Realitätsverlust: «Magie des Marktes»
The soft step: Entlastung allerorten. Die Bank muss nicht mehr wie ein Sheriff nach der Bonität des Kunden fragen, der Kunde muss nicht mehr Auskunft geben. Solche Rubriken waren laut dem erwähnten IWF-Bericht in den Formularen für die Beantragung der Hypotheken schon gar nicht mehr vorgesehen. Was den Kreditnehmern und vielleicht manchen Managern möglicherweise gar nicht klar wurde: Hier wurde eine fundamentale menschliche Beziehung zerstört. Denn bislang war es üblich gewesen, dass die Banken die Kreditnehmer als langfristige Kunden und Partner ansahen. Daher war Verlässlichkeit ein zentraler Wert. Nun galt die gegenseitige Verantwortung nichts mehr. Das allerdings entsprach einem längerfristigen Trend. Denn schon länger sehen sich die Banken nicht mehr als Berater und Begleiter ihrer Kunden. Vorbei waren die Zeiten, in denen ein KMU in seiner «Hausbank» einen Partner hatte, der das Unternehmen kannte und es auch in schwierigen Zeiten begleitete. Heute gibt es Schemata, die die Risiken einstufen. Banken haben es also nicht mehr mit Kunden, sondern nur noch mit Risiken zu tun.
Wenn diese Risiken auf einem Markt angesiedelt sind, der nach verbreiteter Meinung als stetig wachsend angesehen wird, hat kein Kunde ein Problem. Dieser Prozess wird von den Verfassern der IWF-Studie als «explosives Gemisch aus Gier, billigem Geld und neuen Finanzprodukten» umschrieben. George Soros setzt noch einen drauf: «Damit schuf man ein System, das eine immer grössere Kreditexpansion förderte. Es war so erfolgreich, dass die Menschen an die Magie des Marktes zu glauben begannen.»
Interessant an der Bemerkung von Soros ist die Tatsache, dass mit dem Schwinden der ethischen Massstäbe ein Realitätsverlust einhergeht. Soros spricht vom «Glauben an die Magie des Marktes». Ist es zu viel behauptet, dass die Ethik ein guter Garant für Realität ist? Mit ihrem Verlust wurde den Kunden eine falsche Realität vorgegaukelt. Denn als die Banken die Bonitätskriterien über Bord geworfen hatten, gab es kein Halten mehr. Mit «Teasern» haben sie zögerliche Kunden gewonnen. Teaser bestehen unter anderem darin, dass man anfangs einen extrem niedrigen Zinssatz vereinbart, während der ersten zwei Jahre auf Rückzahlung verzichtet und weitere Hypotheken aufgrund der Wertsteigerung der Häuser und Grundstücke gewährt. Zunächst keine Rückzahlung, dafür aber endlich den lang ersehnten Urlaub und das neue Auto! Aus Hypotheken wurden Drogen.
Vertrauen und Verlässlichkeit als Basis
Aber der Entzug ist hart. Denn im Hintergrund warteten schon Spekulanten, die den Banken jene «Risiken» abkauften, die diese nicht mehr tragen wollten. Und schon sahen sich die stolzen Hausbesitzer mit neuen Eigentümern ihrer Hypotheken konfrontiert, die ganz andere Zinsen und Gebühren verlangen, den Wert der Häuser und Grundstücke sehr viel niedriger einschätzen, kurzfristige Zahlungsziele setzen und auch Leute kurzerhand hinauswerfen, die unter anderen Bedingungen durchaus in der Lage wären, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. In England geht das «Königliche Institut der Immobilienbegutachter» davon aus, dass pro Tag 120 Familien ihre Häuser räumen müssen. In den USA sind inzwischen ganze Kleinstädte verödet und die Gemeinden müssen Milliarden für die Verwaltung der Leerstände ausgeben – und für den Unterhalt der neuen Obdachlosen.
Und wie sieht es an Deck der vermeintlich unsinkbaren Schiffe aus? Da zittern Banker vor den «Margin Calls» ihrer Kollegen aus den benachbarten Häusern: Jenen Anrufen, in denen für «schlechte Risiken» höhere Sicherheiten und Zinsen verlangt werden. Andere sind schon entlassen oder sehen der «Umstrukturierung» ihrer Bank angstvoll entgegen. Der ganze Prozess wird dadurch beschleunigt und verschärft, dass das Vertrauen zwischen den Mitarbeitenden der Bankhäuser geschwunden ist. Banken leihen sich gegenseitig nicht mehr so selbstverständlich Geld wie früher. Man weiss ja nicht … – darf man jemandem einen Kredit gewähren, von dem man annehmen muss, dass er ihn möglicherweise nicht wird zurückzahlen können? Die ethischen Werte kehren als gigantische finanzielle Verluste zurück. Das Vertrauen ist nach wie vor die Basis der Transaktionen. Vertrauen ist so alt wie die Menschheit. Es braucht eine verlässliche Basis. «Ich gebe, damit du gibst», sagten die Römer schon in der Antike. Wie tauglich dieser Grundsatz immer noch ist, zeigen die Mikrokredite, die der Banker und Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus in Bangladesch speziell an Frauen vergibt. Die Rückzahlungsquote liegt bei 98 Prozent.