Arbeitsfähigkeit

Weshalb der Work Ability Index in Schweizer Firmen ungenutzt bleibt

Die Arbeitsfähigkeit ihrer Mitarbeitenden zu erhalten, ist für Schweizer Grossfirmen ein immer wichtigeres Thema. 
Allerdings setzen sie dabei nicht primär auf den internationalen «Work Ability Index», sondern auf eigene Messinstrumente und Prozesse im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung.

Der Trend ist seit Jahren zu beobachten: Immer weniger Arbeitnehmer arbeiten bis zum regulären Rentenalter. Die Ursachen dafür liegen einerseits in den vermehrt flexibleren Pensionierungslösungen, andererseits aber auch darin, dass immer mehr Erwerbstätige aufgrund gesundheitlicher Probleme vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden. Vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen, somatische und psychische Beschwerden haben in den vergangenen Jahren markant zugenommen und sorgen dafür, dass der Arbeitsplatz immer häufiger mit dem vorzeitigen Ruhestand getauscht werden muss, wie es vermehrt in Firmenkreisen beobachtet wird.

Neben persönlichen Schicksalen, die sich hinter den Fällen verstecken, hat diese Entwicklung auch gravierende Folgen für die Unternehmen: Wissen und Erfahrung werden verschwendet oder gehen verloren. Mit dem im Zuge des demografischen Wandels stetig steigenden Anteil der 45- bis 64-jährigen Erwerbstätigen wird sich das Problem weiter verschärfen. Die Arbeitsfähigkeit wird daher auch in grossen Schweizer Firmen zu einem immer wichtigeren Thema, «und zwar vor allem im Zusammenhang mit dem von Versicherungen und Firmen lancierten Case Management», wie Dieter Kissling, Leiter des Instituts für Arbeitsmedizin in Baden, feststellt. «Firmen, die sich fundiert mit dem Thema Gesundheitsförderung auseinandersetzen und in diese investieren, investieren ganz klar auch die Arbeitsfähigkeit ihrer Mitarbeiter.»

Mitarbeitende müssen auch
Schwächen zeigen dürfen

Das tut auch der Schweizer Rückversicherer Swiss Re. Der Konzern verfügt am Hauptsitz über eine lange Tradition darin, leistungsbeeinträchtigten Mitarbeitenden den Arbeitsplatz zu erhalten oder sie in die Arbeitswelt zu integrieren. Vor sieben Jahren wurde diese Tradition offiziell in das «Ability Development Program» (ADP) überführt. Dies mit dem Ziel, Mitarbeitenden sofort die bestmögliche Unterstützung mit Hilfe eines individuell angepassten Entwicklungsplans anzubieten. Laut Helena Trachsel, Head Diversity Management bei der Swiss Re, werden dazu externe Fachleute, beispielsweise Berufsberater, Suva- und IV-Mitarbeitende, Gesellschaftsärzte sowie Psychologen zugezogen. «Falls wir im Unternehmen mit einem Mitarbeiter konfrontiert werden, dessen Verhalten auf eine psychische oder physische Leistungsminderung hindeutet, stehen uns diese Experten innert kürzester Zeit mit Rat und Tat zur Seite.»

Ziel des ADP sei es in erster Linie, den Arbeitsplatz zu erhalten sowie Führungskräfte und das HRM zu unterstützen; in zweiter Linie, dem betroffenen Mitarbeitenden adäquate Aufgaben mit Hilfe der Expertise externer Berater zu ermöglichen. Parallel dazu laufen immer wieder Präsentationen im Rahmen der Sensibilisierung zur Früherkennung. «Denn durch diese», so Trachsel, «ist es wesentlich einfacher, die Arbeitsfähigkeit des betroffenen Mitarbeiters zu erhalten.» Doch damit ist es für die Fachfrau nicht getan. «Unsere Firma muss eine Kultur leben, in der die Mitarbeitenden Schwächen zeigen dürfen und es auch Raum gibt für Personen, die in ihrer Leistung über längere Zeit eingeschränkt sind.» Dazu zählen nicht nur gesundheitlich leistungsbeeinträchtigte Personen, sondern auch ältere Mitarbeitende.

Taten statt Zahlen: Partnerschaft mit sozialen Stellen stärken

Um die Arbeitsfähigkeit ihrer Mitarbeitenden zu messen, greifen Grossunternehmen in zahlreichen europäischen Ländern mehr oder weniger regelmässig auf den Work Ability 
Index (WAI) zurück (siehe Artikel Seite 22 bis 25). Auch Helena Trachsel kennt dieses Instrument, «doch unsere externen Fachleute setzen diesen Index höchstens bei zusätzlichen Untersuchungen ein», erklärt sie. Viel lieber setzt der Rückversicherer auf Taten statt auf Zahlen. So lancierte das Unternehmen vergangenes Jahr in der Schweiz zum ersten Mal einen «Ability Roundtable». Dort treffen sich die Standortgemeinden der Swiss Re (Zürich und Adliswil), die Sozialversicherungsanstalt, die Suva, die IV, Vertreter verschiedenster Unternehmen und andere Stellen, die sich um den Arbeitsplatzerhalt und die Wiedereingliederung von Menschen in den Arbeitsprozess kümmern. Ziel der Treffen, die vorerst jährlich stattfinden, ist es, das Bewusstsein füreinander und die Partnerschaft miteinander zu stärken. «Wir erhoffen uns dadurch, unserem wichtigsten Ziel für den Arbeitsplatz und die Wiedereingliederung einen Schritt näher zu kommen», so Trachsel. Dieses lautet: Auch ein Mitarbeiter mit Einschränkungen soll nicht irgendeinen Job machen, sondern muss an der Stelle beschäftigt sein, die sowohl ihm als auch der Firma am meisten bringt.

Der WAI ist von den Mitarbeitenden leicht zu manipulieren

Der WAI ist auch beim Migros-Genossenschafts-Bund (MGB) kein grosses Thema. Die Workability oder eben Arbeitsfähigkeit aber sehr wohl. «Wir investieren laufend in die Kompetenzen unserer Mitarbeitenden», erklärt Hans-Rudolf Castell, HR-Management-Leiter der Migros. «Dabei geht es darum, dass diese im Sinne unseres Kompetenzmodells fit gemacht werden für die Migros.» Im Zusammenhang mit der Arbeitsfähigkeit setzt das Detailhandelsunternehmen die Schwerpunkte im betrieblichen Gesundheitsmanagement und in der Personalentwicklung. Dabei werden sowohl die individuellen Ressourcen des Arbeitnehmers als auch Arbeitsinhalt und -organisation, der Arbeitsplatz, das soziale Arbeitsumfeld sowie die Führung unter die Lupe genommen. «Der WAI ist für uns kein Thema, weil wir auf dem Gebiet der betrieblichen Gesundheitsförderung und der Personalentwicklung bereits viele Initiativen lanciert und Massnahmen eingeführt haben, die von den Mitarbeitern geschätzt und auch genutzt werden», so HR-Chef Castell.

Auch Arbeitsmediziner Kissling verwendet den WAI relativ selten für seine Kunden. «Er ist ein gutes Instrument für zahlengläubige Menschen». Da er aber von den Patienten relativ leicht zu manipulieren sei, dürfe er keinesfalls als einziges Messinstrument verwendet werden. «Viel wichtiger ist es, die Mitarbeiter auf der psychologischen Ebene zu erreichen.» Dies geschieht aber weder durch ein Instrument noch durch einen Prozess, sondern durch Gespräche und eine Firmenkultur, die Schwächen zulässt. Und diese Kultur hat auch noch einen positiven Nebeneffekt: Sie wirkt sich positiv auf die Arbeitgeberattraktivität aus. «Wer dafür sorgt, dass seine Mitarbeitenden arbeitsfähig bleiben, sorgt auch dafür, dass diese dem Unternehmen 
länger und motivierter erhalten bleiben. 
Und er zieht die besten Leute an», konstatiert 
Dieter Kissling.

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Sandra Escher Clauss ist freie Journalistin.

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