Die leisen Leistungsträger

Warum Unternehmen oft die Falschen hören

Die moderne Arbeitswelt belohnt oft Lautstärke und Präsenz – während die Leisen oft für Passivität und fehlende Initiative sanktioniert werden. Das kann negative Folgen haben.

In vielen Organisationen gleicht Kommunikation einem Orchester, in dem die lautesten  Instrumente dominieren, während die leisen Töne, die das Stück tragen und Tiefe verleihen,  kaum gehört werden. Leistung wird oft mit Präsenz verwechselt und Sichtbarkeit mit  Kompetenz. Doch die wahren Leistungsträger sind häufig jene, die beobachten, reflektieren  und verstehen, bevor sie sprechen. 
Sichtbarkeit ist kein Massstab für Wirksamkeit 

Die moderne Arbeitswelt belohnt Lautstärke, Schnelligkeit und permanente Präsenz. Wer  sichtbar ist, gilt als engagiert, wer still ist, als passiv. Diese Wahrnehmung ist trügerisch, denn  viele der „leisen Köpfe“ leisten Enormes, ohne es nach aussen zu tragen. Hier entsteht eine  kognitive Dissonanz zwischen dem, was Organisationen sagen, dass sie Vielfalt und Tiefe  schätzen – und dem, was sie tatsächlich fördern, die Lauten, die sich zeigen. 

In Coachings beobachte ich häufig, dass introvertierte oder ambivertierte Menschen  unterschätzt werden, weil sie sich in Gruppendiskussionen zurückhalten. Ihre Zurückhaltung  ist jedoch kein Mangel, sondern Ausdruck von Reflexion und Fokus. Wenn ihnen Raum  gegeben wird, sind ihre Beiträge präziser, durchdachter und häufig von langfristiger  Bedeutung. 

Psychologische Diversität: Vielfalt jenseits des Offensichtlichen 


In Unternehmen wird Diversität häufig auf kulturelle Herkunft, Geschlecht oder Alter  reduziert. Doch wahre Vielfalt ist psychologisch: sie zeigt sich in Denkstilen,  Kommunikationsmustern und der Art, Entscheidungen zu treffen. Diese «psychologische  Diversität» ist eine Grundvoraussetzung für Innovation, weil sie unterschiedliche  Perspektiven verbindet. 

Ein Team, das aus verschiedenen Energie- und Wahrnehmungstypen besteht, erkennt Risiken  früher, trifft nachhaltigere Entscheidungen und fördert ein tieferes Verständnis füreinander.  Es geht nicht darum, alle gleich zu machen, sondern ihre Unterschiede produktiv zu machen. 

Schubladendenken: die Illusion der Vereinfachung 


Psychologisch betrachtet neigen Menschen dazu, andere in Kategorien einzuordnen. Dieses  Schubladendenken, gestützt durch den Halo-Effekt, dient der kognitiven Effizienz – es hilft  uns, die Welt schneller zu verarbeiten. Doch in modernen Organisationen wird es zum  Hindernis. 

Wenn Stille mit Unsicherheit verwechselt wird oder Zurückhaltung mit Schwäche, bleiben  Potenziale ungenutzt. Führungskräfte müssen lernen, über diese kognitiven Abkürzungen  hinauszudenken und differenzierter wahrzunehmen. Zuhören ist dabei ein machtvolles  Instrument, denn es schafft Vertrauen, Respekt und psychologische Sicherheit.

Die stille Stärke: ein unterschätzter Erfolgsfaktor 


Leise Leistungsträger bringen oft Eigenschaften mit, die in komplexen Arbeitsumfeldern  entscheidend sind: Empathie, Geduld, analytische Präzision und die Fähigkeit, langfristig zu  denken. Sie sind die stabilisierenden Kräfte in Teams, die das Gleichgewicht halten, wenn  andere laut werden. 

Ambivertierte, also Menschen, die sowohl introvertierte als auch extravertierte Eigenschaften  vereinen, übernehmen häufig vermittelnde Rollen. Sie erkennen Spannungen früh und können  kommunikative Brücken schlagen, eine Fähigkeit, die für Führung unverzichtbar ist. 

In einer Coaching-Sitzung mit einem zurückhaltenden Teammitglied zeigte sich, dass er  jahrelang kaum Gehör fand, obwohl er wertvolle Ideen hatte. Erst durch gezielte Moderation,  Einzelgespräche und klare Strukturen entstand Raum für seine Stimme – und das gesamte  Team profitierte. 

Führung zwischen Klang und Stille 


Führung heisst, den Klang eines Teams zu verstehen. Nicht jede Stimme muss gleich laut sein,  aber jede verdient Gehör. Führungskräfte sollten Redeanteile beobachten, Einzelgespräche  fördern und Gruppendynamiken aktiv gestalten.
Mut, Offenheit und Geduld sind  entscheidend, um eine Kultur zu schaffen, in der sowohl die Lauten als auch die Leisen Raum  finden. 

Wer psychologische Diversität fördert, investiert nicht nur in Fairness, sondern in nachhaltige  Leistung. Ein reflektiertes Miteinander schafft Vertrauen und Vertrauen schafft Produktivität. 

Stärke liegt in der Balance 

Wahre Stärke liegt nicht in Lautstärke, sondern in Wirkung.
Unternehmen, die lernen  zuzuhören, gewinnen. Sie erkennen, dass Potenzial nicht immer laut auftritt, sondern oft still,  überlegt und beständig. 

Die Frage ist nicht, wer am lautesten spricht, sondern wer das Team wirklich  weiterbringt.
Wann hast du zuletzt bewusst dem Leisen zugehört? 
 

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Niclas Steiner ist HR-Berater und Coach sowie Freelancer bei bruederlinpartner. Zudem ist er selbstständiger Karriereberater.

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