Porträt

Was Extrem-Skialpin mit Leadership gemein hat …

Rémy Lecluse begann seine Karriere auf einem Skihang für Kinder. Der bekannte Extrem-Skialpinist meistert seit 16 Jahren Hänge von bis zu 60 Grad Steigung und hasst nichts mehr als Risiken, wie er von sich sagt. Macht Sinn: Würde er anders denken, wäre er wohl nicht mehr am Leben. Was treibt den 44-jährigen Franzosen, der vom Kletter-Guiding und Bergführen lebt, diese Gratwanderung im Privatleben ständig neu zu gehen?

Durchschnittsbürger halten Rémy Lecluse wahrscheinlich für verrückt: Er ging mit 
dem Neffen des ehemaligen Königs von Saudi-Arabien in der Wüste nah an der Grenze zum Jemen auf eine Klettertour. Und das nicht etwa im Winter, wenn die Temperaturen für Körperarbeit erträglicher sind, er machte diese sechs Wochen lange Tour im Juli/August, weil es der Neffe – sprich der Kunde – so wollte. Temperatur im Schatten: 45 Grad. Auf die Frage, ob das nicht zu heiss sei, antwortet der gebürtige Pariser Stadtmensch spröde: «Man gewöhnt sich dran. Zu Beginn der Tour trug ich noch Shorts, weil ich etwas für meinen Teint tun wollte, dann wechselte ich zu langen Hosen und Hemden mit Ärmeln.» Mehr hat Rémy bei dem Interviewgespräch zu dieser Geschichte nicht hinzuzufügen. Für ihn war es nur eine der vielen Touren, die er als erfahrener Bergsteiger leitete.

Monate ohne eine Menschenseele

Aber sogar für seine eigenen Standards weniger gewöhnlich gestaltete sich eine Bergbesteigung in Peru. Er hatte sich im Mai 2008 zum Ziel gesetzt, den etwa 6030 Meter hohen Callangate in den Anden mit Extremalpin-Abfahrt zu bezwingen. «Ich möchte in meiner Freizeit Hänge abfahren, die noch nie von einem Menschen befahren wurden. Das ist das Schönste für mich. Der Callangate ist sogar so unbekannt, dass seine Höhe nur auf einer Schätzung beruht. Auf der Karte ist eine falsche Höhe eingetragen», proklamiert der klein gewachsene Franzose stolz.

Was ihn dorthin treibt, ist jedoch nicht nur die Lust, als Erster Skispuren zu hinterlassen. Es geht ihm ebenso um die Ruhe und den kompletten Einklang mit der Natur. Dort kann er zwei Monate verbringen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Und wenn er doch auf Menschen stösst, dann leben die in abgeschiedenen Tälern. «Ihr Leben ist fast wie unseres vor 1000 Jahren – ohne Elektrizität oder Warmwasser. Sie haben höchstens ein Radio und Taschenlampen», erzählt Rémy. «Worin sie sich aber wirklich unterscheiden, ist ihre Warmherzigkeit. Es berührt mich sehr, mit diesen glücklichen Gesichtern empfangen zu werden. Es fällt in dem Moment auf, dass Menschen dies in unseren Breitengraden verlernt haben.» Ausserdem erzählt Rémy weiter, dass die Leute in diesen abgeschiedenen Gegenden nichts von Gästen erwarten, sie seien einfach nur freundlich – tief menschlich.

Risikoscheuer Feigling?

Eine andere Faszination hat Lecluse auch für die Tatsache entwickelt, dass die Einwohner der Anden es schaffen, Kartoffeln so zu lagern, dass sie nach 15 Jahren immer noch essbar sind. «Menschen reden immer von ihren Abenteuern, die sie so erleben. Für mich sind nur dort Abenteuer möglich, wo ich keine Helikopter über mir in den Gebirgen höre wie bei mir zu Hause in Chamonix.» Und schon schweift er ab in die Welt seines Jobs: «Wir im Westen jammern ja schon, wenn wir 20 kg auf dem Rücken tragen müssen. Wir haben vollkommen vergessen, wie wir damals lebten», beklagt er und erzählt von einer Gruppe 25-Jähriger, denen zwei Stunden Wandern mit Gepäck bereits zu viel sind. «Ich lebte früher mal in Annecy. Heute ist das eine versnobte Stadt. Aber vor gar nicht so langer Zeit haben die Grosseltern dieser Snobs Kühe gemolken und sonst gar nichts. Das haben diese Enkel aber vergessen.» Es sei einfach, die Wurzeln zu vergessen, sagt Rémy. Sein Grossvater lebte beispielsweise ohne fliessendes Wasser. Was er den 25-jährigen Kunden sagen würde, wenn sie nach zwei Stunden schon aufgeben möchten? «Ich sage nichts.» Er sei nicht da, um sie zu erziehen, meint er trocken, ohne Resignation oder Ärger im Bauch, realistisch.

Lecluse ist nicht nur ein Realist, sondern vor allem auch Naturalist: «Meine Motivation, meine Art zu leben, nährt sich aus frischem Schnee, genau wie die Lebensart eines Journalisten vom Umgang mit Worten geprägt ist», sagt er. Aber wieso müssen es in der Freizeit unbedingt Hänge von 60 Grad sein – unabhängig davon, dass sie mit frischen, unberührten Schnee bedeckt sind? «50 bis 60 Grad Alpinskiing ist ungefähr so gefährlich wie eine Autofahrt von Chamonix nach Zürich», meint Lecluse und fügt noch hinzu, dass er eigentlich ein Feigling sei, weil er Risiken scheut. Denn: Es geht vornehmlich um das hundertprozentige Beherrschen der Technik. Sobald er jedoch spürt, dass irgendetwas nicht stimmt, dass es ein minimales Risiko gibt, bricht er das Abenteuer ab.

Auch wenn es zunächst nicht den Anschein hat, Extremalpinisten sind wie Lecluse eher prozessorientierte Menschen, denen das Ziel primär egal ist. «Ich suche mir meine Hänge nach ihrer Schönheit aus, um sie zu geniessen. Und ich habe jahrelang geübt, 
um sie mit diesen Neigungen problemlos befahren zu können.» Sein enorm zähes Durchhaltevermögen unterdrückt er bei diesen 
Bemerkungen nicht. Er antwortet zudem recht bescheiden auf die gar nicht so hypothetische Frage, was er sagen würde, wenn ihm jemand vorschlägt, ihn ins Guinnessbuch der Rekorde aufzunehmen: «Das würde mich deprimieren, weil in diesem Buch so viele Leute gelistet sind, die so viel Blödsinn gemacht haben, wie etwa Tonnen von Sushi zu essen. Ich will nicht mit solchen Aktivitäten des Grössenwahns in Verbindung gebracht werden», sagt Lecluse trocken, mit Bodenhaftung.

Verantwortung für ehrgeizige Kunden

Durchhaltevermögen, Bescheidenheit, realistische Selbsteinschätzung, Bodenhaftung  – Eigenschaften, die an gute Führungspersonen erinnern. Ob er je überlegt hätte, in einem Unternehmen zu arbeiten? Niemals, antwortet er. Er könnte nicht jeden Morgen zur gleichen Zeit mit der gleichen Route an den gleichen Ort gehen. Auch wenn er täglich zum Mont Blanc geht, er ist immer an einem anderen Ort. «Nach nur wenigen Wochen würde ich ja gar nicht mehr wissen, was ich überhaupt tue. Das wäre für mich vollkommen ausgeschlossen. In meinen Leben funktioniert nichts mit Autopilot», bemerkt er – mit bewusster Selbstbestimmtheit und Feuer im Herzen. Lecluse lebt bewusst, nicht nur in Zeiten, wo er es sich leisten kann. Der Extremsportler nimmt jedes Detail in jedem Moment wahr. Sobald sein Gegenüber gerade selber eine leichte Irritation wegen der wandernden Sonne während des Interviews verspürt, zieht Rémy bereits den Tisch weiter in den Schatten. Ohne die blitzschnelle Beobachtungsgabe wäre er weder noch am Leben, noch wäre er ein guter Tourguide.

«Wenn ich eine Gruppe leite, sehe ich sehr schnell, wer für den Extremalpinsport geeignet ist und wer nicht», so Lecluse. «Ich bin grundsätzlich sehr vorsichtig mit Menschen, die alles tun, um Ruhm zu erlangen. Die riskieren ihr Leben.» Während Rémy in seiner Freizeit für sein Leben allein verantwortlich ist, trägt er in seinem Job für übermütige, überehrgeizige Kunden zusätzliche Verantwortung. «Ich musste bereits mehrmals Kunden abraten, bestimmte Hänge zu fahren, weil sie ehrgeiziger erschienen im Verhältnis zu ihrer Erfahrung. Ich nehme dann lieber die Enttäuschung dieser Kunden in Kauf, als dass ich sie ihr Leben riskieren lasse. Wenn ich hingegen spüre, dass jemand fähig ist, einen steilen Hang zu fahren, aber dabei nicht den Ruhm, sondern den Spassaspekt sieht, dann ermutige ich diese Menschen, es zu tun», erklärt Lecluse. Er hätte bereits verärgerte Chefs erlebt, denen er Wünsche verweigerte, aber es sei ihm egal: «Wer für die eigenen Risiken kein Verständnis zeigt, sollte nicht mit mir in die Berge gehen», äussert er mit felsenfester Überzeugung und betont, wie wichtig die Entwicklung von Fähigkeiten sei, die man nur über 10 bis 15 Jahre aufbauen kann.

Er selber brauchte zehn Jahre, um wirklich gut und sicher Alpin zu fahren, wie er sagt. Eine seiner lebenswichtigen Kernkompetenzen sei auch, den Kunden zuzuhören und sie genau zu beobachten. Bei Touren fokussiert er zu 80 Prozent auf die Arbeit seiner Kunden und zu 20 Prozent auf seine eigene. Er könne die Hälfte aller Turns seiner Kunden memorisieren, sagt Lecluse. Nur so könne er deren Fortschritte überhaupt erkennen. Ein äusserst vorbildlicher Zugang, den sich Personalentwickler oder Talent Manager vom Extremalpinisten abschauen können.

Ob er schon wisse, wann er mit Extremskilauf aufhören würde, fragen wir ihn. «Sobald ich mich nicht wohl fühle,  steil abzufahren», ist die Antwort. Das könne mit 60 Jahren sein, vielleicht auch früher, vielleicht auch später. Ihm geht es um die realistische Einschätzung, von Moment zu Moment. Lecluse hat Projekte im Kopf, die er in den nächsten zehn Jahren durchziehen will, bei allen geht es um die Entdeckung neuer Abhänge, die noch nie ein Mensch zuvor befahren hat.

Auf eigene Faust muss er das aber nicht immer tun. Er sei auch gern in Teams unterwegs. Die müssten jedoch sauber abgestimmt sein, denn es ginge um Extremsituationen, in denen man nicht nur füreinander verantwortlich ist, sondern auch Spass miteinander haben muss, wie er betont. Wenn er das Gefühl hat, mit jemandem nicht länger als zwei Wochen allein unterwegs sein zu können, dann verzichtet er auf die Kooperation. Bei diesem Statement fällt ihm eine Geschichte ein, die seine persönliche, gnadenlose Rigorosität unterstreicht.

«Ich war mit Glen Plake, einem amerikanischen Extremsportler, auf Bergtour in Peru. Dabei war auch ein Profi-Kameramann mit grosser Erfahrung, den Glen für seine TV-Sportshow mitbrachte. Es war also einerseits Arbeit, denn diese Tour sollte voll gedreht werden, und andererseits Spass. Das Problem war aber, dass der Kameramann nicht aufhörte, sich über diverse Dinge zu beschweren. Es ging so weit, dass Glen und ich ihn wieder nach unten schickten und ich dann selber filmte, weil der Kameraprofi die Atmosphäre vergiftete. Wer keinen Spass bei der Arbeit hat, liefert schlechte Arbeit ab. Das wollten wir beide nicht riskieren und sparten dabei auch noch 6000 US-Dollar. Den Entschluss fassten wir beide zusammen und wir hatten keine Zweifel an der Entscheidung, weder in jenem Moment noch später.»

Berufsstolz

Entschlusskraft, ebenfalls eine Leadership-
Tugend, liegt ihm im Blut. Als Nicht-
Extremsportler fragt sich der geneigte Leser, ob Lecluse jemals in Situationen war, wo er oben auf einem 5000-Meter-Gipfel stand und dann bemerkte, dass er sich vielleicht doch umentscheiden sollte. Dazu Lecluse: «In den vergangenen zehn Jahren war ich zwei Mal in so einer Situation. Da fuhr ich dann die einfache Route runter, aber das passierte nie 
in den letzten fünf Jahren. Nach 16 Jahren 
Erfahrung im Extremskiing weiss ich schon vor dem Aufstieg, ob das gut kommt oder nicht.» Endlich schimmern bei Rémy Lecluse der Berufsstolz und der eigene Ehrgeiz durch. So schnell gibt dieser Mann seine Berufung nicht auf. Das wäre nicht im Einklang mit seiner Authentizität.

Rémy Lecluse

wurde am 5. Juni 1964 in Paris geboren. Sein Vater war als Chef de Cabine bei der Air France tätig. Die Fluggesellschaft organisierte Skiferien für seine Mitarbeitenden, bei denen Rémy als 13-Jähriger zum ersten Mal auf Skiern stand. Er erinnert sich noch heute an den ersten Moment: «Es war so einfach und fühlte sich an wie das Normalste der Welt.» Lecluse lebt als Bergführer in Argentière, einem kleinen Ort bei Chamonix am Fuss des Mont Blanc, und bestreitet in regelmässigen Abständen Berge von über 6000 Meter Höhe, wie den Callangate im  peruanischen Andengebirge im Mai dieses Jahres.

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Connie Voigt ist 
Executive Coach bei der Firma «Inside Out» sowie Gründerin der Netzwerkorganisation «Interculturalcenter.com GmbH». Zudem ist sie Dozentin für Organizational Behavior an der Edinburgh Business School, FHNW Basel und FU Berlin.

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