HR Today Nr. 1/2023: Im Gespräch mit Valentin Vogt

«Weibliche Rollenmodelle in typischen Männerberufen sind wichtig»

Unternehmen finden kaum genügend Arbeitskräfte. Das dürfte sich in den kommenden Jahren nicht gross ändern. Valentin Vogt, Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, über die aktuelle Lage, wie Firmen handlungsfähig bleiben und weshalb es hierfür auch Gleichstellung und Inklusion braucht.

Das Verhältnis der Schweiz zu Europa, Forderungen der ­Gewerkschaften, Fachkräftemangel: Die Themenpalette des Arbeitgeberverbands ist gross. Welches Thema fordert Sie derzeit besonders?

Valentin Vogt: Am meisten beschäftigen uns der Fachkräftemangel und das Verhältnis der Schweiz zu Europa. Beides muss dringend angegangen werden, sonst schwächen wir unseren Wirtschaftsstandort. Diese Themen hängen auch zusammen: Wir sind in den nächsten Jahren auf eine Zuwanderung aus dem EU-Raum angewiesen, damit uns die Fachkräfte nicht ausgehen. Finden wir zudem keinen Anschluss ans EU-Forschungsprogramm Horizon, droht uns der Verlust von Spitzenforschenden.

An welcher Stelle des Sorgenbarometers steht für Sie der ­Fachkräftemangel?

Er hat für uns eine sehr hohe Priorität: Seit letztem Sommer blieben rund 130 000 Stellen unbesetzt. Die wirtschaftliche Abkühlung wird diesen Trend kurzfristig zwar etwas entschärfen, doch in den nächsten Jahren gehen eine Million Arbeitskräfte in Pension. Nur eine halbe Million der geburtenschwächeren Jahrgänge rückt nach. Deshalb dürfte sich der Fachkräftemangel künftig weiter zuspitzen.

Valentin Vogt

Seit Juli 2011 ist Valentin Vogt der Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbands. Vogt hat an der Universität St. Gallen studiert und 1984 seinen Abschluss als lic. oec. HSG gemacht. Danach war er beim Industrieunternehmen Sulzer tätig, von 1992 bis 2000 übernahm er dort die Position als Geschäftsführer ein. Von 2000 bis 2011 war Valentin Vogt CEO und Delegierter des Verwaltungsrats von Burckhardt Compression, danach war er von 2011 bis 2020 der Vorsitzende des Verwaltungsrats. Zudem gehörte er von 2011 bis 2019 dem Wirtschaftsbeirat der Schweizerischen Nationalbank an.

Sind Arbeitgebende bereit, ihre Vorstellungen anzupassen?

Viele Betriebe machen zunehmend Konzessionen gegenüber Arbeitnehmenden. Sie sind eher bereit, Personen mit unkonventionellen Lebensläufen anzustellen und ihnen Zeit zu geben, sich fehlende Kompetenzen anzueignen.

… und somit in die Einarbeitung neuer Mitarbeitender zu investieren?

Genau. Glücklicherweise setzt sich bei Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden die Erkenntnis durch, dass lebenslanges Lernen zur beruflichen Karriere gehört. Nur schon, um digital fit zu bleiben.

Trotz Einwanderung scheinen die dringend benötigten Fachkräfte nicht in genügend grosser Zahl zu kommen. Woran liegt das?

Die Zuwanderungsländer kämpfen ja teils mit einer noch stärkeren Alterung der Bevölkerung als die Schweiz. In Deutschland verringert sich die Bevölkerung im Alter zwischen 20 und 64 Jahren bis 2040 um fast 15 Prozent und in Italien gar um über 18 Prozent. Deshalb setzen auch diese Länder alles daran, die Arbeitskräfte im heimischen Arbeitsmarkt zu halten. Das hat zur Folge, dass es für die Betriebe hierzulande noch schwieriger wird, Personal aus dem Ausland zu rekrutieren.

Müssen wir die Einwanderung besser steuern?

Die Arbeitgebenden engagieren sich bei der Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials. Das reicht aber nicht. Nebst der Zuwanderung aus den EU-Staaten sind wir auch auf Fachkräfte aus Drittstaaten angewiesen. Dabei stellt sich die Frage, ob es aufgrund des hohen Arbeitskräftemangels angezeigt wäre, die Zulassungskriterien für Drittstaatenangehörige etwas zu lockern. Einige Ursachen für den Fachkräftemangel scheinen in der ­­ Aus- und Weiterbildung zu liegen. So wurden viele Berufe «akademisiert», um sie attraktiver zu machen. Grundsätzlich ist es zu begrüssen, dass sich die Erwerbsbevölkerung aus- und weiterbildet. Aber es ist schon so: Es fehlen vor allem im Handwerk sehr viele Berufsleute.

Wo zeigt sich das besonders?

Beispielsweise im Baugewerbe, wo es seit Jahren schwer ist, Vakanzen zu besetzen. Oder im Gastgewerbe, das bis vor einigen Jahren kaum mit einem Fachkräftemangel konfrontiert war. Die Berufslehre scheint auch unter einem Imageproblem zu leiden … Gesellschaftlich wird der akademische Weg oft als Königsweg gesehen. Ein Blick auf den Arbeitskräftemangel zeigt aber, dass Arbeitnehmende mit einer Berufsbildung besonders stark gefragt sind. Hier sind die Schulen gefordert: Sie müssen den Schülerinnen und Schülern die ­verschiedenen Berufsbilder besser vermitteln und aufzeigen, dass sie auch mit einem Berufsbildungsabschluss später den universitären Weg beschreiten können.

Manche Berufe gelten immer noch als «männlich». Beispielsweise im MINT-Bereich. Trotz aller Kampagnen ergreifen nur wenige Frauen Berufe in dieser Fachrichtung. Woran liegt das?

Die Berufswahlkampagnen zeigen nach und nach ihre Wirkung. Das braucht jedoch Zeit. Die Wirtschaft unternimmt bereits heute grosse Anstrengungen, um die Geschlechterdurchmischung in allen Berufen voranzutreiben. Wichtig sind vor allem weibliche Rollenmodelle in typischen Männerberufen. Sie belegen, dass diese Berufe unabhängig vom Geschlecht ausgeübt werden können.

Was müsste zudem getan werden?

Eltern spielen eine zentrale Rolle bei der Berufswahl. Sie müssen abgeholt werden, wenn wir ihre Kinder für die Berufslehre gewinnen wollen. Um die Faszination der Kinder für die Berufsbildung zu wecken, sind Schnupperlehren ein wertvolles Instrument, weil sie unverbindlich Einblicke in einen Beruf ermöglichen.

Braucht es politische Eingriffe, um den Fachkräftemangel zu entschärfen?

Ich verspreche mir viel von einer Individualbesteuerung. Heute lohnt es sich für viele Mütter wegen der Steuerprogression nicht, ihr Pensum aufzustocken. Würden Verheiratete individuell besteuert, generierte das laut Bund 47 000 zusätzliche Vollzeitstellen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie muss vom Staat zudem teilweise gefördert werden. Es braucht finanzierbare Drittbetreuungsplätze, damit das zusätzliche Einkommen eines Elternteils nicht durch die hohen Kitakosten aufgebraucht wird.

Was tun Sie dafür?

Mit dem Netzwerk «focus50plus» setzen wir uns dafür ein, ältere Arbeitnehmende möglichst lange im Arbeitsmarkt zu halten. Unsere Organisation «Compasso» wiederum unterstützt Unternehmen bei der Eingliederung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Zudem engagieren wir uns bei «Check Your Chance», dem führenden Dachverband zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit.

Inwiefern haben wir uns durch das Hochlebenlassen der ­Temporärarbeit ein Ei gelegt, weil Arbeitnehmende nun selbst bestimmen, wann, wo und wie lange sie arbeiten?

Das Problem sind nicht die Temporärarbeitenden, sondern die vielen kleinen Teilzeitpensen der Beschäftigten. Das widerspiegelt sich auch in der Zahl der offenen Stellen: Diese sind in den letzten zehn Jahren im Vergleich zum tatsächlichen Arbeitsvolumen doppelt so stark angestiegen. Um das inländische Fachkräftepotenzial besser auszuschöpfen, bieten Unternehmen dennoch mehr Teilzeitarbeit und flexible Arbeitsformen, statt Stellen mit höheren Pensen zu schaffen. Aufgrund des Personalmangels geraten viele Firmen unter Druck und können Aufträge teils nicht mehr erledigen.

Welche Lösungen sehen Sie für Akutsituationen?

Kurzfristige Lösungen gibt es kaum. Es führt kein Weg daran vorbei, das inländische Fachkräftepotenzial besser zu nutzen. Wir müssen mehr Mütter, mehr Menschen mit Beeinträchtigungen, mehr ältere Arbeitskräfte und mehr Jugendliche in den Arbeitsmarkt bringen.

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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