Vom Starkult zum Instrument
Talent Management ist mehr als die Pflege eines Starkults im Unternehmen. Wirkungsvolles Talent Management hat zum Ziel, die gesamte Belegschaft zu fordern und zu fördern. Und es geht Hand in Hand mit der Firmenstrategie.
(Bild: Tanja da Silva)
Langsam aber sicher wird es den meisten Unternehmensverantwortlichen bewusst: Gerade jene Mitarbeitenden, auf deren Wissen und Kompetenzen sie am meisten angewiesen sind, sind ein flüchtiges Gut, das es mit viel Aufwand zu finden, aufzubauen und zu halten gilt. Dazu zählen gut ausgebildete Neueinsteiger genauso wie Fachspezialistinnen, langjährige Mitarbeitende in allen Bereichen und Kaderleute.
Aus für Loyalität und Verbindlichkeit
Strategische Personalarbeit oder Talent Management ist daher in der personalwirtschaftlichen Aufgabenliste weit nach oben gerückt. Dies nicht zuletzt, weil der «psychologische Vertrag», der die Beziehung zwischen Betrieb und Belegschaft während Jahrzehnten dominierte, vor rund 15 Jahren gebrochen wurde. Die betriebswirtschaftliche Devise, dass die Strukturen ohne Rücksicht auf menschliche Verluste auf die jeweilige Strategie auszurichten, seien sowie kurzfristiges Shareholder-Rendite-Denken zerstörten die Vorstellung, dass die Firma ein Stück Heimat darstellt. Verbindlichkeit und Loyalität blieben bei allen Restrukturierungen, Fusionen, Chefwechseln und Kurskorrekturen auf der Strecke. Verschiedene internationale Erhebungen zeigen ein ernüchterndes Bild: Drei Viertel der Beschäftigten könnten bessere Arbeit leisten. Die grösste Hürde dabei: Es hapert an den simpelsten Führungsprinzipien.
Die Aufgabe, die für ein Unternehmen am besten geeigneten Mitarbeitenden ausfindig zu machen, um mit ihnen Schlüsselpositionen zu besetzen, ist nicht neu. Früher hat die Firmenleitung dazu einfach Organigramme zur Hand genommen und überlegt, für welche zentralen Positionen welche Personen zur Verfügung standen. Deren Karrieren wurden dann mit einer langfristigen Perspektive geplant, bis die Nachfolgekandidaten reif waren, Verantwortung zu übernehmen.
«Erfolgreich war diese Methodik in Zeiten, in denen sich die Märkte überschaubar entwickelten, Unternehmen auf dauerhafte Strategien, Strukturen und Prozesse setzen konnten und ihnen zudem ausreichend Mitarbeiter zur Verfügung standen», konstatiert Sylvie Branke, Expertin für Talent Management beim Beratungsunternehmen Towers Perrin. Talent Management im 21. Jahrhundert, so Branke, geht viel weiter. «Es gehört zwingend in die Firmenstrategie eingebunden und muss so zu einem Konzernsteuerungsinstrument werden.» Zudem sollten die Talent-Management-Systeme auf immer mehr Mitarbeitergruppen ausgeweitet werden, um die Talent-Pipeline auf eine breite Basis zu stellen und so auch dem Fachkräftemangel zu begegnen.
Langfristige Mitarbeiterbindung
So geschehen bei der ABB Schweiz. Nachdem das Unternehmen den Mitarbeiterbestand vor wenigen Jahren aufgrund einer Restrukturierung massiv reduziert hatte, sah es sich mit einem gefährlichen Wissensabfluss konfrontiert. Mit einem strategisch orientierten HR Management wurden die Weichen aber richtig gestellt. «Unser HR Management ist in allen Geschäftsprozessen verankert und verfügt über ein vielfältiges Instrumentarium», sagt Fredy Diener, bei der ABB verantwortlich für Talent Management in der Schweiz sowie in der Region Zentraleuropa. Ein wichtiger Pfeiler sei das Talent Management, das bei ABB Schweiz viele Mitarbeitende betreffe. Den Schwerpunkt legt die ABB aber auf vier Zielgruppen: Mitarbeitende mit Führungspotenzial, Hochschulabsolventen, Mitarbeitende ab 45 und Fachspezialisten. «Ziel unserer Bemühung ist es, die Mitarbeitenden langfristig an unser Unternehmen zu binden. Wir stufen sie im jährlichen Mitarbeitendengespräch auf ihr Potenzial hin ein und zeigen ihnen Perspektiven auf, wie sie sich sowohl fachlich als auch führungsspezifisch weiterentwickeln können.»
Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Fachspezialisten. Diese sind für die ABB «eine Businessnotwendigkeit», wie Diener betont. «Aufgrund unserer komplexen und langlebigen Technologien müssen wir alles daran setzen, für diese Zielgruppen attraktiv zu bleiben, so dass diese möglichst lebenslang bei uns arbeiten.» Langfristig hat Diener die Vision, dass die ABB mehr Talente hervorbringt, als das Unternehmen braucht. Und ganz wichtig: Die Massnahmen werden auch in Krisenzeiten weitergeführt.
Jeder Mitarbeiter hat Potenzial
Mit der neuen Talent-Management-Strategie scheint die ABB auf dem richtigen Weg zu sein. «Denn», so betont Talent-Management-Spezialistin Sylvia Branke, «Talent Management entscheidet künftig über die Attraktivität eines Unternehmens am globalen Arbeitsmarkt und verhilft so zu einem Wettbewerbsvorteil.» Darauf zu verzichten, hiesse, auf die besten Mitarbeiter zu verzichten.
Voraussetzungen für ein im Unternehmen gut etabliertes Talent Management sind aber eine klare Kommunikation und transparente Prozesse (siehe Kasten: «Wie Talent Management erfolgreich funktioniert»). Und ganz wichtig: Es reicht nicht aus, Prozesse und Instrumente zu implementieren, um Talente zu fördern. Spezifische Verhaltensweisen wie Schaffung von Verantwortungsbewusstsein und Disziplin müssen die Umsetzung dieser Prozesse unterstützen. Talent Management in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts heisst auch nicht, «Diven» zu züchten oder Starkult zu betreiben. Im Gegenteil: Jeder Mitarbeitende hat Talente und damit Potenzial. Dazu müssen die Mitarbeitenden aber an der richtigen Position eingesetzt und gefördert werden. «So sind sie auch bereit, überdurchschnittliche Leistung zu bringen», betont Yan Curty, Direktor Human Resources bei Cartier Schweiz.
Denn nicht alle Mitarbeiter können und wollen bis ganz nach oben aufsteigen – weil es nicht genügend Stellen gibt, weil ihnen der Wille dazu fehlt oder weil sie dazu nicht geeignet sind. Diese Leute gilt es genauso bei der Stange zu halten wie diejenigen, die für höhere Führungsweihen in Frage kommen. Geschehen kann dies gemäss Curty durch «Wertschätzung, ein gutes Arbeitsklima und die Förderung von horizontalen Karrieren».
Ideale Messgrösse Employability
Talent Management und Potenzialentwicklung sind eben mehr als eine Kosten-Nutzen-Rechnung und erschöpfen sich nicht in der Frage, von welchem Mitarbeitenden in welcher Form das Optimum fürs Unternehmen herausgeholt werden kann. Man müsse den Nutzen für die Firma mit den Bedürfnissen der Mitarbeitenden in Einklang bringen, schreibt Martin Hilb vom Institut für Führung und Personalmanagement der Universität St.Gallen in seinem Leitfaden für integriertes Personalmanagement (siehe Buchtipp unten).
Bleibt noch die Frage, wie es Unternehmen in der kurzlebigen Zeit schaffen, heute zu wissen, was für Mitarbeiter sie in drei, fünf oder sogar zehn Jahren brauchen. Gemäss Sylvie Branke stellt sich diese Frage in Firmen mit einer nachhaltigen Talent- Management-Kultur gar nicht. «Deren Mitarbeiter sind fachlich und menschlich so fit, dass sie es rechtzeitig schaffen, sich in neue Bereiche einzuar-beiten.» Vor allem die Employability – die Erhaltung der (internen) Arbeitsmarkt-fähigkeit – des mittleren Managements sei eine ideale Mess-grösse für die Wirksamkeit der Talent-Management-Prozesse eines Unternehmens.
Buchtipp:
- Martin Hilb: «Integriertes Personal-management. Ziele – Strategien – Instrumente», Luchterhand Fachverlag, 2007.
Wie Talent Management erfolgreich funktioniert
Gemäss Untersuchungen des Beratungsunternehmens Towers Perrin sind viele Unternehmen in Sachen Talent Management aktiv. Was jedoch vielfach fehlt, ist eine Lösung, die den folgenden Kriterien gerecht wird:
- Konsistenz: Gefragt ist ein gemeinsames und unternehmensweites Verständnis dessen, was einen Leistungs- und Potenzialträger ausmacht. Es braucht allgemein geltende Massstäbe, mit denen bewertet werden kann, wer für weiterführende Aufgaben in Frage kommt.
- Offenheit: Entwicklungs- und Karrierewege müssen eine gewisse Weite haben sowie verschiedene Funktionen, Geschäftsfelder und Regionen umfassen.
- Zielgruppenorientierung: Das Talent- Management-System muss die speziellen Anforderungen des Geschäfts differenziert aufgreifen und den An-sprüchen leistungsstarker Mitarbeiter gerecht werden.
- Transparenz und Handlungsorientierung: Dem Management muss auf Knopfdruck klargemacht werden können, in welchen Bereichen die für das Unternehmen relevanten Leute sitzen und wo diese eingesetzt werden können. Wichtig ist auch, dass allfällige Engpässe vorausgesehen werden. Nur so kann vorausschauend geplant und gehandelt werden.