Sieben Thesen über die Sinnhaftigkeit
Alles schreit nach Purpose und Nachhaltigkeit. Der Hauptzweck von Arbeit ist offensichtlich nicht mehr Existenzsicherung. Diese Funktion hat schon längst der Staat übernommen. Doch geht es bei der Debatte wirklich um die Sinnfrage und um höhere Werte? Ist sie nicht vielmehr Ausdruck einer heilen Welt voller Langeweile?
Purpose und die sieben Zwerge. (Bild: iStock)
1. Die Egofalle
Die meisten Menschen in der Schweiz sind auf der obersten Maslow-Ebene angelangt: Wir befinden uns im Wettbewerb um Selbstverwirklichung. Öffentliches Ansehen geniesst, wer seine eigenen Wünsche und Ziele am besten umsetzt. Dazu gehört, dass man sich seine Arbeit und seinen Purpose aussucht. Selbstverwirklichung ist ein egozentrisches Konzept, das nicht mit Purpose-Denken vereinbar ist. Wer sich wahrhaftig einem Sinn verschreibt, muss seine persönlichen Befindlichkeiten und Motivationen zurücknehmen.
2. Die Geldfalle
Zuerst kommt der Lohn, dann das persönliche Wohlbefinden, und erst viel später der Sinn. Das zeigte eine repräsentative Umfrage von Job Cloud, wonach die Verbesserung des Salärs 2022 der mit Abstand wichtigste und häufigste Grund eines Stellenwechsels war. Man hat auch gerne eine Arbeit, mit der man sich identifiziert, aber nur solange das Salär stimmt. Und die Minimalerwartungen der Arbeitnehmenden steigen im Markt des Fachkräftemangels rasant. Auch Idealisten sind nicht mehr bereit, für den Purpose grössere Lohneinbussen und schlechtere Lebensbedingungen in Kauf zu nehmen.
3. Staatsfalle
Selbst ohne Arbeit bleiben Menschen heute auf der obersten Maslow-Ebene, da die Existenzsicherung längst vom Staat übernommen wurde. Selbst wenn jemand sinnbedingt seine Stelle kündigt, ohne eine neue zu haben, nimmt er keine wirkliche Existenzgefahr in Kauf. Sinn-Idealisten bewegen sich also in einem verlust- und risikofreien Raum. Das ist einfach. Heldentum sieht anders aus.
4. Fachkräftemangel in High Purpose Jobs
Wenn Sinn in der Arbeit wirklich so wichtig wäre, warum gibt es dann gerade bei Berufsprofilen mit potenziell besonders hohem Purpose den grössten Fachkräftemangel? Weshalb fehlen Pflegefachkräfte, Pfarrer, Lehrer und Ingenieure?
5. Utilitarismus
Sinn verträgt sich nicht gut mit Utilitarismus. Der eigene Nutzen müsste sich beim Purpose eigentlich hintanstellen. In der Realität sind die Menschen aber immer weniger bereit, Kompromisse beim eigenen Nutzen zu machen. Nutzenoptimierung herrscht überall. «What’s in for me?» ist zum Lebensmotto geworden. So haben Vereine immer mehr Mühe, Mitglieder zu gewinnen. Öffentliche Engagements, Ämter und Freiwilligenarbeit werden zwar auf sozialen Medien präsentiert und zelebriert, doch meist nur dann, wenn es der Selbstverwirklichung dient.
6. Toleranzfalle
Jede Arbeit, jede Wertschöpfung und jede Funktion hat einen Sinn. Alles hat einen Zweck. Die Frage, ob es sich um einen guten und ehrenwerten handelt, hängt vom individuellen Wertesystem ab und ist somit ein persönlicher Entscheid. Heute wird aber in sozialen Medien öffentlich darüber gerichtet, was gut und was schlecht ist. Wer den falschen Sinn gut findet, wird diskreditiert und abgekanzelt. Empörung ist ein neuer Volkssport geworden. Das ist einfacher, als tolerant zu sein.
7. Der Glitzer der Schneeflocken
Die Generation Z wird häufig als Purpose Generation bezeichnet. Hinter vorgehaltener Hand belächelt, gilt sie als Schneeflocken-Generation. Luftige, glitzernde und wunderschöne Schneekristalle, perfekt und einzigartig konstruiert, dem Wind folgend aber trotzdem den Naturgesetzen wie dem Schmelzpunkt und der Schwerkraft ausgesetzt. Auf dem Boden der Realität angekommen, schmelzen die schönen Gebilde zu Wasser. Genau wie das Purpose-Denken, wenn existenzielle Zwänge aufkommen.