«Viele Menschen werden gelebt, anstatt dass sie leben»
Ein konfliktfreies Leben gibt es nicht, sagt der Psychiater und Psychotherapeut Hamid Peseschkian. Allerdings gibt es Wege und Möglichkeiten, Konflikte zu entschärfen oder gar nicht erst entstehen zu lassen – zum Beispiel indem wir lernen, unsere persönlichen «Psychovampire» zu erkennen und zu entschärfen.
Hamid Peseschkian: «Die äusseren Umstände haben nur einen marginalen Einfluss darauf, wie wir mit Konflikten umgehen.» (Foto: Patric Spahni)
Wie verschieden sind für Individuen Konfliktsituationen?
Hamid Peseschkian: In der Regel treten Menschen wiederholt in dieselben Fettnäpfchen und geraten immer wieder an die Menschen, die ihre wunden Punkte treffen.
Warum ist das so?
Die Ursache dafür ist, dass gewisse Grundkonflikte des Lebens nicht gelöst wurden. Das äussert sich bei vielen Menschen in einem mehr oder weniger ausgeprägten Selbstwertgefühl. Menschen mit einem niedrigen Selbstwertgefühl werden in gewissen Situationen immer wieder von Unfähigkeitsgefühlen überwältigt und reagieren auf eine Situation oder das Gegenüber immer nach demselben Muster: die einen zum Beispiel mit Rückzug, die anderen damit, dass sie das Gegenüber abwerten.
Was sind die Gründe dafür, dass Grundkonflikte nicht gelöst werden?
Meistens wird es nicht versucht, weil sie nicht so leicht erkennbar sind. Hinzu kommen wie bereits erwähnt ein mangelndes Selbstwertgefühl, zu wenig Selbstreflexion und die Tatsache, dass viele Menschen die Schuld an einer Situation immer bei den anderen suchen, seltener bei sich selbst.
Gibt es Menschen, die alle ihre Konflikte gelöst haben?
Das ist schwierig zu beantworten. Sicher ist, dass es kein problemfreies Leben gibt. Es gibt aber Menschen, die mit den in jedem Leben vorkommenden Tiefschlägen besser umgehen können als andere. Bei diesen Menschen hinterlassen schwierige Situationen nicht so tiefe Spuren wie bei anderen.
Nehmen wir das Beispiel Arbeitsplatzverlust. Je nach Lebensgeschichte einer Person wirkt sich dieser Verlust auf einen Menschen schlimmer aus, als auf den anderen. Wenn jemand sein Selbstvertrauen beispielsweise ausschliesslich aus der Arbeit schöpft, wird er mehr unter dem Verlust des Arbeitsplatzes leiden als jemand, der das Selbstvertrauen aus verschiedenen Quellen schöpft, wie zum Beispiel aus seiner Familie und Freunden. Das ist zunächst nur einer der vielen Aspekte.
Der Interviewpartner
Dr. med. habil. Hamid Peseschkian ist geschäftsführender Institutsleiter der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie (WIAP) GmbH, eines staatlich anerkannten Bildungs- und Gesundheitsunternehmens. Als Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie arbeitet er in seiner eigenen psychotherapeutischen Praxis. Er blickt auf eine langjährige Seminartätigkeit im In- und Ausland zurück, mit den Schwerpunkten Life-Balance, Konfliktmanagement, Stressbewältigung und transkulturelles Management. Peseschkian ist zudem Gastprofessor an der Medizinischen Universität Archangelsk (Russland).
Gibt es eine Möglichkeit, Konfliktsituationen vorzubeugen?
Nicht, was Konflikte mit den Mitmenschen angeht – sie gehören einfach zum Leben. Aber ob aus einem Konfliktereignis ein anhaltender innerer Konflikt entsteht – das liegt an jedem von uns. Wesentlich dabei ist, wie man seine Lebensbalance gestaltet. Denn Psychovampire, wie ich Mitmenschen, die einem das Leben schwer machen, zu nennen pflege, lauern überall und kommen in den unterschiedlichsten Gewändern vor. Die-se unschädlich zu machen, ist nicht einfach, aber möglich.
Und wie kann man seine persönlichen Psychovampire unschädlich machen?
Indem man sich seiner Defizite bewusst wird und diese aufarbeitet. Denn jeder Mensch hat ein Beziehungsmuster und reagiert in gewissen beruflichen und privaten Situationen immer gleich. Daher haben die äusseren Umstände nur einen marginalen Einfluss darauf, wie wir mit Konflikten umgehen.
Wer sich dieser Muster bewusst ist, wird Situationen oder Menschen, die bei einem immer wieder in denselben Wunden stochern, gelassener gegenüberstehen und besser mit ihnen umgehen. Wir müssen uns auch bewusst werden, dass wir Beziehungen zu unseren Mitmenschen nicht einfach als gegeben hinnehmen müssen. Viele Menschen werden gelebt, anstatt dass sie leben. Sie lassen sich von ihren persönlichen Psychovampiren die Energie aussaugen, was wiederum dazu führt, dass sie sich dauerhaft gestresst und ausgelaugt fühlen.
Wie gelingt es einem, die von Ihnen immer wieder erwähnte Selbstreflexion im Leben zu verankern und sich seiner Defizite bewusst zu werden?
Selbstreflexion lässt sich, wie vieles andere auch, erlernen und sozusagen im Hirn programmieren. Wichtig ist, dass sie einmal angestossen wird, sei dies durch ein Buch, gute Freunde, eine Selbsthilfegruppe oder einen Coach, Berater oder Therapeuten.
Eine positive Nebenwirkung der Selbstreflexion ist, dass es keinen Weg zurück mehr gibt. Wer gelernt hat, über sich und seine Wahrnehmung zu reflektieren, kann seine Augen nie mehr vor sich selbst verschliessen. Und in kritischen Situationen läuten dann die Alarmglocken.
Das tönt sehr einfach. Warum gibt es aber immer noch so viele Konflikte?
Weil es mitunter sehr mühsam ist, sich selbst einen Spiegel vorzuhalten oder vorhalten zu lassen. Das ist auch der Grund dafür, dass viele Menschen erst nach einem Unfall, einer schweren Krankheit oder einem anderen Schicksalsschlag damit anfangen.
Ist es nur eine Frage der Selbstreflexion, wenn manche mit schwierigen Situationen besser umgehen können?
Nein, nicht nur. Es ist auch eine Tat-sache, dass eher rationale Menschen schwierige Situationen nicht so an sich heranlassen wie emotionale und sensible Menschen. Diese können mitunter sogar darunter leiden, dass sie sich und ihre Umwelt dauernd hinterfragen und verbessern wollen.
Eine gewisse Naivität und Denkfaulheit kann also tatsächlich davor schützen, dass einem die Dinge zu nahegehen. Man sollte aber nicht vergessen, dass Menschen, die mit diesen Eigenschaften ausgestattet sind, auch viele schöne Dinge verpassen – denn auch diese gehen ihnen dann nicht allzu nahe.
Gibt es so etwas wie eine Liste mit Dos and Don’ts im Umgang mit Konflikten?
Je flexibler ein Mensch ist und je anpassungsfähiger an neue Situationen, desto weniger leidet er unter Konflikten. Zudem sind auch Optimismus, Lebenszufriedenheit und ein Selbstwertgefühl, das auf verschiedenen Säulen basiert, sehr einträglich für ein konfliktfreieres Leben.
Doch ich möchte noch einmal betonen, dass es kein konflikt- und problemfreies Leben gibt. Auch der vielfach gewünschte oder oft sogar versuchte Rückzug auf eine einsame Insel, in ein komplett neues Leben oder auf eine abgeschiedene Alp bringt Konflikte, und zwar immer wieder dieselben, die man bisher im Leben angetroffen hat. Denn solange wir die Grundkonflikte in uns selbst nicht geklärt haben, stolpern wir immer wieder in dieselben Fallen. Viel zu viele Menschen handeln, bevor sie denken, anstatt umgekehrt. Ausserdem nehmen wir uns selbst ja auch mit auf die Insel.
Das Buch zum Thema
«Psychovampire - Über den positiven Umgang mit Energieräubern» von Hamid Peseschkian und Connie Voigt erscheint im Februar 2009 beim Orell Füssli Verlag.