Im Gespräch

Warum ethische Werte vor finanziellen Verlusten schützen können

Es gibt eine sehr einfache Frage, die den Banken den unermesslichen Schaden, den sie erlitten haben und noch erleiden werden, erspart hätte: Ist es ethisch gerechtfertigt, jemandem einen Kredit zu gewähren, von dem man annehmen muss, dass er ihn nicht wird zurückzahlen können? Die spontane Antwort ist Nein. Worin liegt die genaue Begründung für diese Antwort? Gedanken zur Ethik in Zeiten der Subprime-Krise.

Wenn jemand einen Kredit nimmt, geht er damit die Verpflichtung der Rückzahlung ein. Ein Kredit ist schliesslich kein Geschenk. Kann er diese Verpflichtung nicht erfüllen, verletzt er den mit dem Kredit verbundenen Rückzahlungsvertrag. Ethisch betrachtet ist es nicht erlaubt, jemanden eine Verpflichtung eingehen zu lassen, die er nicht erfüllen kann. Man verführt ihn zum Bruch eines Vertrags. Ein solches Verhalten ist nicht nur ethisch fragwürdig, sondern auch dumm. Denn letztlich schadet jeder, der Geld verleiht und es am Ende nicht wiedersieht, sich selbst. Warum aber ist das trotzdem geschehen? Inzwischen wissen wir, in welchem Ausmass dieses schwer verständliche Verhalten um sich greift.

Sind die Banker gieriger und 
die Akteure dümmer geworden?

Ein Forscherteam des Internationalen Währungsfonds IWF hat bereits Anfang 2007 in einer Studie  nachgewiesen, dass in den USA das Volumen der Hypothekarkredite, also der Kredite, die durch einen Eintrag im Grundbuch abgesichert sind, von 200 auf 600 Milliarden Dollar angewachsen war. Die Anzahl riskanter Kredite stieg im gleichen Zeitraum von 9 auf 20 Prozent. Die Wissenschaftler – Giovanni Dell’Arizzia, Denzi Igan und Luc Laeven – konnten sich auf solides Zahlenmaterial stützen, denn die amerikanischen Hypothekenbanken sind seit Mitte der 70er Jahre gesetzlich dazu verpflichtet, Statistiken der beantragten und genehmigten Kredite zu veröffentlichen. Daher lagen den Wissenschaftlern Daten über 50 Millionen Kreditanträge vor. Übrigens schätzen sie die Höhe aller noch ausstehenden Subprime-Kredite auf etwa 1,3 Billionen Dollar.

Das ganze Ausmass dieses Fehlverhaltens und des daraus entstandenen Schadens legt zwei Fragen nahe: Sind die Banker gieriger geworden und haben sie deswegen gegen den einfachen ethischen Grundsatz verstossen, dass man niemandem Geld leiht, der es nicht zurückzahlen kann? Und sind die Akteure dümmer geworden? Gegen solche Annahmen spricht eine einfache Tatsache: Die Menschen ändern sich nicht so schnell. Es ist nicht anzunehmen, dass die Banker heute gieriger sind als vor zwanzig oder fünfzig Jahren. Und dümmer sind sie ganz sicher auch nicht. Warum aber haben sie dann den einfachen ethischen Grundsatz verletzt, der sie vor grossem Schaden bewahrt hätte? Ein typischer Banker würde etwa so argumentieren:

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Es geht nicht in erster Linie darum, ob X oder Y tatsächlich in der Lage ist, am Ende seine Hypothek auch wirklich abzuzahlen. Denn es gibt viele X und Y. Uns hat bloss interessiert, dass insgesamt die Quote stimmt. Da wir annehmen konnten, dass die Wirtschaft bergauf geht, es also  Jobs gibt und der Wert der Immobilien entsprechend steigt, konnten wir darauf setzen, dass genügend Hypotheken zurückgezahlt werden, damit am Ende die Bank zu einem ausgeglichenen Ergebnis kommt.
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Moderne Methoden der Risikodiversifikation erlauben es uns, schlechte Risiken mit guten zu vermischen. Es ist ja nicht so, dass wir einfach auf den Hypotheken sitzen. Vielmehr werden aus den Hypotheken neue Pakete geschnürt, die wir verkaufen. Die Käufer, die uns ein solches Paket abnehmen, wissen natürlich ganz genau, dass es darin stärkere und schwächere Elemente gibt. Entsprechend bemisst sich der Kaufpreis, also die Verzinsung. Hohes Risiko führt zu entsprechend hohen Risikozinsen, niedriges Risiko entsprechend umgekehrt. Wir handeln also mit Risiken.
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Im Grunde muss man uns dankbar sein. Wir übernehmen ein Risiko, das ein schwacher Kreditnehmer allein nicht abdecken kann, vermischen es mit anderen Risiken, die günstiger sind, setzen insgesamt auf Wachstum und Stabilität, helfen damit dem Einzelnen und leisten insgesamt einen positiven Beitrag zum Wirtschaftswachstum.

Mit anderen Worten: Nicht der Mensch hat sich geändert, wohl aber der Markt. Die Menschen sind nicht gieriger geworden, aber neue Finanzprodukte haben neue Chancen generiert. Die Banker und Kreditnehmer haben sich lediglich an neuen Rahmenbedingungen orientiert. Und dadurch haben sich Massstäbe verschoben. Welche? Ganz klar: Die Bonität des Einzelnen ist nicht mehr so wichtig.

Versicherung statt Verantwortung

Ethisch betrachtet sind wir hier am Kern der Katastrophe. Die Engländer sagen: «The Devil has a soft step.» Der erste Schritt sieht entsprechend harmlos aus. Der Gedanke, dass man die Risiken von Hypotheken absichert, hat ein grosses und erfolgreiches Vorbild: das Versicherungswesen. Als das Versicherungswesen in Europa und Nordamerika im 19. Jahrhundert auf breiter Front Fuss fasste – die Vorläufer reichen bis in die Antike zurück –, verschob sich ein wichtiger ethischer Grundsatz. Bis zum Aufkommen der modernen Versicherung war man gewöhnt, bei einem Unfall nach den Verantwortlichen, den Schuldigen zu suchen. Wer hatte es zu dem Unglück kommen lassen? Wenn man den oder die Schuldige gefunden hatte, war klar, wer für den Schaden aufzukommen hatte.

Das moderne Versicherungswesen hat mit diesem Grundsatz gebrochen. Von nun an ging man davon aus, dass Unfälle «einfach geschehen», also die unvermeidliche Folge komplexer Interaktionen von Mensch und Technik sind. Wenn ein Arbeiter seine Hand in einer Maschine verlor, wurde jetzt nicht mehr gefragt, ob es überhaupt rechtmässig war, eine solche Maschine zum Einsatz zu bringen, den Arbeiter so und so lange an diesem Tag zu beschäftigen, und so weiter und so fort. Statt dessen galt der Grundsatz: Unfälle geschehen. Über ihre Eintrittswahrscheinlichkeit geben Statistiken Auskunft. Wenn in einem konkreten Fall nicht mutwillig oder erkennbar fahrlässig gehandelt worden ist, tritt die Versicherung ein. Die Schuldfrage ist durch die Statistik erledigt worden.

Man liegt nicht falsch, wenn man dieses Modell des modernen Versicherungswesens den Praktiken der Hypothekenvergabe seit dem Anfang dieses Jahrhunderts zugrunde legt. Es wäre sinnvoll gewesen, das Versicherungsmodell auf die bisherige Praxis anzuwenden, also bei gegebener Bonität eine zusätzliche Sicherheit zu schaffen, die den Kreditnehmer ebenso abstützt wie die Bank. Aber dieses Modell wurde geradezu parodiert, so als hätten sich die Banker darüber lustig machen wollen. Entsprechend erfand man eine neue Praxis: Auf jeden Bonitätsnachweis zu verzichten und stattdessen den Kreditnehmer beziehungsweise dessen Hypothek als ein Risiko einzustufen, das man mit anderen Risiken vermischt, um unter dem Strich die Risiken des Einzelnen mit den vielen anderen Risiken der Einzelnen abzugleichen. Der Einzelne verschwindet im Meer der Risiken. Er ist ein Tropfen im Ozean. Die Bank schwimmt darauf wie ein unsinkbares Schiff. The Devil has a soft step.

Realitätsverlust: «Magie des Marktes»

The soft step: Entlastung allerorten. Die Bank muss nicht mehr wie ein Sheriff nach der Bonität des Kunden fragen, der Kunde muss nicht mehr Auskunft geben. Solche Rubriken waren laut dem erwähnten IWF-Bericht in den Formularen für die Beantragung der Hypotheken schon gar nicht mehr vorgesehen. Was den Kreditnehmern und vielleicht manchen Managern möglicherweise gar nicht klar wurde: Hier wurde eine fundamentale menschliche Beziehung zerstört. Denn bislang war es üblich gewesen, dass die Banken die Kreditnehmer als langfristige Kunden und Partner ansahen. Daher war Verlässlichkeit ein zentraler Wert. Nun galt die gegenseitige Verantwortung nichts mehr.  Das allerdings entsprach einem längerfristigen Trend. Denn schon länger sehen sich die Banken nicht mehr als Berater und Begleiter ihrer Kunden. Vorbei waren die Zeiten, in denen ein KMU in seiner «Hausbank» einen Partner hatte, der das Unternehmen kannte und es auch in schwierigen Zeiten begleitete. Heute gibt es Schemata, die die Risiken einstufen. Banken haben es also nicht mehr mit Kunden, sondern nur noch mit Risiken zu tun.

Wenn diese Risiken auf einem Markt angesiedelt sind, der nach verbreiteter Meinung als stetig wachsend angesehen wird, hat kein Kunde ein Problem. Dieser Prozess wird von den Verfassern der IWF-Studie als «explosives Gemisch aus Gier, billigem Geld und neuen Finanzprodukten» umschrieben. George Soros setzt noch einen drauf: «Damit schuf man ein System, das eine immer grössere Kreditexpansion förderte. Es war so erfolgreich, dass die Menschen an die Magie des Marktes zu glauben begannen.»

Interessant an der Bemerkung von Soros ist die Tatsache, dass mit dem Schwinden der ethischen Massstäbe ein Realitätsverlust einhergeht. Soros spricht vom «Glauben an die Magie des Marktes». Ist es zu viel behauptet, dass die Ethik ein guter Garant für Realität ist? Mit ihrem Verlust wurde den Kunden eine falsche Realität vorgegaukelt. Denn als die Banken die Bonitätskriterien über Bord geworfen hatten, gab es kein Halten mehr. Mit «Teasern» haben sie zögerliche Kunden gewonnen. Teaser bestehen unter anderem darin, dass man anfangs einen extrem niedrigen Zinssatz vereinbart, während der ersten zwei Jahre auf Rückzahlung verzichtet und weitere Hypotheken aufgrund der Wertsteigerung der Häuser und Grundstücke gewährt. Zunächst keine Rückzahlung, dafür aber endlich den lang ersehnten Urlaub und das neue Auto!  Aus Hypotheken wurden Drogen.

Vertrauen und Verlässlichkeit als Basis

Aber der Entzug ist hart. Denn im Hintergrund warteten schon Spekulanten, die den Banken jene «Risiken» abkauften, die diese nicht mehr tragen wollten. Und schon sahen sich die stolzen Hausbesitzer mit neuen Eigentümern ihrer Hypotheken konfrontiert, die ganz andere Zinsen und Gebühren verlangen, den Wert der Häuser und Grundstücke sehr viel niedriger einschätzen, kurzfristige Zahlungsziele setzen und auch Leute kurzerhand hinauswerfen, die unter anderen Bedingungen durchaus in der Lage wären, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. In England geht das «Königliche Institut der Immobilienbegutachter» davon aus, dass pro Tag 120 Familien ihre Häuser räumen müssen. In den USA sind inzwischen ganze Kleinstädte verödet und die Gemeinden müssen Milliarden für die Verwaltung der Leerstände ausgeben – und für den Unterhalt der neuen Obdachlosen.

Und wie sieht es an Deck der vermeintlich unsinkbaren Schiffe aus? Da zittern Banker vor den «Margin Calls» ihrer Kollegen aus den benachbarten Häusern: Jenen Anrufen, in denen für «schlechte Risiken» höhere Sicherheiten und Zinsen verlangt werden. Andere sind schon entlassen oder sehen der «Umstrukturierung» ihrer Bank angstvoll entgegen. Der ganze Prozess wird dadurch beschleunigt und verschärft, dass das Vertrauen zwischen den Mitarbeitenden der Bankhäuser geschwunden ist. Banken leihen sich gegenseitig nicht mehr so selbstverständlich Geld wie früher. Man weiss ja nicht … – darf man jemandem einen Kredit gewähren, von dem man annehmen muss, dass er ihn möglicherweise nicht wird zurückzahlen können? Die ethischen Werte kehren als gigantische finanzielle Verluste zurück. Das Vertrauen ist nach wie vor die Basis der Transaktionen. Vertrauen ist so alt wie die Menschheit. Es braucht eine verlässliche Basis. «Ich gebe, damit du gibst», sagten die Römer schon in der Antike. Wie tauglich dieser Grundsatz immer noch ist, zeigen die Mikrokredite, die der Banker und Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus in Bangladesch speziell an Frauen vergibt. Die Rückzahlungsquote liegt bei 98 Prozent.

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Dr. Stephan Wehowsky leitet die Kommunikation des Schweizer Chapters der American Society of Industrial Security ASIS. Das Thema Mensch, «der menschliche Faktor» bildet den Kern seiner Vorträge und Beratungen. Als Publizist hat er zudem zahlreiche Publikationen zu ethischen Themen verfasst.

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