HR Today Nr. 1/2023: Arbeitsmarktstudie von Rundstedt

Widersprüche im Schweizer Arbeitsmarkt

2023 lanciert von Rundstedt mit HR Today eine weitere Arbeitsmarktstudie. Thema dieses Jahr sind die Ungereimtheiten im Schweizer Beschäftigungsmarkt. Damit sollen die Hintergründe verdeutlicht und mögliche Ansätze aufgezeigt werden, wie Unternehmen damit umgehen können.

Märkte funktionieren gewöhnlich nach klaren und vernünftigen Regeln. In der liberalen Schweiz glauben wir im Grundsatz daran, dass Ungleichgewichte nur vorübergehend in Erscheinung treten und ein Markt sich selbst reguliert. Deshalb sind politische Interventionen weitgehend verpönt. Es fällt jedoch auf, dass es im Arbeitsmarkt aktuell mehr Ungereimtheiten als gewöhnlich gibt. Acht Phänomene:

Polarisierung von Gewinnern und Verlierern

Parallelität von Fachkräftemangel und struktureller Arbeitslosigkeit.

Die einen sind heiss begehrt. Die andern finden keinen Job. Auch in Zeiten der Hochkonjunktur, wenn alle nur noch von Fachkräftemangel reden, wenn selbst Auffangbranchen wie die Gastronomie oder die Logistik Rekrutierungsprobleme bekunden, gibt es solide und gut ausgebildete Arbeitskräfte, die auf der Strecke bleiben. Während die einen ihre Verhandlungsmacht vergrössern und dem Arbeitgeber gegenüber ausnutzen, wissen die anderen nicht, wie ihnen geschieht. Employability kann längst nicht mehr auf Branche und Funktionalität beschränkt werden. Es geht darum, auf der richtigen Welle zu reiten und die geeigneten Anforderungen nachzuweisen. Diese ändern sich aber laufend, sind dynamisch und wenig vorhersehbar. Wie gehöre ich zu den Gewinnern? Was mache ich, wenn ich mich plötzlich in der Verlierergruppe wiederfinde?

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Das Produktivitätsdilemma des Fachkräftemangels

Mehr Ansprüche für weniger Commitment – oder wie die Produktivität in der Schweiz flöten geht.

Wer gefragt ist, soll einfordern und sich nicht unter Wert verkaufen. Egal ob es sich um den Lohn, die Flexibilität, Freiheit, Verantwortung oder den Spass handelt: Es wird optimiert. Arbeitseffizienz hat im neuen Arbeitsmarkt eine neue Bedeutung: so viel Ausbeute für so wenig Aufwand und Verpflichtung wie möglich. Ansprüche und Forderungen der Arbeitskräfte nehmen zu, während deren Commitment und Leistungsbereitschaft sinken. Die Arbeitsproduktivität, der Schlüsselfaktor der schweizerischen Wettbewerbsfähigkeit, wird dadurch leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Die Rechnung bezahlen wir irgendwann alle, auch die gefeierten Fachkräfte.

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Keine Lust auf Arbeit und trotzdem Burn-out

Mehr Menschen arbeiten weniger, und wenige Menschen arbeiten mehr.

Immer mehr Menschen wollen nicht mehr Vollzeit arbeiten. Die hohen Reallöhne in der Schweiz ermöglichen es vielen, auch mit einem 60- bis 80-Prozent-Pensum ihre Lebensqualität zu erhalten. Deshalb boomt Teilzeitarbeit. Andere Werte als Arbeit und berufliche Anerkennung gewinnen an Bedeutung. Selbstverwirklichung wird heute viel breiter angesehen als Karriereerfolg. Viele ergänzen ihre Beschäftigung zudem mit Tätigkeiten, die sie mit Lust und Leidenschaft verbinden. Diese Reduktion der produktiven Arbeitsleistung verschärft aber den Fachkräftemangel und erhöht den Druck auf andere Arbeitskräfte. Das führt bei immer mehr Verantwortungsträgern und Schlüsselpersonen zu Überbelastungssituationen. Die Zahl der von Burn-out und Erschöpfungsdepressionen Betroffenen nimmt auch deswegen zu. Das führt zur absurden Situation, dass gleichzeitig eine Über- und Unterbeschäftigung herrscht. Die Selbstverwirklichung einiger Menschen findet somit auf Kosten anderer statt.

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Die Wachstumsspirale ohne Ende

Wachstum fördert Fachkräftemangel fördert Arbeitsimmigration fördert Wachstum und so weiter.

Die Schweiz wächst und wächst. Dabei stellt sich immer mehr die Frage, inwieweit die quantitative Vermehrung tatsächlich qualitatives Wachstum bedeutet. Das gleiche Gedankenspiel gibt es auch auf dem Arbeitsmarkt. Das Wirtschaftswachstum wird primär durch das Bevölkerungswachstum angetrieben. Dieses basiert vorwiegend auf der Arbeitsimmigration, welche aufgrund des Fachkräftemangels wirtschaftlich gefordert, politisch gefördert und gesellschaftlich geduldet wird. Oder umgekehrt: Wachstum braucht mehr Wertschöpfung, also mehr Arbeitskraft. Dieser Druck wird durch Arbeitsimmigration kompensiert, die das Wirtschaftswachstum weiter befeuert. Ein endloser Kreislauf ohne Druckventil. Haben Herr und Frau Schweizer immer weniger Lust auf Arbeit, bedeutet das in Anbetracht des Produktivitätsdilemmas, dass die Produktivität in der Schweiz immer mehr von Ausländerinnen und Ausländern geleistet wird.

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Der Branchenkult

Digitale Transformation braucht Flexibilität und Mobilität.

Nur der Branchenglaube ist stärker. Die digitale Transformation führt früher oder später in allen Branchen und Sektoren zum tiefgreifenden Strukturwandel. Die Veränderungsdynamik nimmt im Arbeitsalltag laufend zu. Was heute ist, gilt morgen nicht mehr. Um sich den Marktgegebenheiten anzupassen, sind die Arbeitgeber auf Agilität angewiesen. Sie verlangen deshalb von ihren Mitarbeitenden volle Flexibilität und Mobilität. Auch die Beschäftigungsmodelle werden flexibel ausgerichtet. Nur eine Festung bleibt unerschüttert: der Branchenglaube. Trotz Fachkräftemangel und wirtschaftlichem Druck ist die Branchenerfahrung in der Rekrutierung nach wie vor ein vorherrschender Faktor und ein Musskriterium. Ein Widerspruch, der in der digitalen Transformation rasch zum Klotz werden kann.

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Purpose und die sieben Zwerge

Purpose tönt gut, aber Selbstverwirklichung ist stärker.

Viele suchen einen höheren Purpose in der Arbeit. Geld verdienen und Lebensgrundlagen sichern sind in der Wohlfahrts- und Selbstverwirklichungsgesellschaft nicht mehr der Hauptzweck von Arbeit. Man möchte Gutes tun. In einer Wohlfühl- und Sicherheitsoase ist Purpose-Denken einfach und risikofrei. Solange der Purpose nicht zu eigenen Verlusten, Verzicht oder Einbussen führt, ist das kein grosses Commitment. Doch halten Weltverbesserer auch am Purpose fest, wenn sie auf Selbstverwirklichung verzichten müssen? Fakt ist, dass das Purpose-Argument heute vor allem von der Schneeflockengeneration verwendet wird, die mit einem egoistischen, individualistischen und utilitaristischen Dasein auffällt. Reden und Verhalten gehen bei näherem Hinschauen auseinander. Ein klarer Fall für die Existentialisten.

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Die Möchtegern-Unternehmer

Entrepreneurship ist hip.

Lasst uns so schnell und gut wie möglich verkaufen. Die Schweiz ist ein Eldorado für Innovation und Start-ups: Wissens- und Ausbildungshochburg mit grosser Kapitalverfügbarkeit, gute gesetzliche Rahmenbedingungen sowie ein attraktiver Lebens- und Arbeitsstandort. Vereinfacht gesagt bedeutet Unternehmertum die Schaffung von wirtschaftlichem Wert. Dieses wurde lange mit Risiko, Verantwortung und Nachhaltigkeit verbunden. Bekannte und grossartige Unternehmer wie Bührle, Hilti, Schmidheini, Pieper, Jacobs und andere haben über Generationen nachhaltig Wert geschaffen und laufend Verantwortung getragen. Heute versteht man unter Unternehmertum offensichtlich etwas anderes. Im Mittelpunkt stehen zwei Aspekte: Auf der einen Seite geht es um Innovation und Selbstverwirklichung. Es ist für Gründer wichtig, etwas Eigenes in die Welt zu setzen, einen Beitrag zur Weltverbesserung zu leisten, sich in Szene zu setzen. Auf der anderen Seite geht es darum, Geld zu verdienen. Ein ambitionierter Businessplan orientiert sich daran, das Venture entweder so rasch als möglich an die Börse zu bringen (IPO) oder es möglichst gut an ein grösseres Unternehmen zu verkaufen. Es geht vielen Gründern deshalb primär um eine persönliche Inszenierung, Verwirklichung und um den Silicon-Valley-Traum. Schumpeter würde sich im Grab umdrehen. Mit nachhaltigem Entrepreneurship hat das nicht mehr viel zu tun.

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Das Altersdilemma

Fachkräftemangel – die Alten werden es richten.

Nur will sie keiner, die Alten. Das demografische Schreckgespenst spukt schon lange. Uns gehen die Arbeitskräfte aus. Deshalb fordern viele Wirtschaftsvertreter in der Politik eine Erhöhung oder noch besser eine Flexibilisierung des Rentenalters. Dafür wird in Unternehmen betriebliches Gesundheitsmanagement gefördert. Die Alten sollen arbeiten, solange sie können, um die Lücke zu füllen. Das tönt alles vernünftig. Nur sieht die Realität völlig anders aus. So zeigen Daten und persönliche Erfahrungsberichte, dass Arbeitskräfte bereits ab 55 Jahren benachteiligt sind. Sie haben häufig Mühe, eine neue Beschäftigung zu finden, da Firmen bei der Rekrutierung von älteren Arbeitskräften vorsichtig und zurückhaltend sind. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Auf den Punkt gebracht: Während die Weiterbeschäftigung von 65+ gefordert und befeuert wird, werden in der Realität gleichzeitig bereits 55+ bei der Beschäftigung benachteiligt oder gar behindert.

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Pascal Scheiwiller est CEO chez von Rundstedt.

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