Was wäre, wenn?
Um neue Arbeitswelten zu entwerfen, brauche es eine Menge Autoritätsungläubigkeit und viel Selbstreflektion, enthüllt die Zukunftsforscherin Senem Wicki im Gespräch.
«Viele Menschen wünschen sich heute eine Selbständigkeit oder Teilselbständigkeit. Dafür müssen Arbeitgeber neue Modelle entwickeln.» Senem Wicki, Inhaberin, Kühne Wicki Future Stuff. (Foto: zVg)
Sie sind Trendforscherin und scheinen eine Vorliebe für Büroeinrichtungen zu haben. Wie kommen Sie dazu?
Senem Wicki: Wissensarbeiter in der Schweiz verbringen heute 41,7 Stunden pro Woche im Büro. Das sind über drei Stunden weniger als noch vor 30 Jahren, aber immer noch ein Viertel ihrer wöchentlichen Lebenszeit. Deshalb verstehe ich nicht, wie man sich nicht für Büroeinrichtungen interessieren kann.
Was haben Büroräumlichkeiten mit Innovation zu tun?
Wenn wir von einem Menschen möchten, dass er tut, was die Maschine nicht kann, müssen wir ihn als lebendigen Organismus ernst nehmen. In unseren Gehirnen drehen ja bekanntlich keine Rädchen, wir bestehen aus Fleisch und Blut und haben Gefühle, die für den Denkprozess unverzichtbar sind. Es ist also nur logisch, dass unsere Büros so gestaltet sein sollten, dass der Körper darin optimale Bedingungen vorfindet: gutes Licht, gesunde Luft sowie die richtige Temperatur und Materialität. Je nachdem, welche Aufgabe wir leisten, brauchen wir Inspiration, Austausch oder die Möglichkeit, uns im stillen Kämmerlein zu konzentrieren.
Zudem bedingen Unternehmensinnovationen das Verlassen der Komfortzone und damit ein Klima der Offenheit, Freiheit, ja manchmal sogar des Spasses. Büroeinrichtungen und gute Arbeitsplatzkonzepte schaffen den Rahmen für die menschliche Innovationsfähigkeit und tragen damit zum Unternehmenserfolg bei.
Brauchen wir in Zukunft überhaupt noch Büros, wo wir doch alle digital arbeiten und miteinander vernetzt sind und keine Chefs mehr haben?
Gerade weil wir digital unterwegs sind und dabei zuweilen unsere Filterblase nicht mehr verlassen, können physische Orte wichtige Impulse setzen. Ein Büro kann die Identifikation eines Unternehmens stärken und uns daran erinnern, warum wir etwas tun. Zudem schafft es einen Raum, wo sich Menschen über das Organisatorische hinaus miteinander austauschen und verbinden können.
Alle diese Faktoren werden wichtiger, denn viele fühlen sich trotz weitreichender virtueller Vernetzung in unserer Gesellschaft zunehmend auf sich allein gestellt. Ein physischer, organisationsspezifischer Ort kann – auch wenn man ihn nur unregelmässig aufsucht – sinnstiftend, motivierend und kommunikationsfördernd wirken.
«Vermessene Landschaften langweilen mich», sagten Sie kürzlich in einem Interview. Also alles, was bereits zu Tode geredet worden ist. Inwiefern trifft das auf das Thema «Neue Arbeitswelten» zu?
Sie sprechen ein persönliches Dilemma an, das wahrscheinlich andere Vertreterinnen und Vertreter meiner Disziplin auch kennen. Aus der Theorie der Zukunftsforschung wissen wir, dass ein Trend erst dann wirtschaftlich relevant ist, wenn er die breite Masse erreicht hat und damit sozusagen gut durchgekaut ist. Wenn ein Trend im breiten Markt ankommt, interessiert mich oft schon längst die nächste, unbeantwortete Fragestellung.
Auch in Bezug auf die «neuen Arbeitswelten» stimmt das: Obwohl wir Themenexpertinnen und -experten gewisse Begriffe nicht mehr hören können, gibt es auf Ebene der Umsetzung und Organisationsentwicklung immer noch viel zu tun. Wir fahren in unserem Büro für Zukunftsforschung darum oft zweigleisig: Zum einen beschäftigt uns schon das Übermorgen, aber es ist das Heute und Morgen, das uns in Beratungsprozessen umtreibt.
Welches Klischee über die neuen Arbeitswelten können Sie nicht mehr hören?
Ich kann zum Beispiel nicht mehr hören, wenn das Fehlermachen als Schlüssel zu mehr Innovation gepriesen wird. Entscheidend ist nämlich nicht das Fehlermachen an sich, sondern die bewusste Reflektion danach. Das wird meiner Meinung nach im Arbeitsalltag zu wenig und zu wenig systematisch betrieben.
Ein Blick in die Kristallkugel: Wie wird sich die Arbeitswelt in den nächsten fünf bis zehn Jahren entwickeln?
Die Gleichförmigkeit unserer Arbeitsalltage wird weiter abnehmen: Zeit, Ort und Arbeitsverhältnis werden noch passgenauer auf Aufgaben zugeschnitten. Viele Menschen wünschen sich heute eine Selbständigkeit oder Teilselbständigkeit. Dafür müssen Arbeitgeber neue Modelle entwickeln. Der Drang nach Selbstverwirklichung wird weiter zunehmen, auch wenn sich das finanziell nicht immer direkt auszahlt. Weil wir uns so stark über die Arbeit identifizieren, werden die Burn-out-Raten weiter steigen.
Ausserdem werden wir uns in den nächsten fünf bis zehn Jahren mit der Automatisierung anfreunden müssen. Bisher wurde sie uns ja oft als Konkurrenz verkauft. Wir beginnen aber zu erkennen, dass dem nicht so ist, und werden intelligente Systeme künftig besser einsetzen. Ich freue mich zum Beispiel auf den Moment, wenn mein Computer die Dateien auf dem Desktop automatisch sinnvoll ordnet und Artikel, die ich vor Jahren irgendwo abgespeichert habe, mit besseren Suchsystemen endlich wieder auffindbar werden.
Noch unklar ist, ob wir im Zuge des Kennenlernens der Maschine unser Selbstbewusstsein als menschliche Arbeitskraft stärken oder ob wir weiter erfolglos versuchen, Maschinen zu imitieren. Gewisse Dinge werden beispielsweise eher besser, wenn sie langsam und mit Bedacht erarbeitet werden – wie Bücher schreiben. Wir sollten dabei nicht wie das Kaninchen vor der Maschinen-Schlange stehen, sondern einmal tief durchatmen, unseren menschlichen Stärken vertrauen und uns systematisch weiter ausbilden.
Wie spüren Sie Trends zur neuen Arbeitswelt auf, bevor sie zum Mainstream werden?
Wir lesen in unserem Büro für Zukunftsforschung sehr viel, scannen laufend internationale Medien und Studienergebnisse oder tauschen uns an Konferenzen aus. Dank Internet kann man in kurzer Zeit zu sehr viel Wissen gelangen, wenn man weiss, wo danach zu suchen ist. Meine Geschäftspartnerin und ich tauschen uns täglich darüber aus. Weil sie sehr gebildet ist, gleichzeitig aber viele Dinge ganz anders sieht als ich, entstehen aus dieser Auseinandersetzung oft neue Erkenntnisse.
Gleichzeitig kommen wir nicht um das eigene, unvoreingenommene Beobachten und Interpretieren der realen Welt herum. Sich bewusst ausserhalb des gewohnten Kontexts zu bewegen, ist dabei essenziell, weil die Sinne scharf eingestellt sind und Muster besser erkennbar werden. Hinzu kommt, dass ich immer wieder an unterschiedlichen Hochschulen doziere oder ausgewählte Mentorings übernehme. Dabei komme ich mit Menschen in Kontakt, die sich mit neuen, spannenden Fragen beschäftigen. Die Auseinandersetzung mit ihnen ist sehr wertvoll.
Braucht man für die Trendforschung ein besonderes Talent?
Malcolm Gladwell hat in seinem Buch «Outliers» von 10 000 Übungsstunden gesprochen, die es nebst Talent für den Erfolg braucht. In der Trend- und Zukunftsforschung scheinen mir zwei weitere Faktoren zentral: Autoritätsungläubigkeit und die Fähigkeit zur Selbstreflektion. Als Zukunftsforscherin stellt man immer das Bestehende in Frage. Was wäre, wenn die Dinge anders wären, als sie heute sind? Je weniger bestehende Autoritäten oder innere Ideologien das Spektrum dessen begrenzen, was vorstellbar ist, desto grösser wird der Möglichkeitsraum. Gleichzeitig benötigen wir eine gute Portion kritische Selbstreflektion, um zu erkennen, wo eigene Vorurteile den Blick trüben und welche Zukunftsversion unter allen möglichen die wünschbare sein könnte.
Lassen sich heute überhaupt noch Prognosen machen? Die nächste digitale Erfindung könnte ja gleich um die Ecke lauern ...
Tatsächlich wird es immer schwieriger, eine Prognose zu stellen, weil sich technologische und wirtschaftliche Entwicklungszyklen laufend verkürzen. Was gestern noch gestimmt hat, kann morgen wieder in Frage gestellt sein. Genau deshalb sollten wir unsere Zeit in die Beantwortung der Frage investieren, welche Zukunft wir als Unternehmen, Team oder einzelne Person anstreben, und alle Energien darauf ausrichten, ein Zukunftsbild zu entwerfen, das motiviert, konkrete Schritte in die entsprechende Richtung zu unternehmen.
Das mag aus Sicht einer Zukunftsforscherin überraschend klingen, aber ich fühle mich in der Prophetenrolle oft nicht ganz wohl. Lieber zeige ich meinen Kunden Szenarien auf und führe sie in ihrem Prozess zum eigenen, ambitionierten Zukunftsbild – einer wünschbaren Zukunft.
Zur Person
Senem Wicki ist als Innovationsexpertin für unterschiedliche Think Tanks, Unternehmen und öffentliche Institutionen tätig. Sie ist Mitinhaberin von Kühne Wicki Future Stuff, Verwaltungsrätin bei Schoch Werkhaus, im Vorstand von Swissfuture, der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung, und im Beirat vom Zentrum Karl der Grosse in Zürich. Als Mitgründerin hat sie Mind in Meditation, ein zeitgenössisches Meditationsstudio zum Training von Emotionaler Intelligenz für Individuen und Corporates, ins Leben gerufen.