Potenzialanalyse

Standardtests sagen oft nicht mehr 
aus als ein gut strukturiertes Gespräch

Potenzialanalysen sind für die Salzburger Psychologin Ulrike Kipman eine Modeerscheinung – sie werden meist unseriös und damit ethisch nicht korrekt angewendet. Statt den Bewerbungsprozess zu stark zu psychologisieren, empfiehlt sie Vorgesetzten und Personalverantwortlichen, sich im Rekrutierungsprozess auf ihr eigenes Urteilsvermögen zu verlassen.

Frau Kipman, was verstehen Sie unter einer ethisch korrekten Potenzialanalyse?

Ulrike Kipman: Sie ist anonym, wird von einem qualifizierten Prüfer durchgeführt und fragt lediglich jobrelevante Informationen ab. Bei den meist parallel zur Potenzialanalyse durchgeführten Intelligenztests ist es zudem ganz wichtig, dass nur einzelne Skalen verwendet werden, wie zum Beispiel für einen Maschinenprogrammierer die Skala für räumliches Denken. Zudem sollte der IQ nicht mit einer künstlichen Referenzgruppe verglichen werden, sondern mit der Gruppe der anderen Bewerber, da es sonst zu Problemen mit dem Gleichheitsgrundsatz kommen kann. So gelten beispielsweise Männer mit demselben Wert wie Frauen auf einer Skala als durchschnittlich, wohingegen die weiblichen Bewerber schon als überdurchschnittlich eingestuft werden.

Wird Ethik in der Rekrutierung gelebt?

Wenn Unternehmen bei der Auswahl von Mitarbeitenden nicht nur Geld und Profit im Hinterkopf hätten, sondern nachhaltig das Beste für die Firma und für die oder den Bewerbenden erreichen möchten, dann wäre die Ethik sicher auch ein Thema im Auswahlprozess. Denn bei der Personalauswahl sollte es nicht nur darum gehen, die beste Person für einen Job zu finden, sondern auch den besten Job für eine Person.

Geht es den Firmen nicht darum, wenn sie neue Mitarbeitende suchen?

Fakt ist, dass die meisten Auswahlverfahren für die Selektion von Bewerbern ab Stufe mittleres Management primär darauf abzielen, mit dem besten Kandidaten den grössten Erfolg zu erreichen. Und zwar für die Firma und nicht für den Mitarbeitenden. Bei den meisten Unternehmen herrscht in Sachen Ethik die Maxime «Gut ist, was nützlich ist» und nicht «Gut ist, was nachhaltig ist».

Was sind die grössten Fehler, die im Zusammenhang mit eignungsdiagnostischen Verfahren, zu denen die Potenzialanalyse gezählt wird, gemacht werden?

Nach meiner Erfahrung machen sich die wenigsten Personalverantwortlichen und Linienvorgesetzten bei Neubesetzungen ernsthafte Gedanken darüber, was für einen Menschen beziehungsweise was für eine Persönlichkeit sie für die ausgeschriebene Stelle suchen. Die weichen Faktoren einer Person interessieren immer noch nicht genug, obwohl viele Manager das Gegenteil behaupten. Wichtiger scheinen weiterhin die harten Faktoren wie etwa Daten aus eignungsdiagnostischen Verfahren. Persönlichkeitseigenschaften werden per Fragebogen abgefragt, was vermuten lässt, dass der Bewerber sozial erwünscht antwortet. Und dies macht eine Differenzierung aufgrund der weichen Faktoren gar nicht möglich.

Dennoch werden die meisten Interessenten für einen Kaderjob durch ein Assessment Center geschleust oder es wird mit ihnen eine Potenzialanalyse durchgeführt. Aus welcher Motivation heraus geschieht das?

Bei meinen Untersuchungen ist mir aufgefallen, dass diese in sehr vielen Firmen einfach gemacht werden, weil «es sich so gehört». Das Interesse, das allumfassende Potenzial einer Person kennen zu lernen, ist sehr gering. Das zeigt sich auch daran, dass viele Firmen für vollkommen unterschiedliche Jobprofile die gleichen Standard-Assessments oder Potenzialanalyse-Tools verwenden.

Vom ethischen Standpunkt her gesehen noch schlimmer sind Online-Assessments oder selbst gebastelte pseudopsychologische Tests. In diesen werden die Personen nach ihren Ängsten befragt oder nach ihren Sehnsüchten – das sind alles Dinge, die einen Arbeitgeber nicht interessieren dürfen. Ganz abgesehen davon, dass diese Informationen unter Umständen zu einem späteren Zeitpunkt ohne Kenntnisnahme des Betroffenen weitergegeben werden.

Den möglichen Schaden tragen bei diesem Verfahren am Ende die Bewerber, vor allem weil Schlussfolgerungen über sie entstehen, die sich, falls sie von Personalverantwortlichen oder Beratern ohne psychologischen Hintergrund gezogen werden, auf einer absolut ungesicherten Basis bewegen. Werden diese dann auch noch weitergegeben, können sie den weiteren beruflichen oder auch privaten Lebensweg eines Bewerbers haltlos negativ beeinflussen.

Die Interviewpartnerin

Dr. Ulrike Kipman ist Juristin, Mathematikerin und Psychologin mit postgraduellen Ausbildungen in Arbeits- und Wirtschaftspsychologie sowie in klinischer Psychologie und Gesundheitspsychologie. Sie arbeitet als freiberufliche Statistikerin und Konsulentin für das österreichische Bundesministerium und diverse Firmen. Daneben unterrichtet sie an verschiedenen Hochschulen. Ihre Forschungsarbeiten bewegen sich in den Gebieten der Personal- und Organisationsentwicklung sowie der Gruppendynamik.

Das heisst also, nicht nur die Methoden, die in den meisten Firmen verwendet werden, sind fragwürdig, sondern sie werden oftmals auch von unqualifizierten Personen durchgeführt?

Ja. Bei meinen Untersuchungen ist mir aufgefallen, dass solche Tests lediglich in einem Drittel der Firmen von fachkundigen Psychologen begleitet werden. Bei den anderen werden sie von der Personalabteilung oder – und das ist fast noch schlimmer – von externen Personalberatern ohne entsprechende Ausbildung durchgeführt. Wenn Firmen schon nicht auf Potenzialanalysen verzichten wollen, dann sollten sie diese zwingend von einer Fachperson, sprich einem klinischen Psychologen oder Psychotherapeuten, durchführen lassen und vor allem auch auf die zu besetzende Stelle massschneidern. Ein weiterer Vorteil von klinischen Psychologen und Psychotherapeuten ist es, dass sie der ärztlichen Schweigepflicht unterstehen. Zudem sollte diese Fachperson auch ethisch geschult sein und sich an die DIN-Normen für Eignungsdiagnostik halten. Leider sind diese Normen nicht verbindlich.

Resümieren Sie damit, dass Potenzialanalysen bei der Personalauswahl nichts zu suchen haben?

Genau. Viel wichtiger wäre es, dass der direkte Vorgesetzte oder eine fähige interne HR-Person sich in einem strukturierten und gut vorbereiteten Gespräch mit den Bewerbern auseinandersetzt. Am besten ausserhalb des Büros, zum Beispiel bei einem Essen.

Es ist natürlich schwierig, sich mit 120 Leuten, die sich für eine Stelle im mittleren Kader bewerben, auseinanderzusetzen. Doch wenn diese in einer ersten Runde durch eine Drittperson nach rein technischen Kriterien ausgesiebt werden, ist einfach nicht gewährleistet, dass die Handvoll Kandidaten, die dann noch übrig bleiben, wirklich auch ins Team oder ins Unternehmen passen.

Ein subjektives Bauchgefühl und persönliche Gespräche bringen also mehr als die meisten psychologischen Tests?

Sie bringen bestimmt mehr als Online-Assessments oder «Pseudotests». Eine fundierte und auf den Job und den Bewerber massgeschneiderte Analyse, die von einer psychologisch geschulten Fachkraft durchgeführt wird, kann natürlich schon den einen oder anderen Aspekt zutage fördern. Meistens aber bestätigt diese die Dinge, die man in einem gut vorbereiteten Gespräch auch schon selbst erahnt hat.

In Ihrem Buch zitieren Sie eine Unter­suchung von Ute Stephan & Karl Westhoff. Gemäss diesen beiden deutschen Wissenschaftlern findet in 80 Prozent der Unternehmen keine seriöse Interviewvorbereitung statt. Wie erklären Sie sich das?

Der Grund liegt darin, dass die direkten Vorgesetzten meistens lediglich die drei, vier Kandidaten treffen, die zuvor von externen Beratern oder der HR-Abteilung nach rein technischen Kriterien aus dem Wust an Bewerbungen ausgesiebt worden sind. Die Verantwortung für den Rekrutierungsprozess ist somit ausgegliedert und die meisten Vorgesetzten vertrauen auch für die Schlussrunden blind auf die Personalberater oder die Personalabteilung. Die Dossiers blättern sie lediglich etwas durch und im meist sehr kurzen Gespräch geht es dann nur noch darum, das Gesicht der sich bewerbenden Person zu sehen.

Literatur:

Ulrike Kipman: «Organisationsentwicklung und Personal­management unter besonderer Berücksichtigung der 
Potenzialanalyse», Grin Verlag für akademische Texte.

U. Stephan/K. Westhoff: «Personalauswahlgespräch im 
Führungskräftebereich des deutschen Mittelstandes: 
Bestandesaufnahme und Einsparpotential durch strukturierte Gespräche, Wirtschaftspsychologie, 9, S. 3–17.

DIN-Norm für Eignungsbeurteilung

2002 wurde die deutsche Norm DIN 33430 veröffentlicht. Diese formuliert die «Anforderungen an Verfahren und deren Einsatz bei berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen». Gegenstand der DIN 33430 ist der gesamte Prozess der Eignungsbeurteilung, der als eine Einheit angesehen wird; die DIN 33430 ist eine Prozess- und keine Produktnorm. Sie bezieht sich auf:

  • 
die Planung von berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen
  • 
die Auswahl, Zusammenstellung, Durchführung und Auswertung von Verfahren
  • 
die Interpretation der Verfahrensergebnisse und die Urteilsbildung

Ausserdem formuliert sie Anforderungen an die Qualifikation der an der Eignungsbeurteilung beteiligten Personen. Durch die in der Norm enthaltenen Festlegungen und Leitsätze ergeben sich indirekt auch Hinweise für die sach- und fachgerechte Entwicklung von Verfahren. Unter Verfahren versteht die DIN 33430 «praxiserprobte und wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnismittel, die in standardisierter Weise zur Eignungsbeurteilung eingesetzt werden» und nennt insbesondere Eignungsinterviews, biografische Fragebogen, berufsbezogene Persönlichkeitsfragebogen, Assessment Center, Arbeitsproben sowie Tests.

Die Norm definiert zudem, welche Kenntnisse und Erfahrungen für die Durchführung von Verfahren zur berufsbezogenen Eignungsbeurteilung notwendig sind. Zugleich werden auf der Basis dieser Definitionen Fortbildungen und Lizenzprüfungen angeboten. Durch eine gebührenpflichtige schriftliche Prüfung kann eine Personenlizenz für die berufsbezogene Eignungsbeurteilung nach DIN 33430 erworben werden. Die Gültigkeit der Lizenzen ist auf fünf Jahre befristet, die lizenzierten Personen werden in einem Register geführt. Die Zulassung zur Lizenzprüfung ist nicht an bestimmte Ausbildungsabschlüsse gebunden, der vorherige Besuch von Fortbildungsveranstaltungen ist nicht vorgeschrieben.

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Sandra Escher Clauss ist freie Journalistin.

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