtlich, die Unterschiede in der Betrachtung des Lebens zwischen mir als Fremdem und den Einheimischen nicht auszublenden. Und trotzdem strahlt mein Herz, wenn es an die Zeit in Nicaragua denkt, an die Zeit als Auslandschweizer fernab der Heimat. Die finanziellen Einbussen, die ich in Kauf genommen habe, sind nichts im Vergleich zu den Erlebnissen, Freundschaften, Eindrücken und Erfahrungen, die ich in mir trage und die mir niemand mehr nehmen kann. Und wann machen Sie diesen Schritt?

Nicaragua

Nicaragua ist ein Land in Zentralamerika und grenzt im Osten an das Karibische Meer, im Westen an den Pazifik, im Süden an Costa Rica und im Norden an Honduras. Gebirge mit einer Höhe von über 2000 Metern grenzen an Vulkane, Flüsse und riesige Süsswasserseen. Das Land hat eine bewegte Geschichte hinter sich, wurde aufgrund seiner geografischen Lage und seiner Bodenschätze jahrhundertelang durch europäische Mächte und die USA besetzt, ausgebeutet und instrumentalisiert. Immer wieder wurde Nicaragua auch von gewaltigen Umweltkatastrophen heimgesucht. Schliesslich entlud sich der Hass auf eine jahrzehntelange, grausame Diktatur in einer Revolution, der fast zehn Jahre Bürgerkrieg folgten. Seit Anfang der 90er-Jahre befindet sich das Land in einem langsamen Prozess zu einer Zivilgesellschaft, zur Bewältigung der Vergangenheit und unzähliger Traumata, die fast alle Bürger und Bürgerinnen in sich tragen. Heute ist Nicaragua mit seinen 6 Millionen Einwohnern und einer Fläche, die dreimal so gross ist wie diejenige der Schweiz, eines der ärmsten Länder der Welt und wird von einer mächtigen Partei kontrolliert. Und trotzdem: In den letzten Jahren haben die intensiven Bemühungen zum Ausbau von Infrastruktur, Bildung, Bürgerbeteiligung und Tourismus zu neuer Hoffnung für das gebeutelte Land geführt.  (Christoph Siegenthaler)

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos

Christoph Siegenthaler, Betriebsökonom FH und MScBa, ist HR-Leiter bei Sputnik Engineering AG in Biel. Er arbeitete vom 28.02.2010 bis 29.02.2012 in Nicaragua.

Weitere Artikel von Christoph Siegenthaler