Sind Prozesse für das Talent Management nötig oder nicht?
Stefanie Zeng und Sandra Escher Clauss legen dar, warum sie für bzw. gegen Prozesse für das Talent Management sind.
Pro: Ohne Prozesse werden den Seilschaften Tür und Tor geöffnet
Das Talent Management kann ohne Übertreibung als die wichtigste Disziplin im HR angesehen werden. Es dem Zufall zu überlassen, kommt schlicht nicht in Frage, und jedes Unternehmen braucht standardisierte Prozesse, um dieser wichtigen Aufgabe gerecht zu werden. Denn: Prozesse durchbrechen Seilschaften und sind ein wirksames Mittel, um einseitige Begünstigungen zu eliminieren.
Wer sich im Talent Management nur auf den gesunden Menschenverstand oder Sympathien verlässt, kommt nicht unbedingt zum besten Ergebnis. Wer kennt das nicht: In einem Projekt tritt ein so genanntes High Potential auf, sofort versuchen andere Projektleiter dieses Talent auch für künftige Projekte an Bord zu holen. Mit der Konsequenz, dass immer wieder die gleichen Personen auf der Unternehmensbühne stehen.
Leider wird Talent Management oft nur halbherzig betrieben und beschränkt sich auf bestimmte Mitarabeitergruppen: die so genannten Eliten. Doch was ist mit all den anderen? Haben die etwa keine Talente? Natürlich haben sie diese. Aber solche Talente bleiben häufig im Verborgenen, wenn sich niemand die Mühe macht, nach ihnen zu suchen.
Standardisierte Talent- Management-Prozesse sorgen dafür, dass diese sonst unsichtbaren Mitarbeiter sichtbar werden. Also auch jene, die über kein dichtes Beziehungsnetz verfügen – aber trotzdem oder vielleicht gerade deswegen gute Arbeit leisten. Im Sinne einer ausgereiften HR-Strategie braucht es ein prozessorientiertes Talent Management. Existiert es nicht, ist Willkür und Vetternwirtschaft Tür und Tor geöffnet. Bleibt der gesunde Menschenverstand dabei auf der Strecke?
Selbstverständlich nicht. Die Mischung machts. Niemand muss sein Bauchgefühl ausschalten, denn davon lebt das Miteinander in den Unternehmen schliesslich auch. Methoden und Instrumente sollen nur dort greifen, wo Gefühle trügerisch sein können. Sie helfen den Blickwinkel zu öffnen und neue Personen in den Mittelpunkt zu rücken.
Und letztlich sind es diese Transparenz und die klaren Perspektiven, die ein deutliches Signal an die Mitarbeitenden senden: Ihr alle habt Talent und wir helfen euch, dieses zu entdecken und zu fördern.
Stefanie Zeng
Contra: Talente brauchen eine vernünftige Führung und keine Manager
Der War for Talents prägt die Unternehmenslandschaft nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt, und noch immer ist keine Beruhigung der Lage in Sicht. Zwar türmen sich in den Schubladen von Talent-Management-Verantwortlichen hochkomplexe Konzepte, und auch an Software-Tools zwecks Aufbau transparenter Talent-Management-Prozesse wird kaum gespart, doch Wissensträger, Talente oder gar Genies verlassen die Unternehmen vielfach wieder, bevor das HR seine Instrumente überhaupt gewinnbringend einsetzen konnte.
Der Grund? Die Kanäle, um Talente zu finden, zu binden, zu fördern und fordern sind formell und technisch sehr wohl gut, doch der Draht zum Menschen fehlt. Wenn etwa ein global tätiger Industriekonzern beschliesst, alle Mitarbeitenden ab Hierarchiestufe 12 bis hinauf zum CEO als Talente zu bezeichnen, dann ist das einem nachhaltigen und gewinnbringenden Talent Management genauso wenig förderlich, wie wenn unter dem Wort Talent nur junge Hochschulabsolventen subsu-mmiert werden. Denn Talent ist eine Eigenschaft, über die jeder Mensch verfügt. Die Frage ist nur: Wie werden Talente geweckt und im Unternehmen gewinnbringend eingesetzt?
Firmen, die auch morgen noch erfolgreich sein wollen, brauchen keine Mitarbeitenden, die Stellen ausfüllen, sondern solche, die einen Nutzwert generieren und dem Unternehmen helfen, nachhaltig zu wachsen. Jim Collins empfiehlt in einem seiner Bücher, gute Leute einzukaufen, die ihren Weg in der Organisation selber finden und gestalten. Talente bauen sich also ihre eigenen Karrierepfade und brauchen wenig Vorgaben seitens einer hierarchischen, tayloristischen Organisation.
Sie brauchen Strukturen, die es ihnen ermöglichen, sich auszuprobieren. Und sie brauchen eine vernünftige Führungskultur. Talente gedeihen unter Führungskräften, die Menschen mögen, und nicht unter Managern, die Prozesse steuern und überwachen. Wenn im Unternehmen Werte wie Vertrauen, Respekt, Wertschätzung und Aufmerksamkeit gepflegt werden, dann entwickeln sich die Potenziale der Mitarbeitenden fast von selbst. Ob es dann noch Prozesse und Programme braucht, muss jedes Unternehmen selbst entscheiden.
Sandra Escher Clauss