Lernen im Unternehmen

«Wer sich nicht weiterbildet, bringt 
sich um Ansprüche und Leistungen»

In der Schweiz bilden sich über 80 Prozent der Beschäftigten einmal pro Jahr weiter. Und der Druck dazu nimmt weiter 
zu, sagt Philipp Gonon, Professor für Berufsbildung an der Universität Zürich. Dies verändert die Anforderungen an Weiter
bildungen. Gerade KMU fehlen häufig die Ressourcen und sie verlangen dementsprechend ein individuelles Angebot.

Herr Professor Gonon, wie steht es um die berufliche Weiterbildung in der Schweiz?

Philipp Gonon: 83 Prozent* der Beschäftigten machen mindestens einmal pro Jahr eine Weiterbildung, sei es formaler, non-formaler oder informeller Art. Das ist ganz ansehnlich. Manche haben es jedoch schwer, eine adäquate Weiterbildungsmöglichkeit zu finden. Wenn wir unseren Untersuchungen glauben, würden manche in puncto Weiterbildung sogar gerne mehr tun.

Was müsste sich denn verändern?

Ich kann mir vorstellen, dass eine neue Weiterbildungsgesetzgebung, wie sie im Moment in der Schweiz diskutiert wird, sicher hilfreich sein könnte (siehe auch Seite 35). Damit könnten gerade kleineren Betrieben Anreize geschaffen und der Zugang zu Weiterbildungsangeboten ermöglicht werden.

Was bedeutet denn berufliche Weiterbildung genau?

Berufliche Weiterbildung heisst heute «berufsorientierte Weiterbildung». Diese meint individuelle Bildungsbemühungen nach dem Eintritt in den Arbeitsmarkt aus beruflichen Gründen in einem besonderen, institutionellen Rahmen. Soweit die offizielle Definition. In der Regel handelt es sich um eher kleinere Angebote und Kurse für den Erwerb zusätzlicher Sprach-, Informatik- oder Managementkenntnisse.

Die bis anhin als Fortbildung bezeichnete höhere Berufsbildung, die Tertiär-B, ist neu auf Hochschulebene angesiedelt. Die Berufsprüfungen und höheren Fachprüfungen 
werden jetzt nicht mehr als Fort- oder Weiterbildung gezählt, sondern sind laut dem Willen des Gesetzgebers auf gleicher Stufe wie der Hochschulbereich.

Welche Konsequenzen hat diese neue Klassifizierung?

Die höhere Berufsbildung wurde sehr aufgewertet, indem man sie als hochschulbezogen definiert. In der Schweiz hat somit jemand, der eine Meisterprüfung absolviert, einen hochschuladäquaten Abschluss. Das unterscheidet sich beispielsweise von Deutschland und Österreich. Dort gilt die Meisterprüfung als Weiterbildung. Die Tertiär-B-Bildung wird zurzeit gefördert, was jedoch wieder andere Fragen aufwirft. Die der Subventionen beispielsweise oder dass einige andere Weiterbildungen weniger wichtig zu werden scheinen.

Welche Rolle spielt die berufliche Weiterbildung auf individueller und auf gesellschaftlicher Ebene?

Der allgemeine Standpunkt heute ist: Weiterbildung ist Pflicht. Wer keine Weiterbildung absolviert, bringt sich um Ansprüche und Leistungen. Sich weiterzubilden, ist auch ein Signal an den Arbeitgeber. Es gilt die Haltung des lebenslangen Lernens. Das bedeutet, dass man immer wieder seine Beschäftigungsfähigkeit überprüfen und erhöhen muss. Jeder Einzelne steht hier unter einem recht starken Druck.

Man sollte grundsätzlich also unterscheiden zwischen persönlicher und betrieblicher Weiterbildung?

Ja, man kann durchaus den Anspruch an eine Weiterbildung an den Arbeitgeber herantragen, es muss nicht immer so sein, dass der Arbeitgeber die Weiterbildung diktiert oder sogar Druck ausübt.

Welche Kriterien muss betriebliche Weiterbildung erfüllen?

Betriebliche Weiterbildung muss sich in das Arbeitsumfeld einpassen und sie muss möglichst flexibel sein. Im traditionellen Sinne wird Weiterbildung mit Kursbesuchen assoziiert.

In den letzten Jahren haben aber auch informelle Lernformen stärkeres Gewicht bekommen. Anbieter kommen in die Betriebe, um Theorie und Praxis möglichst nah zusammenzubringen. Eine solche Weiterbildung orientiert sich stark an den Voraussetzungen und Bedürfnissen der Unternehmen. Wer bei der Weiterbildung unternehmerische Ziele im Blick hat, ist sicher besser aufgestellt als Betriebe, die alles dem Zufall überlassen und die Weiterbildung unsystematisch angehen.

Wie kann man sicherstellen, dass das Erlernte in der Praxis auch den gewünschten Erfolg bringt?

Ob die Ausgaben sich rentieren, lässt sich nicht wirklich messen. Mir sind im Bildungscontrolling keine überzeugenden Methoden bekannt. Es ist mehr so «Handgelenk mal Pi». Ob die Leistung nach einer Weiterbildung 
gesteigert werden konnte, ist in manchen Tätigkeiten einfacher messbar als in anderen (siehe auch Seite 26). Ein wichtiger Aspekt ist, Loyalität zum Betrieb herzustellen. Mitarbeiter, die regelmässig gefördert werden, sind in der Regel zufriedener, was sich wieder auf das Klima auswirkt. Wirklich messen lässt sich das nicht. Indirekt hat sich die Weiterbildung auf jeden Fall gelohnt. Eine Evaluation findet selten statt. Es ist auch von der Unternehmenskultur abhängig, ob auch mal einer fragt: Was haben Sie denn da gelernt? Bei formellen Abschlüssen ist das wohl anders, da bringt man ein Zertifikat mit. Das ist vielleicht auch der Grund, warum die Tertiär-B-Ausbildung so gepusht wird.

Welche Faktoren werden die betriebliche Weiterbildung in Zukunft bestimmen?

Die Demografie ist sicher ein wichtiger Faktor, der in Zukunft auch die Weiterbildung bestimmt. Viele Firmen kommen vom Jugendwahn ab. Wenn man keine jungen Fachkräfte bekommt, liegt es nahe, die Leute, die bereits im Unternehmen sind, weiterzubilden. Das lohnt sich unter Umständen mehr, als sie zu entlassen und nach neuen Mitarbeitern zu suchen.

Auch der zunehmende Leistungsdruck gekoppelt mit Einsparungen ist ein wichtiger Faktor. Hier sehen sich die Unternehmen auch oft in einem Dilemma. Aus Kostengründen fördern sie die Weiterbildung eher in wirtschaftlich entspannten Zeiten, in kritischen Situationen ist die Weiterbildung das Erste, was unter den Tisch fällt. Aus rein ökonomischer Logik wäre es eigentlich andersherum besser.

Welche Lernformen werden sich verstärkt etablieren und warum?

E-Learning ist erstaunlich wenig verwurzelt, da wird wohl mehr laufen müssen in den nächsten Jahren. Das informelle Lernen, also Lernformen, die nicht so stark auf Kursstrukturen aufbauen, werden sich stärker etablieren. Auch Angebote direkt im Betrieb und der Austausch mit anderen in ähnlichen Situa
tionen werden ein stärkeres Gewicht bekommen zulasten längerer Kursbesuche.

Hat der Qualifizierungsdruck in den Unternehmen in den vergangenen Jahren zugenommen?

Das würde ich nicht generell sagen. Die Situation ist stabil. Hingegen ändert sich, dass man unterschiedliche Lernformen oder auch Kombinationen zulässt. Grössere Unternehmen hatten immer schon ein differenziertes Weiterbildungsangebot bis hin zu betriebsinternen Akademien.

Im Übrigen gibt es auch das Gegenteil, dass Unternehmen Weiterbildung komplett in Lernzentren auslagern.

Worin unterscheidet sich Qualifikation von Kompetenzentwicklung?

Was früher Qualifikation hiess, ist heute Kompetenz. Darin fliessen nicht nur fachliche Qualifikationen, sondern auch personale und soziale Kompetenzen ein.

Welches Gewicht haben die Soft Skills bei Qualifizierungsmassnahmen?

Nach unseren Untersuchungen und Gesprächen mit HR-Verantwortlichen bekommen sie ein immer stärkeres Gewicht. Es ist nicht so, dass das Fachliche keine Rolle mehr spielt. Es geht aber um die Frage: Kann ein Informatiker sich mit anderen kommunikativ oder sozial austauschen? Wenn nicht, ist dies ein gravierender Hinderungsgrund.

Was sagt die Weiterbildung über die Persönlichkeitsentwicklung aus?

Wir haben Rekrutierungsverantwortliche grösserer Betriebe gefragt. Im Ergebnis waren für sie eher Mitarbeiter interessant, die nicht eine so gradlinige Vita haben, sondern die sich auf verschiedene Dinge eingelassen haben. Das lässt auf eine vielseitige Persönlichkeit schliessen. Diese Dinge müssen gar nicht mal so formal daherkommen oder zwingend mit der eigentlichen fachlichen Qualifikation zu tun haben. Wer einmal in Lateinamerika in einem Hilfswerk gearbeitet hat oder Ballettkurse besucht hat, fällt im Rekrutierungsprozess schon positiv auf.

Welche besonderen Anforderungen an Weiterbildungen stellen KMU?

Wir haben vor einigen Jahren in KMU eine Untersuchung gemacht und festgestellt, dass Weiterbildung ein Thema ist, aber entsprechende Ressourcen fehlen. Sie finden nicht sofort die richtigen Leute, welche die richtige Weiterbildung vermitteln können. Und sie haben auch nicht den direkten Zugang, die Leute an die richtigen Weiterbildungsstellen zu bringen. Für KMU ist der Berufsverband das wichtigste Gegenüber. Weiterbildung muss für sie unkompliziert, knapp, nicht zeitaufwändig und individuell auf sie zugeschnitten sein. Die Bildungsprozesse sind allgemein in KMU weniger formalisiert. Viele KMU sind Familienbetriebe und das Lernen beruht sehr stark auf persönlichem und direktem Austausch.

Kann man das als lernendes Unternehmen bezeichnen?

Ein lernendes Unternehmen ist eines, in dem die Individuen lernen, aber auch das Unternehmen als Gesamtes lernt. Nur ein lernendes Unternehmen kann sich neuen Marktgegebenheiten schnell anpassen. Und nur in einer bestimmten Lern- und Feedbackkultur gibt es Spielräume, Innovationen anzuregen oder einzuführen.

Kommen solche Unternehmen besser durch schlechte Zeiten?

Um Fehlschlüsse zu vermeiden: Ich bin mir nicht sicher, ob dies eine solche Korrelation ergibt. Es gibt auch nicht lernende Unternehmen, die sehr erfolgreich sind.

Sind die Rahmenbedingungen für Weiterbildung in der Schweiz günstig oder verbesserungswürdig?

Weiterbildungsanbieter könnten offensiver gegenüber Betrieben auftreten und ihre Angebote der Situation der Betriebe besser anpassen.

Wer ist heutzutage mehr gefragt, der Spezialist oder der Generalist?

Ein generalistischer Spezialist, paradoxerweise. Spezialistentum verknüpft mit Vielseitigkeit. Bei Betrieben, die sich als innovativ verstehen, geht es wohl in diese Richtung.

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Quelle: Bundesamt für Statistik, Schweizerische Arbeitskräfte Erhebung (SAKE), 2006

Prof. Dr. Philipp Gonon

ist seit 2004 Professor für Berufsbildung an der Universität Zürich. Zuvor war er an der Universität Trier, seit 1998 zunächst Lehrstuhlvertreter, dann ab 1999 Inhaber der Professur für berufliche und betriebliche Weiterbildung. Nach der Matura 1974 in Einsiedeln absolvierte er ein Jus- und Journalistikstudium, Letzteres mit Diplomabschluss an der Universität Fribourg 1976.

 

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