Im Gespräch

«Überregulierung und zu viel Monitoring zerstören Vertrauen und erzeugen Angst»

«Sich immer wieder selbst in Frage zu stellen, erfordert Mut und Selbstvertrauen. Denn damit macht man sich nach aussen verletzbar», behauptet Dieter Scheiff, CEO der Adecco Group, und macht es trotzdem. Warum gerade dieses Verhalten in einem multikulturellen Konzernumfeld so wichtig ist, erläutert er im Interview zum Thema internationale Vertrauensbildung.

Herr Scheiff, Lenin wird oft zitiert mit dem Spruch «Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser». Was halten Sie von diesem Leitsatz?

Dieter Scheiff: Wenn Lenin das wirklich gesagt hat, würde ich sagen, dass es ihm wohl primär darum ging, wirklich alle Prozesse und das Denken jedes Menschen um jeden Preis kontrollieren zu wollen. Das wiederum heisst dann auch, dass er meinte, immer Recht zu haben. Es geht aber beim Thema Vertrauen nicht darum, auf sein jeweiliges Recht zu pochen. Vertrauen bedeutet für mich, ein Stück weit Laisser-faire zuzulassen, wobei die Krux in der Dosierung liegt. Wenn ich die Dinge zu locker laufen lasse, könnte das gegenseitige Vertrauen ausgenutzt werden. Deshalb würde für mich eher der Spruch gelten: Vertraue, aber kontrolliere auch.

Wie viel Kontrolle setzen Sie in der Dosierung an?

Wenn es um die Definition von Zielen geht, werden diese gemeinsam ausgearbeitet. Es macht wenig Sinn, beispielsweise Länderchefs Vorgaben zu machen, an die sie nicht glauben. Die Entwicklung einer Vertrauensbasis wäre erheblich erschwert, wenn ich Ziele vorgeben würde, für die derjenige, der sie erreichen soll, gar nicht steht. Wenn es um die Kontrolle von Prozessen geht, vertraue ich dem Know-how der Experten, die ich für ihr Spezialwissen einstelle.

Wodurch wird Vertrauen begründet?

Es geht in der Essenz darum, im dialogischen Prinzip Vertrauen entstehen zu lassen und dem Gegenüber das Gefühl zu geben, dass ich hinter ihm oder ihr stehe. Erst mit diesem Gefühl der Sicherheit kann ein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis entstehen.

Und wenn dieses verletzt wird?

Man sollte Menschen immer eine zweite Chance geben. Manche Manager geben aber zu oft den Schwächen ihrer Mitarbeitenden nach, obwohl diese ihr Vertrauen bereits längst verloren haben. Das ist wie in der Kindererziehung: Kinder verstehen nur dann wirklich Dinge, wenn man Konsequenzen zieht. Ein Mitarbeitender, der zu viele Chancen bekommt, obwohl er mein Vertrauen mehrmals bricht, riskiert einen Tod auf Raten. Zum Vertrauenschenken gehört manchmal die Enttäuschung. Wenn ich dieses Prinzip nicht in Kauf nehme, zahle ich drauf, indem ich zu viel kontrollieren müsste. Überregulierung und zu viel Monitoring zerstören Vertrauen und erzeugen kontraproduktive Angst.

Wie entsteht ein Vertrauensverhältnis?

Das entsteht, wenn jeder bereit ist, sich verletzlich zu machen. Ich sehe aber täglich, dass man mir als Bürger nicht traut, wenn ich beispielsweise die Anzahl an Verkehrsschildern anschaue. Viele Verkehrsschilder sind ein Misstrauensvotum an die Bürger und zugleich eine Bevormundung. Der Staat gibt diese Regeln vor, weil er seinen Bürgern nicht traut.

Das klingt wie ein Teufelskreis …

Ja, aber den kann man durchbrechen, indem man einerseits Vertrauensvorschuss gewährt und andererseits das tut, was man sagt, im Sinne des amerikanischen Managementslogans «walk the talk». Zudem kommt es immer darauf an, wie man Dinge ausdrückt. In interkulturellen Teams in Konzernen wie Adecco ist es beispielsweise wichtig, eine hohe Achtung vor anderen Kulturen zu wahren und die gegenseitige Wahrnehmung zu schärfen. Oft sind Leute in ihrer eigenen Kultur gefangen, weshalb sie voreingenommen und unter Umständen negativ wertend ihren anderen Kollegen begegnen. Damit wird die Entwicklung eines Vertrauensverhältnisses erschwert.

Mit welchen Mitteln bauen Sie Vertrauen in multikulturellen Teams auf?

Je multikultureller die Teams sind, desto wichtiger sind Dialoge und desto zeitaufwändiger ist es, sich zu verstehen. Missverständnisse können am besten ausgeräumt werden, wenn die Leute sich gegenseitig ausreden lassen und nachfragen, wenn sie glauben, etwas nicht hundertprozentig verstanden zu haben. Und dieses Nachfragen wiederum deutet auf Interesse hin, und das schafft auch Vertrauen. Beim Umgang mit Menschen unterschiedlicher Herkunft sollten immer verschiedene Interpretationsweisen beleuchtet werden.

Hatten Sie Situationen, in denen Missverständnisse aufgrund unausgegorener Dialoge entstanden?

Indirekt hatte ich eine Situation mit einem indischen Vertragspartner, der unseren Vertrag immer wieder neu korrigiert hatte. In unseren europäischen Kreisen neigen wir eher dazu,  Verträge dann zu machen, nachdem alles abgesprochen wurde, danach geht es nur noch um kleinere Details und die Unterschrift. Ich bekam aber bei dem Abkommen mit einem indischen Partner über Monate den Vertrag mit Änderungen zurück, was mich irritierte. Es war ein enormer Zeitaufwand, jedenfalls nach meinem relativen Verständnis von Zeitaufwand. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass nach indischem Geschäftsgebaren Verträge zunächst einmal in einer Rohfassung entstehen und danach immer wieder schriftlich hin und her geschoben werden. Das heisst also, nichts ist statisch – alles ist im Fluss.

Was hiess dieser Fall in Bezug auf Ihr Vertrauen?

Mein erster Gedanke war: Warum traut der uns nicht? Dabei hatte ich nicht bedacht, dass er sich vielleicht die gleiche Frage gestellt haben könnte, weil wir – relativ gesehen –  die Dinge schnell besiegeln wollen.

Welche Erkenntnisse haben Sie daraus für sich gezogen?

Es ist sehr wichtig, andere Menschen nicht zu kategorisieren und das eigene Weltbild nicht zum Status quo zu erheben. Damit macht man sich das Leben schwer, denn diese Projektion der eigenen Erwartungshaltung auf andere kreiert interkulturelle Blockaden.

Können Menschen wertfrei aufeinander zugehen?

Nein, denn wenn ich ganz wertfrei durch das Leben gehen würde, wäre ich orientierungslos. Ich versuche, mit Neugierde Andersartigkeit zu begegnen, und sehe nicht in schwarz-weiss. Es gibt kein richtig oder falsch, sondern es gibt Situationen, auf die ich eingehe. Ganz wichtig gerade in multikulturellen Situationen ist, sich immer wieder selbst in Frage zu stellen, und das erfordert Mut und Selbstvertrauen, denn damit mache ich mich nach aussen verletzbar.

Wie bauen Sie Vertrauen in virtuellen Teams auf?

Es ist ganz egal, von welchem Managementlevel wir reden – die Leute müssen sich sehen, um Vertrauen aufbauen zu können. Und das geht eben nicht rein virtuell. Wir investieren deswegen bei Adecco in Netzwerktreffen.

Wie verliert man Ihr Vertrauen?

Wenn mich beispielsweise unser Kommunikationsleiter systematisch in Situationen bringen würde, die mir Probleme bereiten könnten, dann würde ich unsere Vertrauensbasis hinterfragen. Oder wenn er mir Informationen vorenthält, über die er Bescheid wusste und die für mich wichtig waren. Nehmen wir diese Interviewsituation mit Ihnen und unserem Kommunikationsleiter: Wir haben alle drei offenbar eine Vertrauensbasis, weil wir uns an Regeln der Fairness gehalten haben. Sie und ich machten diesen Interviewtermin unter vier Augen miteinander ab, Sie unterrichteten am nächsten Tag den Kommunikationschef darüber und ich meinerseits auch. Hätten wir das beide nicht getan, hätten wir ihn in seiner Funktion hintergangen, was ein Vertrauensmissbrauch meinerseits gewesen wäre. Vertrauen hätten Sie damit gar nicht erst bekommen, weder von ihm noch von mir. Es geht also nicht nur um die blosse Weiterleitung von Informationen, sondern auch um die Einhaltung von Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen, für die man honoriert wird.

Haben Menschen zu hohe Erwartungen, wenn ihr Vertrauen missbraucht wird?

Das ist eine Frage der Naivität. Wer das Gefühl hat, dass sein Vertrauen öfters missbraucht wird, schätzt Dinge vielleicht nicht richtig ein.

Wann ist Ihnen das zum letzten Mal passiert?

Ich hatte in meinen frühen Zwanzigern eine Situation mit einem Telefonmarketing. Eine Verkäuferin für die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» erzählte mir am Telefon ihre persönliche Lebensgeschichte, ich fiel darauf rein und kaufte das Abonnement, obwohl ich das damals nicht wirklich wollte. Diese Verkäuferin hatte mein Vertrauen missbraucht.

Abonnieren Sie heute noch «Die Zeit»?

Ja, deswegen erinnere ich mich auch gerade daran.

Woran erkennen Sie, ob in Ihrem Unternehmen Vertrauen herrscht?

Das erkennt man daran, ob Menschen miteinander reden und vor allem auch miteinander lachen; ob sie mit einem Lächeln durch die Gänge laufen. Dabei geht es nicht nur um fachliche Qualifikationen, auf denen wir uns gegenseitig vertrauen. Es geht auch darum, ob man den gleichen Humor teilt, kurz: die so genannten soft factors sind gerade beim Thema Vertrauen extrem wichtig.

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Connie Voigt ist 
Executive Coach bei der Firma «Inside Out» sowie Gründerin der Netzwerkorganisation «Interculturalcenter.com GmbH». Zudem ist sie Dozentin für Organizational Behavior an der Edinburgh Business School, FHNW Basel und FU Berlin.

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