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Wie gewinnen wir mehr Inländer und Inländerinnen für den Arbeitsmarkt?

Egal, wie die Masseneinwanderungs-Initiative letztlich umgesetzt wird, Fakt ist: Es wird schwieriger werden, Arbeitskräfte aus dem Ausland zu rekrutieren. Die Schweizer Arbeitgeber tun also gut daran, nach Inländern und Inländerinnen zu ­suchen, die noch nicht (voll) im Erwerbsprozess stehen, um ihren ­Fachkräftebedarf zu decken. Das bedingt ein Umdenken.

Das Umsetzungs-Hickhack um die neue Verfassungsbestimmung über die Zuwanderung ist in vollem Gange. Politische Kräfte aus unterschiedlichsten Ecken versuchen auf eine für sie günstige Auslegung einzuwirken.

Wo Potenzial brachliegt

Die Erwerbsquote ist in der Schweiz rekordhoch und liegt bei 83 Prozent. Kaum ein anderes Land auf der Welt hat eine so hohe Erwerbsbeteiligung. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit! Berechnet man die Erwerbsquote in Vollzeitäquivalenten, das heisst, berücksichtigt man die Teilzeitstellen, relativiert sich das Bild: Die Erwerbsquote beträgt dann nur noch 72 Prozent. Oder anders gesagt: Bei rund einem Viertel der Bevölkerung im Erwerbs­alter besteht Potenzial. Für bestimmte Personengruppen ist dieses Potenzial besonders ausgeprägt:

Drei Viertel der Schweizer Mütter sind erwerbstätig, aber fast alle (80 Prozent) arbeiten Teilzeit. In anderen (europäischen) Ländern liegt die Teilzeitrate wesentlich tiefer. Die entsprechend bereinigte Vollzeit-Erwerbsquote der Mütter in der Schweiz liegt bei lediglich 58 Prozent. Eine deutlich unterdurchschnittliche Erwerbsquote haben ausserdem Menschen ohne nachobligatorische Ausbildung. Insgesamt leben in der Schweiz rund eine Million Personen, die über keinen Berufsabschluss verfügen und im Erwerbsalter sind. Ihre Erwerbsquote liegt bei 68 Prozent. Eine dritte Gruppe mit Potenzial sind ältere Arbeitnehmende. Die auf Vollzeitstellen berechnete Erwerbsquote der 55- bis 64-Jährigen beträgt 63 Prozent. Ausserdem leben in der Schweiz eine halbe Million Menschen, die 65 bis 70 Jahre alt sind und mit den richtigen Anreizen auch für den Arbeitsmarkt gewonnen werden könnten. Diese Personengruppe wird aufgrund der demografischen Alterung künftig sogar grösser.

Fast 400 000 potenzielle Arbeitskräfte

5,4 Millionen Menschen sind in der Schweiz im Erwerbsalter (15- bis 64-jährig). Eine Vollzeit-Erwerbsquote von 72 Prozent bedeutet somit, dass 1,5 Millionen Menschen nicht erwerbstätig, teilzeiterwerbstätig oder stellensuchend sind. Hierin liegt das theoretisch verfügbare, inländische Arbeitskräftepoten­zial. Wenn es gelänge, nur 20  Prozent dieses Potenzials zu aktivieren, wären das 300 000 Vollzeitarbeitskräfte für die hiesige Wirtschaft (vgl. Tabelle). Davon stammen je gut 60 000 Arbeitskräfte aus den eingangs erwähnten Potenzialgruppen: Mütter, Personen ohne Berufsausbildung sowie 55- bis 64-Jährige. Bis zu 95 000 zusätzliche Arbeitskräfte könnten aus der Gruppe der 65- bis 70-Jährigen aktiviert werden.

Das macht total fast 400 000 potenzielle Arbeitskräfte – eine beeindruckende Zahl. Sie für den Arbeitsmarkt zu gewinnen und nutzbar zu machen, ist aber einfacher gesagt als getan. Dazu braucht es einen ausgeklügelten Mix aus po­sitiven Anreizen für Arbeitnehmende und Unternehmen, einer Neugestaltung der Arbeitsorganisation und arbeitsmarktorientierten Qualifizierungssystemen.

Starthilfe fürs Umdenken

Die Arbeitgeber werden nicht umhinkommen, einen Effort zu leisten, um an die benötigten Fachkräfte zu gelangen. Denn die demografische Alterung führt per se zu einer Verknappung der Erwerbsbevölkerung. Gepaart mit der vom Schweizer Stimmvolk beschlossenen Beschränkung der Zuwanderung wird die Knappheit umso grösser. Darum ist es an der Zeit, sich ganz konkret mit den brachliegenden Personalressourcen in der Schweiz auseinanderzusetzen und Massnahmen zu ergreifen, um diese gewinnbringend in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Chancen sind intakt für ein Win-Win-Ergebnis, das sowohl die Wirtschaft als auch die einzelnen Individuen und die Gesellschaft insgesamt weiterbringt.

Unternehmen brauchen aber Sicherheit. Wenn sie sich entschliessen, Arbeitskräfte einzustellen, in deren Beschäftigung sie bislang Risiken vermuteten, benötigen sie Starthilfe. Deshalb braucht es niederschwellige Einstiegsmöglichkeiten für Arbeitskräfte, die längere Zeit nicht am Arbeitsmarkt ­beschäftigt waren oder die noch über wenig Erfahrung im – eventuell frisch erlernten – Beruf verfügen. Personaldienstleister können hier mit ihren Try-and-Hire-Modellen eine wichtige Stütze sein. Sie stehen einerseits den Stellensuchenden mit ihrem Know-how über den Arbeitsmarkt beratend zur Seite. Andererseits übernehmen sie in einem Temporär­arbeitsverhältnis die Arbeitgeberverantwortung und ent­lasten somit den Einsatzbetrieb. Dies erhöht dessen Risiko­bereitschaft, Mitarbeitende einzustellen, die bislang nicht vollumfänglich dem Stellenprofil entsprachen.

Work-Life-Balance reloaded

Ein anderer Ansatzpunkt ist die viel beschworene Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. Work-Life-Balance. Sie ist in aller Munde, scheint aber wenig vollzogen, gemessen an der (Vollzeit-)Erwerbsquote der Mütter. Hinter dem Entscheid ­einer Mutter, zu arbeiten bzw. hinter ihrer Wahl des Arbeitspensums stecken nebst organisat­orischen Kriterien auch Werthaltungen. Letztere sind schwierig zu verändern. Erstere können aber von den Unternehmen adressiert werden. Zum einen bedarf es einer Flexibilisierung der Arbeitsorganisation. Die rasante technologische Entwicklung im Bereich der Kommunikationsmittel, die wir in den letzten zwanzig Jahren erlebt haben, kann hierbei wunderbar unterstützen. Internet, Smartphones und Tablets erlauben es, praktisch überall zu arbeiten und verbunden zu sein. Dem muss aber eine entsprechende Revolution in der Betriebs- und Teamführung folgen.

Ein Team kann nicht funktionieren, wenn man sich nicht mehr in die Augen schaut, weil jeder zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort arbeitet. Die Technik hat den Beruf und das Privatleben vereinbar gemacht. Vielleicht aber sogar zu vereinbar, wenn man bedenkt, wie während Sitzungen WhatsApp-Mitteilungen verschickt und beim romantischen Dinner E‑Mails gecheckt werden. Es ist Zeit für eine neue Post-Work-Life-Balance-Leitidee, wie Teams ihre virtuelle und persönliche Zusammenarbeit optimal aufeinander abstimmen. Das hat nicht zuletzt auch mit Gesundheitsschutz zu tun. Möchte man das Arbeitskräfte­potenzial ausschöpfen, gehört die Pflege der Mitarbeitergesundheit dazu.

Eine Neugestaltung der Zusammenarbeit im Unternehmen dient schliesslich auch dazu, die Erwerbstätigkeit für ältere Arbeitnehmende attraktiv zu machen. Wer in seinem Berufsleben bereits das Nötige angespart hat und mit einer Frühpensionierung liebäugelt, überdenkt diesen Entscheid wahrscheinlich, wenn ihm flexible Beschäftigungsformen offenstehen. Denn was gibt es Sinnstiftenderes für einen Menschen als das Gefühl, gebraucht zu werden?

Ohne Qualifizierung geht nichts

Das Fundament aller Bestrebungen, noch nicht erwerbstätige Bevölkerungskreise zur Arbeit zu führen, liegt in einer Qualifizierungsoffensive, die diesen Namen verdient. Mütter, die nicht (oder nicht in ihrem angestammten Beruf) arbeiten, Menschen ohne Berufsausbildung und ältere Arbeitskräfte, die ihre Fachkenntnisse längere Zeit nicht mehr aufdatiert haben oder eine neue (Teilzeit-)Funktion übernehmen, brauchen Weiterbildung – wie alle anderen Arbeitnehmenden ebenfalls. Arbeitgeber wie Arbeitnehmende müssen in Weiterbildung investieren – sei es, um etwas nachzuholen, um eine höhere Qualifikation zu erlangen oder um à jour zu bleiben.

Solche Investitionen lassen sich individuell oder solidarisch gestalten. Die Temporärbranche hat sehr gute Erfahrungen mit einer solidarisch organisierten Weiterbildungsoffensive gemacht. Temporärfirmen haben alleine wenig Anreiz, Weiterbildungen ihrer Mitarbeitenden zu finanzieren. Denn diese sind naturgemäss nur kurze Zeit für sie tätig. Die Früchte der Weiterbildung trägt dann ein anderer. Deshalb haben Personaldienstleister und Temporärarbeitende die Weiterbildung auf Branchenniveau organisiert: mit dem bald zweijährigen Weiterbildungsfonds temptraining. Dieser wird zu 30 Prozent von den Arbeitgebern und zu 70 Prozent von den Arbeitnehmenden gespiesen. Wer mindestens 176 Stunden temporär gearbeitet hat, kann aus dem Fonds Leistungen von bis zu 5000 Franken für Kurskosten und 2300 Franken für Lohn­ausfall beziehen. Und temptraining boomt: ­Woche für Woche stellen 150 Temporär­arbeitende – direkt oder über ihren Personal­dienst­leister – ein Weiterbildungsgesuch. Über zehn Millionen Franken Weiterbildungsleistungen wurden bislang an rund 6000 Temporärarbeitende gutgesprochen.

Jeder kann sich weiterbilden

Die Erfahrung von temptraining zeigt, dass es durchaus möglich ist, auch bildungsferne oder wenig qualifizierte Menschen an Weiterbildung heranzuführen. Die meisten Kurse, die über temptraining finanziert werden, sind praxisnah und können direkt im Job umgesetzt werden – zum Beispiel Landessprach-Kurse, Kranführerausbildungen, Staplerfahrerkurse, Lastwagenchauffeur-Ausbildungen, Microsoft-Office-Anwender-Kurse, aber auch Lehrgänge der höheren Berufsbildung im Bereich der IT, des HR, des Verkaufs oder des Rechnungswesens.

Zentral für die Qualifizierung von bildungsfernen oder -scheuen Personen ist die Unterstützung durch den Arbeitgeber. Diese muss nicht finanzieller Natur sein. Eine beratende Hilfestellung ist oft noch wichtiger, die dem Lernwilligen aufzeigt, welche Weiterbildung am Arbeitsmarkt direkt umgemünzt werden kann. Eine moralische und/oder finanzielle Weiterbildungsförderung durch den Arbeitgeber hilft ­diesem nicht zuletzt im Retention Management. In einer Welt mit knappen Arbeitskräften sollte dieses weit oben auf der Prioritätenliste der ­Arbeitgeber stehen.

Die Wirtschaft kann also einiges tun, um das inländische Fachkräftepotenzial noch besser zu erschliessen. Selbstverständlich kann auch der Staat mit Mitteln und Gesetzen die Anreize für Bildung und Arbeit günstig beeinflussen. Doch darauf braucht die Wirtschaft nicht zu warten. Sie hat die Zügel selbst in der Hand.

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Myra Fischer Rosinger

Myra Fischer-Rosinger ist Direktorin von swissstaffing, dem Branchenverband der Personaldienstleister. Die Politologin und Volkswirtschaftlerin prägt die Entwicklung von swissstaffing seit 2006. Massgeblich beteiligt war sie an der Einführung des Gesamtarbeitsvertrags Personalverleih, der seit 2012 in Kraft ist. Im Branchenverband swissstaffing sind 300 schweizerische Personaldienstleister organisiert. Der Arbeitgeberverband ist Kompetenz- und Servicezentrum für die Temporärbranche und vertritt die Anliegen seiner Mitglieder gegenüber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. www.swissstaffing.ch

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