Talent Management

«Soziale Netzwerke sind relevanter geworden»

Jeder spricht über Social Web. Doch auch die «normalen» persönlichen Verbindungen der Menschen haben eine Bedeutung für die Unternehmen. HR Today Special hat die Experten David Seidl und Boris Ricken gefragt, welchen Nutzen das HR daraus ziehen kann.

Herr Seidl und Herr Ricken, welche Bedeutung haben soziale Netzwerke für den Unternehmenserfolg?

David Seidl: Der Einfluss von Interaktion und persönlichen sozialen Netzwerken auf den Unternehmenserfolg wurde durch die Wissenschaft schon sehr früh untersucht. Bereits Experimente in den 1930er Jahren in den USA zeigten, dass die informalen Beziehungen zwischen den Mitarbeitern die Arbeitsleistung massgeblich beeinflussen.

Boris Ricken: Aufgrund der gestiegenen Komplexität und Wettbewerbsdynamik sind soziale Netzwerke relevanter 
geworden. Heute sind in die zentralen Unternehmensabläufe eine Vielzahl unterschiedlichster Abteilungen und Mitarbeiter involviert. Deren gelungene Interaktion und Vernetzung ist entscheidend für den Unternehmenserfolg.

Werden die persönlichen Verbindungen unter dem Hype der Online-Netzwerke unterschätzt?

D.S.: Es ist sicher so, dass durch die enorme Beachtung von Online-Netzwerken die direkten persönlichen Verbindungen in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund gerückt sind. In unserem Berufsalltag greifen wir aber mehrheitlich auf persönliche Kontakte zurück.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit sogenannten unsichtbaren Netzwerken in Unternehmungen. Welche sind das?

B.R.: Für die Praxis sind in der Regel drei Arten relevant: erstens Kommunikationsnetzwerke, zweitens der Austausch von Wissen und drittens der Transfer von Ressourcen oder Arbeit. Wir bezeichnen diese Netzwerke als unsichtbar, da Manager zwar über ihre jeweils eigenen Beziehungen recht gut Bescheid wissen, oftmals aber irren, wenn sie Beziehungen ausserhalb ihres direkten Kontaktkreises beschreiben sollen.

Wie machen Sie diese Netzwerke also sichtbar?

B.R.: In einem ersten Schritt ermitteln wir in einem Workshop mit dem Management, welche sozialen Netzwerke für das Unternehmen relevant sind. Diese erfassen wir dann in einer Online-Befragung. Diese Daten werden anschliessend in einer Netzwerkgrafik visualisiert. In einem zweiten Workshop wird das so ermittelte Netzwerk dann hinsichtlich seiner Stärken und Schwächen untersucht. Für diese werden schliesslich gezielte Massnahmen entwickelt und umgesetzt.

Wie können Verbindungen von Menschen in Organisationen und deren Beziehung zum Unternehmenserfolg messbar gemacht werden?

D.S.: Die Wissenschaft hat hier eine grosse Anzahl von Kennzahlen entwickelt. Beispielsweise misst die Netzwerkdichte, wie viel Prozent aller möglichen Beziehungen tatsächlich genutzt werden. So haben wir in einem Softwareunternehmen festgestellt, dass zwischen Marketing und Vertrieb lediglich fünf Prozent der möglichen Kommunikationsbeziehungen zwischen den Mitarbeitern der beiden Abteilungen genutzt wurden. Beide Abteilungen müssten aber eigentlich eng zusammenarbeiten.

Warum sollte das HR diese Netzwerke kennen?

D.S.: Die Analyse sozialer Netzwerke gibt Aufschlüsse darüber, wie Interaktion und Kommunikation tatsächlich stattfindet. Gerade für bestimmte HR-Themen, wie Wissensmanagement, organisatorische oder personelle Veränderungen, ist dies relevant. So haben wir beispielsweise in einem Projekt bei einer Schweizer Non-Profit-Organisation festgestellt, dass sich nahezu zwei Drittel aller Mitarbeiter direkt an den Geschäftsführer wendeten, wenn sie Fragen zu ihrer Arbeit hatten. Diese Zentralisierung des Wissenstransfers war in diesem Fall besonders problematisch, da die entsprechende Person zwei Jahre später in Pension gehen sollte.

Welche Aussagen können durch die Ergebnisse gemacht werden?

B.R.: Wichtig ist, dass die Analyse von sozialen Netzwerken auch in konkreten Massnahmen mündet. So hatten wir in einem Industrieunternehmen den Fall, dass die Vertriebsmitarbeiter nur schwach in das Kommunikationsnetzwerk über neue Dienstleistungen integriert waren. Um das zu verbessern, implementierte das Management verschiedene Massnahmen, beispielsweise die Durchführung informeller Anlässe, die effektivere Nutzung von Meetings, die Etablierung eines Mentorensystems und ein Job-Rotations-Programm. Bereits ein Jahr später konnten wir bei einer erneuten Erhebung eine deutlich bessere Vernetzung zwischen den Abteilungen feststellen.

Inwiefern hat jede personelle Veränderung auch Auswirkungen auf die soziale Netzwerkstruktur?

B.R.: Es gibt einen unmittelbaren Einfluss. In einem internationalen Unternehmen beispielsweise lief die gesamte Kommunikation zwischen den verschiedenen Länderverantwortlichen über zwei Mitarbeiter in der Zentrale. Das erhöht die Störanfälligkeit des Netzwerkes, falls einzelne Personen ausfallen. In dem konkreten Fall ist genau dies passiert: Die beiden Mitarbeiter sind in andere Unternehmensbereiche gewechselt, sodass das Kommunikationsnetzwerk vollkommen zusammenbrach.

Warum, denken Sie, wird die soziale Netzwerkstruktur bei Personalentscheidungen so wenig beachtet?

B.R.: Es herrscht wohl oft die Auffassung vor: «Was man nicht messen kann, kann man nicht steuern.» Genau aus diesem Grund fokussiert man ja so gerne auf die formalen Strukturen und Prozesse; diese sind nämlich in den meisten Fällen 
dokumentiert und damit sichtbar.

D.S.: Die Methoden der Netzwerkanalyse wurden lange Zeit als eine Sache von Wissenschaftlern angesehen. Neue Visualisierungsprogramme machen soziale Netzwerke jedoch für ein breites Publikum 
verständlich und erlauben deren Berücksichtigung bei unternehmerischen Entscheidungen.

Dr. Boris Ricken

ist verantwortlich für interne Projekte und Prozesse bei PPCmetrics AG sowie externer Dozent an der Edinburgh Napier University.

Prof. David Seidl

ist Inhaber des Lehrstuhls für Organisation und Management an der Universität Zürich sowie 
Research Associate an der Cambridge University.

Beide sind Autoren des Buches «Unsichtbare Netzwerke. Wie sich die soziale Netzwerkanalyse für Unternehmen nutzen lässt», erschienen beim 
Gabler Verlag, 2010.

 

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