Temporärarbeit 2029 – Der Personaldienstleister als ein Erlebnisexperte
Entwicklung eines Marketingkonzepts, dann Himalaya-Besteigung, danach Besuch eines Führungsseminars und darauf folgend Beratung einer neu zu gründenden Musikschule in Afrika – so könnte die Temporärarbeit der 2020er und 2030er Jahre aussehen.
Die Unfallversicherung Suva hat in einer Zukunftsstudie eine breite Palette an Experten über die Zukunft von Arbeit und Gesellschaft sinnieren lassen. Die zustande gekommenen Einschätzungen und Vorhersagen regen zum Nachdenken an, was das für die Temporärarbeit und Personaldienstleistung der Zukunft bedeuten könnte.
Arbeit wird zum Erlebnis
Die Zukunftsstudie stellt insbesondere bei jungen Menschen einen Anstieg der Ansprüche an ein gelungenes Leben fest. Mit dem seit Jahrzehnten steigenden Wohlstandsniveau wachsen auch die Erwartungen ans Leben. Ging es den Industriearbeitern Manchesters noch primär ums (Über-)Leben, sorgte sich die Nachkriegsgeneration zusätzlich auch ums (Über-)Leben im Alter, wenn die Arbeitsfähigkeit nachlässt. Die junge Generation arbeitet dagegen fast gar nicht mehr zum Leben, sondern zum Erleben. «Sie haben das Zappen als Lebensstil verinnerlicht: Sie ‹zappen› auch den Arbeitgeber und die Berufe. Ihre Berufswerte gleichen den Freizeitwerten: Sie wollen Entdeckungen machen, (…) Spass haben und ihre Grenzen austesten», so der Suva-Bericht.
Die Personaldienstleister werden dabei zum perfekten Mentor der Generationen Y und Z und unterstützen diese beim Zappen. Quasi als Coach werden sie die Generationen der Zukunft durchs Leben begleiten, um ihnen abwechselnd Projekte, Praktika, Jobs, Reisen, Freiwilligenengagements, Ausbildungen etc. zu bieten. Dazu müssen die Personaldienstleister allerdings ihr Angebots- Portfolio deutlich verbreitern und selbst die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit überwinden. Der Personaldienstleister der Zukunft ist zugleich Agent, Börse, Vermittler, Berater, Coach und Networker. Er wird zum Erlebnisexperten. Konkurrenz wird ihm in erster Linie aus den Social Communities im Internet erwachsen, einem zusehends enger und stärker gesponnenen Netz, das ebensolche Erlebnis-Anbieter und -Nachfrager zusammenführt.
Der Personaldienstleister wird sich diese Tools aber gerade auch zunutze machen, um sein Dienstleistungsportfolio zusammenzustellen und ständig zu aktualisieren. Ausserdem wollen die erlebnishungrigen Generationen Y und Z ihre Zeit nicht vornehmlich mit Surfen im Internet und Wandern im Informationsdschungel verbringen, weshalb sie diese Arbeit gegen Bezahlung gerne von einem Spezialisten ausführen lassen.
Das Internet hat in der ersten Phase seiner Existenz die Individuen in völlig neuer Weise dazu ermächtigt, alles selbst, mit deutlich minimiertem Zeitaufwand und praktisch zum Nulltarif zu tun – Reisen buchen, Versicherungen abschliessen, Job suchen, einkaufen, Reiseroute berechnen, Krankheiten diagnostizieren. In einer zweiten Phase wird das Internet aber ob seiner schieren Informationsflut zu einem Dschungel verkommen, dessen Durchforstung nicht mehr Zeitersparnis bringt, sondern Zeit raubt. Jedes Individuum wird darum weite Teile seines Surf-Bedürfnisses outsourcen und sich einen Coach dafür zulegen.
Alles wird schneller und flexibler
Zudem intensivieren sich Globalisierung und Technologisierung. Laut der Suva-Zukunftsstudie werden die Rohstoffpreise weiter steigen und der globale Wettbewerbsdruck zunehmen, was die Unternehmen veranlasst, ungebremst nach Einsparungsmöglichkeiten zu suchen.
Damit steigt auch der Druck auf die Arbeitnehmenden: Mittels der permanenten Erreichbarkeit durch die Informationstechnologien können die Menschen praktisch rund um die Uhr arbeiten. Zudem, so die Suva, steigen die Anforderungen an die Arbeitnehmenden weiter an. Von ihnen wird erwartet, dass sie sich sogenannte Unique Abilities zulegen – dass sie sich und die eigenen Talente einzigartig entwickeln. Gleichzeitig gibt es einen Trend zu schwindender gegenseitiger Loyalität zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und damit zu höheren Fluktuationsraten. Hierarchien werden tendenziell abgebaut und stattdessen nehmen Selbstverantwortung, Intrapreneurship und neue Arbeitsformen wie Freelance oder Homeworking zu. Die Suva-Studie malt ein Bild, in dem immer häufiger an Orten gearbeitet wird, die gar nicht als Arbeitsumfelder konzipiert sind, wie zum Beispiel in Cafeterias, Bars oder am Strand.
Zum makellosen Körper und Geist
Mit der ständigen Jagd nach Abenteuer und Glück, der ständigen Erreichbarkeit und Leistungserbringung und den steigenden Anforderungen ist also auch ein psychologischer Stress verbunden und, so die Suva, eine Tendenz zur Selbstüberschätzung. Ihre Schlussfolgerung: «Die Medikamentisierung von Menschen (in anspruchsvollen und stressigen Berufen) wird zunehmen. Sie werden vermehrt zu allerlei frei erhältlichen und unbekannten Medikamenten (beispielsweise aus dem Internet) greifen, die ihnen helfen sollen, mehr Leistung zu erbringen und Stress und Druck auszuhalten. Im Vordergrund stehen die sogenannten Lifestyle-Medikamente, die Aufmerksamkeit, Konzentration, Entscheidungsfreude, aber auch Stimmungen regulieren. (…) Es könnte sein, dass wir bald umgeben sind von Hochleistungszombies.»
Vielleicht sollte die Personaldienstleisterin der Zukunft also auch einen Unternehmenszweig Wellness- und Gesundheits-Beratung aufbauen? Wenn sie ihre Kundinnen und Kunden übers Leben oder Lebensphasen hinweg begleiten will, dann muss sie das möglichst umfassend tun. Und wenn Arbeit und Freizeit verschwimmen, bekommt das Thema Abgrenzung und Work/Life-Balance eine ganz andere Dimension, dem sich der Anbieter von Erlebnisdienstleistungen annehmen muss – und sei es wiederum «nur» mittels Auswahl und Vermittlung passender Gesundheitsdienstleistungen.
Die Rentner-Teenies kommen
Gleichzeitig mit dem Erwachsenwerden einer neuen jungen Generation verschiebt sich bekanntlich wegen des demografischen Wandels auch die Altersstruktur der Bevölkerung insgesamt. Es gibt immer mehr (Früh-)Rentner und Rentnerinnen, die wie die Jungen etwas erleben wollen. Mit den Worten der Suva-Zukunftsstudie treten die neu Pensionierten «in eine zweite Teenager-Phase» ein. Deren Freizeitaktivitäten unterscheiden sich von bisherigen Seniorenaktivitäten. Sie gleichen in Bezug auf Risiko und körperliche Leistungsanforderungen viel eher den Hobbys der deutlich jüngeren Generationen. Andererseits ist die wachsende Schicht der Senioren und Seniorinnen aber auch altersbedingt krankheitsanfälliger. Für den Erlebnisdienstleister lohnt es sich also doppelt, nebst der Expertise in der Jobvermittlung sowohl ein Freizeit- als auch ein Gesundheitsnetzwerk aufzubauen. Die Rentner-Teenies werden zu einer wichtigen Zielgruppe für den Erlebnisdienstleister. Auf dem Weg dahin muss sich der Personaldienstleister von heute, der vor allem junge Menschen anspricht, aber mausern. Mit der Anstellung von ebenfalls älteren Beratern und Beraterinnen wird es ihm gelingen, sich in die Kundenbedürfnisse der abenteuerlustigen Senioren-Generation einfühlen und diese anzusprechen.
Und was das alles kostet
Diese umfassende Erlebnisdienstleistung hat natürlich ihren Preis. Der individuelle Kunde bekommt eine andere Stellung als heute, weil er genauso wie die Endanbieter von Jobs, Reise-, Bildungs- oder Gesundheitsdienstleistungen für die Auswahl- und Vermittlungsdienstleistung bezahlt. Das umfassende Wissen des Personaldienstleisters in verschiedensten Tätigkeits- und Lebensfeldern und dessen zahlreiche Kontakte rechtfertigen diesen Preis. Die Bezahlung eines Preises macht auch eine ausführlichere Beratung seitens des Dienstleisters möglich.
Dies ist Voraussetzung dafür, dass der Erlebnisdienstleister Bedürfnisse antizipieren, seine individuellen Kunden tatsächlich im Sinne eines Coachs begleiten und an sich binden kann. Dabei wird sich die Personaldienstleistung aber auch zu einem Luxusgut oder zumindest zu einem Gut der gehobenen Konsumklasse wandeln. Grundvoraussetzung dafür ist aber, dass Wohlstand und Pro-Kopf-Einkommen in breiten Teilen der Welt tatsächlich weiter wachsen und nicht durch die demographischen Umwälzungen gebremst oder gar dezimiert werden.