Vom französischen Kaiser lernen
Nebst seinen Fähigkeiten als Administrator und Feldherr gilt er als einer der herausragendsten Leader der modernen Geschichte. Anlässlich seines 200. Todestags am 5. Mai 2021 hat sich HR Today mit zwei Historikern und einem Nachfahren über Napoléon Bonapartes Leadership-Qualitäten unterhalten.
«Napoléon hat von seinen Unterstellten alles abverlangt. Das können CEOs nicht», stellt Historiker Gérard Miège fest. (Bild: Bas Uterwijk 2020)
«Bis auf den heutigen Tag wartet Kontinentaleuropa vermutlich aufs Neue auf einen starken, charismatischen Leader mit grossem Renommee», sagt Alexandre Colonna Walewski, ein Urenkel Napoléons und der polnischen Gräfin Maria Walewska. Damit meint er nicht nur Politiker, sondern auch Führungskräfte, die allzu häufig nur wenig davon verstehen, den Kampfgeist ihrer Mitarbeitenden zu wecken. «Ohne einen gewissen Stolz, etwas in der Politik, in der Wirtschaft, im militärischen oder wissenschaftlichen Bereich zu kreieren, gibt es keine Begeisterung bei der Arbeit und keinen wirklichen Erfolg», sagt Walewski. «Bonaparte wusste, wie man Menschen das vermittelt.»
«Ein vereintes Europa schaffen und anderen Völkern die Freiheit bringen», lautete Napoléons Vision, die bereits von der Französischen Revolutionären propagiert wurde. Um diese zu realisieren, folgten ihm seine Soldaten auf die Schlachtfelder quer durch ganz Europa. Für ihre Opferbereitschaft verspricht Napoléon seinen Soldaten viel: «Nicht weniger als das Paradies», sagt Gérard Miège, passionierter Historiker, Buchautor und Guide im Genfer Musée des Suisses dans le Monde. Dieser Eroberungsgeist habe in der heutigen Zeit kaum eine Zukunft. «Ein ambitiöser Chef einer Kleinfirma mit Mitarbeitenden als Mitstreiter kann es weit bringen. In einer Grossfirma funktioniert das jedoch nicht. Ein Bankangestellter geht nicht auf Eroberungszug. Ein Büro ist kein Schlachtfeld.»
Das Wir-Gefühl wecken
Seinen Soldaten vermittelte Napoléon nicht nur seine Vision. Er machte sie auch zu Akteuren ihrer Epoche und setzte auf ein Wir-Gefühl, weiss Historiker, Autor und Napoléon-Kenner Jean Etèvenaux. Beispielsweise als Bonaparte bei seinem Ägypten-Feldzug proklamiert: «Von der Spitze dieser Pyramiden betrachten euch vierzig Jahrhunderte», oder auf dem Schlachtfeld von Austerlitz, als er zu seinen Soldaten spricht: «Es reicht, wenn ihr sagt, dass ihr an der Schlacht von Austerlitz teilgenommen habt, damit man euch antwortet: voilà, ein Mutiger.» Als Napoléon nach einem knappen Jahr des Exils auf Elba im Frühjahr 1815 am Golfe-Juan französischen Boden betritt, wendet er dieselbe Taktik erneut an: «Ich komme, um meine Rechte zurückzuerobern, die die euren sind.»
Die Mitarbeitenden mit geschickter Kommunikation zu begeistern, stünde Führungskräften auch heute gut zu Gesicht, findet Etèvenaux. «In Napoléons Geschichte entdecken Vorgesetzte, wie wichtig es ist, gut zu sprechen, sich präzise auszudrücken und das in einem Tonfall, der die Mitarbeitenden dazu bringt, sich selbst zu übertreffen.» Napoléon konnte nicht nur mündlich, sondern trotz seiner katastrophalen Rechtschreibung auch schriftlich überzeugen. Sein Erfolgsrezept? «Er vermied es, verschiedene Aspekte einer Sache zu vermischen und konzentrierte sich auf ein einziges Thema», sagt Etèvenaux. Daneben verstand er es, seine militärischen Erfolge in seinen Kommunikationskanälen wie dem Courrier de l’Armée de l’Italie oder dem Journal de Bonaparte et des Hommes Vertueux zu zelebrieren. Mit dem Mémorial de Sainte-Hélène schuf Napoléon sein letztes Werk, das die Grundlage seiner Legende bildet und in dem er sich zum Opfer stilisiert.
Nahbar sein
«Napoleon war seinen Soldaten sehr nah», sagt Gérard Miège. Ganz im Gegensatz zu den anderen royalen Herrschern dieser Zeit. «Bonaparte entstammte einer ärmlichen Familie und arbeitete sich von der Pike auf die militärische Leiter empor. Er ass dasselbe wie seine Soldaten und schlief in seinem Zelt mitten unter ihnen.» Diese konnten ihren «kleinen Korporal» aus nächster Nähe bewundern. Dabei beliess es der Feldherr allerdings nicht. «Napoléon studierte nicht nur Feldkarten und entwarf Armee-Bewegungen, er sorgte auch persönlich dafür, dass sich seine Soldaten an den ihnen zugewiesenen Posten nicht zu isoliert fühlten», ergänzt Etèvenaux. «Daher seine Essensrundgänge, seine Deklamationen und Diskussionen in den Biwaks.» Ein Tun, das sich CEOs zu Herzen nehmen könnten, die ihren Mitarbeitenden oft nur aus Firmenbroschüren entgegenlächeln. Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen ihnen und dem Kaiser der Franzosen: «Napoléon hat von seinen Unterstellten alles abverlangt», sagt Miège. «Das können CEOs nicht. Sie müssen Konzessionen eingehen, sonst verlieren sie ihre Machtposition. Wer sich für einen Bonaparte hält, bleibt in einer Grossfirma nicht lange an der Spitze.»
Ehre, wem Ehre gebührt
Menschen dürsten nach Wertschätzung und Anerkennung. «Wenn eine Führungskraft zufrieden ist, sollte sie sich grosszügig zeigen», sagt Gérard Miège, der einst selbst Angestellte geführt hat. Wie Napoléon das machte? «Er zog die Soldaten, die ihm auf dem Schlachtfeld durch ihren Tatendrang aufgefallen waren, mit einer liebevollen Geste an den Ohren.» Eine Würdigung, die nichts kostete. Seinen Generälen verlieh er Titel und überschüttete sie mit Belohnungen. «Das Prinzip ist bei beiden dasselbe. Nicht nur Geld und Titel verpflichten. Auch eine Auszeichnung kann eine Knechtschaft darstellen, weil sie jemanden an einen bindet.»
Seine Generäle haben Napoléons Vision verinnerlicht und handelten auf dem Schlachtfeld nach seinen Prinzipien. Napoléon siegt oft, weil er die Charakterstärken und -schwächen seiner Soldaten und Mitarbeitenden kennt: «Er hatte eine Nase dafür», sagt Miège. «Napoléon wusste, dass sein Aussenminister Charles-Maurice de Talleyrand ein ausserordentlicher Diplomat, aber auch unbeständig und dass sein General Armand Caulaincourt als Botschafter von Frankreich in Russland dem Zaren zu freundschaftlich zugeneigt war, um seine Interessen durchzusetzen.»
Fachkräftemangel im 19. Jahrhundert
Durch die jahrelangen Kriege ist der Nachwuchsmangel auch im Frankreich des 19. Jahrhunderts kein Fremdwort. Auf den Schlachtfeldern hält Napoléon deshalb ständig Ausschau nach Talenten. Hatte er eines identifiziert, kümmerte sich Napoléon oft persönlich um dessen Karriere, sagt Etèvenaux. «Viele seiner für ihn wertvollen Adjutanten hat er selbst ausgebildet.» Eine Parallele zur heutigen Welt? Dass Topkader ihre Angestellten kennen, kann sich bei der firmeninternen Besetzung als Vorteil erweisen. Dennoch fehlt dafür oft die Basis. «In einer Grossfirma sind die CEOs meist zu weit weg von den Angestellten», konstatiert Miège. Zudem seien viele Firmen zu gross und zu international geworden.
Ein verglühender Komet
Der Stern Napoléons beginnt 1812 nach dem Debakel des Russlandfeldzugs zu sinken. «Die Generäle haben den Glauben an Napoléons Genie verloren», so Miège. Das Misstrauen ist gegenseitig. «Auch Napoléon vertraute sich ihnen nicht mehr an», sagt Miège. «Wer sich jedoch in einem Elfenbeinturm einigelt und sich von seinen Untergebenen abschottet, hat viel zu verlieren», ergänzt Etèvenaux. «Dadurch hat Napoléon als Kaiser wie viele, die an die Macht gelangen, an Autismus gelitten.» Durch das unterwürfige Verhalten seiner Höflinge habe sich die Sache noch verschlimmert. Das geschehe auch in Unternehmen mit selbstüberzeugten CEOs, findet Miège: «Menschen befinden sich in einem solchen Umfeld im Zustand der Unterlegenheit.» Der Widerspruch wird also seltener. Die Argumente jener, die Napoléon dennoch Paroli boten, liess dieser nicht mehr gelten oder schrieb sie dem Einfluss seiner Feinde zu. Etwa jene seines Ministers Charles-Maurice de Talleyrand über die Aussenpolitik oder die seines Polizeiministers Joseph Fouché über die öffentliche Meinung, während Caulaincourts Ansichten für ihn vom russischen Zaren beeinflusst waren.
Nebst seinem Glaubwürdigkeitsverlust hat Napoléon auch mit der Grösse seines Reichs zu kämpfen. «Das Französische Empire war zu gross geworden», sagt Miège. «Die Kommunikation funktionierte nicht mehr. Häufig dauerte es 15 Tage, bis eine Nachricht vom einen Ende des Empires zum anderen gelangte.»
Schneller, höher, weiter
Immer mehr in immer kürzerer Zeit zu wollen, ist nicht nur Napoléon zum Verhängnis geworden. «Eroberer wie Alexander der Grosse, César oder Tamerlan scheint eine Art Höllenmaschine immer weiter vorangetrieben zu haben», sagt Etèvenaux. «Sie konnten nicht aufhören.» Das habe logistische, menschliche, militärische, wirtschaftliche und politische Probleme geschaffen. Ein Phänomen, das für Miège vor allem in Grossfirmen zu finden ist: «Der Idee der immerwährenden Expansion verfallen auch manche CEOs multinational tätiger Unternehmen, die sich von der Realität abgekoppelt haben.»
Wer andere führen will, tue deshalb gut daran, sich immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen, raten Miège und Etèvenaux. «Ambition, die nicht durch die Vernunft gebändigt wird, kann in eine Katastrophe führen», sagt Miège. «Nicht nur für sich, sondern auch für alle anderen.» Wir können also aus der Geschichte lernen – sofern sie sich nicht wiederholen soll.
Kurzbiografie Napoléon
Am 15. August 1769 in der Ajaccio auf Korsika geboren, steigt Bonaparte während der Französischen Revolution in der Armee auf. Sein militärisches Talent wird bald erkannt. Die Feldzüge in Italien und Ägypten machen ihn populär und ermöglichen ihm, durch den Staatsstreich des 18. Brumaire (9. November 1799) als einer von drei Konsuln die Macht in Frankreich zu ergreifen.
Von 1799 bis 1804 war er erster Konsul der Französischen Republik, von 1804 bis 1815 Kaiser der Franzosen. Ab 1805 amtet Napoléon zudem als König von Italien und von 1806 bis 1813 ist er Protektor des Rheinbundes. In weiteren Staaten setzt er Familienmitglieder und Vertraute als Monarchen ein. Durch Reformen wie jene der Justiz durch den Code civil hat Napoléon die staatlichen Strukturen der Schweiz bis in die Gegenwart hinein geprägt.
Der katastrophale Ausgang des Feldzugs gegen Russland ab 1812 führte zur Erschütterung von Napoléons Herrschaft über grosse Teile Europas, den Befreiungskriegen und zu seinem Sturz. Nach der Kampagne in Deutschland im Jahr 1813 dankte Napoléon ein erstes Mal im April 1814 ab.
Nach einer kurzen Phase der Verbannung auf Elba kehrte Napoléon 1815 für 100 Tage an die Macht zurück. In der Schlacht bei Waterloo wurde er endgültig besiegt.
Er starb am 5. Mai 1821 auf der Insel St. Helena, wohin er von den Alliierten verbannt worden war.
Musée des Suisses dans le Monde & Souvenir napoléonien
penthes.ch
Souvenir napoléonien
Am 27. Dezember 1937 gegründet, ist Souvenir napoléonien der wichtigste Verein in Europa, der die Institutionen, Orte, Ereignisse und Menschen bekannt machen möchte, die das Erste und Zweite Französische Empire geprägt haben. Hier kommen Menschen zusammen, die sich für die napoléonische Geschichte begeistern oder sie erforschen.
souvenirnapoleonien.org
Literatur zu Napoléon
In seinem Buch begibt sich der Autor auf Spurensuche von Mitgliedern der Familie Bonaparte, die durch die Schweiz gereist sind oder hier gelebt haben. Ebenso werden Persönlichkeiten porträtiert, die sie begleitet haben. Etwa die Generäle Jomini (Payerne), Berthier (Neuchâtel) oder der Bedienstete Noverraz, der in der Genferseeregion aufgewachsen ist und Napoléon nach St. Helena begleitet hat. Gérard Miège, Cabédita, 2017, 130 Seiten.
Die drei Generäle aus alteingesessenen französischen Familien haben unter Napoléons Herrschaft eine steile militärische Karriere gemacht. Sie standen dem Kaiser der Franzosen sehr nahe. Einer von ihnen, Bertrand, hat Napoléon sogar ins Exil nach St. Helena begleitet. Jean Etèvenaux, Cabédita, 2020, 96 Seiten.