Fast 400 000 potenzielle Arbeitskräfte
5,4 Millionen Menschen sind in der Schweiz im Erwerbsalter (15- bis 64-jährig). Eine Vollzeit-Erwerbsquote von 72 Prozent bedeutet somit, dass 1,5 Millionen Menschen nicht erwerbstätig, teilzeiterwerbstätig oder stellensuchend sind. Hierin liegt das theoretisch verfügbare, inländische Arbeitskräftepotenzial. Wenn es gelänge, nur 20 Prozent dieses Potenzials zu aktivieren, wären das 300 000 Vollzeitarbeitskräfte für die hiesige Wirtschaft (vgl. Tabelle). Davon stammen je gut 60 000 Arbeitskräfte aus den eingangs erwähnten Potenzialgruppen: Mütter, Personen ohne Berufsausbildung sowie 55- bis 64-Jährige. Bis zu 95 000 zusätzliche Arbeitskräfte könnten aus der Gruppe der 65- bis 70-Jährigen aktiviert werden.
Das macht total fast 400 000 potenzielle Arbeitskräfte – eine beeindruckende Zahl. Sie für den Arbeitsmarkt zu gewinnen und nutzbar zu machen, ist aber einfacher gesagt als getan. Dazu braucht es einen ausgeklügelten Mix aus positiven Anreizen für Arbeitnehmende und Unternehmen, einer Neugestaltung der Arbeitsorganisation und arbeitsmarktorientierten Qualifizierungssystemen.
Starthilfe fürs Umdenken
Die Arbeitgeber werden nicht umhinkommen, einen Effort zu leisten, um an die benötigten Fachkräfte zu gelangen. Denn die demografische Alterung führt per se zu einer Verknappung der Erwerbsbevölkerung. Gepaart mit der vom Schweizer Stimmvolk beschlossenen Beschränkung der Zuwanderung wird die Knappheit umso grösser. Darum ist es an der Zeit, sich ganz konkret mit den brachliegenden Personalressourcen in der Schweiz auseinanderzusetzen und Massnahmen zu ergreifen, um diese gewinnbringend in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Chancen sind intakt für ein Win-Win-Ergebnis, das sowohl die Wirtschaft als auch die einzelnen Individuen und die Gesellschaft insgesamt weiterbringt.
Unternehmen brauchen aber Sicherheit. Wenn sie sich entschliessen, Arbeitskräfte einzustellen, in deren Beschäftigung sie bislang Risiken vermuteten, benötigen sie Starthilfe. Deshalb braucht es niederschwellige Einstiegsmöglichkeiten für Arbeitskräfte, die längere Zeit nicht am Arbeitsmarkt beschäftigt waren oder die noch über wenig Erfahrung im – eventuell frisch erlernten – Beruf verfügen. Personaldienstleister können hier mit ihren Try-and-Hire-Modellen eine wichtige Stütze sein. Sie stehen einerseits den Stellensuchenden mit ihrem Know-how über den Arbeitsmarkt beratend zur Seite. Andererseits übernehmen sie in einem Temporärarbeitsverhältnis die Arbeitgeberverantwortung und entlasten somit den Einsatzbetrieb. Dies erhöht dessen Risikobereitschaft, Mitarbeitende einzustellen, die bislang nicht vollumfänglich dem Stellenprofil entsprachen.
Work-Life-Balance reloaded
Ein anderer Ansatzpunkt ist die viel beschworene Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. Work-Life-Balance. Sie ist in aller Munde, scheint aber wenig vollzogen, gemessen an der (Vollzeit-)Erwerbsquote der Mütter. Hinter dem Entscheid einer Mutter, zu arbeiten bzw. hinter ihrer Wahl des Arbeitspensums stecken nebst organisatorischen Kriterien auch Werthaltungen. Letztere sind schwierig zu verändern. Erstere können aber von den Unternehmen adressiert werden. Zum einen bedarf es einer Flexibilisierung der Arbeitsorganisation. Die rasante technologische Entwicklung im Bereich der Kommunikationsmittel, die wir in den letzten zwanzig Jahren erlebt haben, kann hierbei wunderbar unterstützen. Internet, Smartphones und Tablets erlauben es, praktisch überall zu arbeiten und verbunden zu sein. Dem muss aber eine entsprechende Revolution in der Betriebs- und Teamführung folgen.
Ein Team kann nicht funktionieren, wenn man sich nicht mehr in die Augen schaut, weil jeder zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort arbeitet. Die Technik hat den Beruf und das Privatleben vereinbar gemacht. Vielleicht aber sogar zu vereinbar, wenn man bedenkt, wie während Sitzungen WhatsApp-Mitteilungen verschickt und beim romantischen Dinner E‑Mails gecheckt werden. Es ist Zeit für eine neue Post-Work-Life-Balance-Leitidee, wie Teams ihre virtuelle und persönliche Zusammenarbeit optimal aufeinander abstimmen. Das hat nicht zuletzt auch mit Gesundheitsschutz zu tun. Möchte man das Arbeitskräftepotenzial ausschöpfen, gehört die Pflege der Mitarbeitergesundheit dazu.
Eine Neugestaltung der Zusammenarbeit im Unternehmen dient schliesslich auch dazu, die Erwerbstätigkeit für ältere Arbeitnehmende attraktiv zu machen. Wer in seinem Berufsleben bereits das Nötige angespart hat und mit einer Frühpensionierung liebäugelt, überdenkt diesen Entscheid wahrscheinlich, wenn ihm flexible Beschäftigungsformen offenstehen. Denn was gibt es Sinnstiftenderes für einen Menschen als das Gefühl, gebraucht zu werden?
Ohne Qualifizierung geht nichts
Das Fundament aller Bestrebungen, noch nicht erwerbstätige Bevölkerungskreise zur Arbeit zu führen, liegt in einer Qualifizierungsoffensive, die diesen Namen verdient. Mütter, die nicht (oder nicht in ihrem angestammten Beruf) arbeiten, Menschen ohne Berufsausbildung und ältere Arbeitskräfte, die ihre Fachkenntnisse längere Zeit nicht mehr aufdatiert haben oder eine neue (Teilzeit-)Funktion übernehmen, brauchen Weiterbildung – wie alle anderen Arbeitnehmenden ebenfalls. Arbeitgeber wie Arbeitnehmende müssen in Weiterbildung investieren – sei es, um etwas nachzuholen, um eine höhere Qualifikation zu erlangen oder um à jour zu bleiben.
Solche Investitionen lassen sich individuell oder solidarisch gestalten. Die Temporärbranche hat sehr gute Erfahrungen mit einer solidarisch organisierten Weiterbildungsoffensive gemacht. Temporärfirmen haben alleine wenig Anreiz, Weiterbildungen ihrer Mitarbeitenden zu finanzieren. Denn diese sind naturgemäss nur kurze Zeit für sie tätig. Die Früchte der Weiterbildung trägt dann ein anderer. Deshalb haben Personaldienstleister und Temporärarbeitende die Weiterbildung auf Branchenniveau organisiert: mit dem bald zweijährigen Weiterbildungsfonds temptraining. Dieser wird zu 30 Prozent von den Arbeitgebern und zu 70 Prozent von den Arbeitnehmenden gespiesen. Wer mindestens 176 Stunden temporär gearbeitet hat, kann aus dem Fonds Leistungen von bis zu 5000 Franken für Kurskosten und 2300 Franken für Lohnausfall beziehen. Und temptraining boomt: Woche für Woche stellen 150 Temporärarbeitende – direkt oder über ihren Personaldienstleister – ein Weiterbildungsgesuch. Über zehn Millionen Franken Weiterbildungsleistungen wurden bislang an rund 6000 Temporärarbeitende gutgesprochen.
Jeder kann sich weiterbilden
Die Erfahrung von temptraining zeigt, dass es durchaus möglich ist, auch bildungsferne oder wenig qualifizierte Menschen an Weiterbildung heranzuführen. Die meisten Kurse, die über temptraining finanziert werden, sind praxisnah und können direkt im Job umgesetzt werden – zum Beispiel Landessprach-Kurse, Kranführerausbildungen, Staplerfahrerkurse, Lastwagenchauffeur-Ausbildungen, Microsoft-Office-Anwender-Kurse, aber auch Lehrgänge der höheren Berufsbildung im Bereich der IT, des HR, des Verkaufs oder des Rechnungswesens.
Zentral für die Qualifizierung von bildungsfernen oder -scheuen Personen ist die Unterstützung durch den Arbeitgeber. Diese muss nicht finanzieller Natur sein. Eine beratende Hilfestellung ist oft noch wichtiger, die dem Lernwilligen aufzeigt, welche Weiterbildung am Arbeitsmarkt direkt umgemünzt werden kann. Eine moralische und/oder finanzielle Weiterbildungsförderung durch den Arbeitgeber hilft diesem nicht zuletzt im Retention Management. In einer Welt mit knappen Arbeitskräften sollte dieses weit oben auf der Prioritätenliste der Arbeitgeber stehen.
Die Wirtschaft kann also einiges tun, um das inländische Fachkräftepotenzial noch besser zu erschliessen. Selbstverständlich kann auch der Staat mit Mitteln und Gesetzen die Anreize für Bildung und Arbeit günstig beeinflussen. Doch darauf braucht die Wirtschaft nicht zu warten. Sie hat die Zügel selbst in der Hand.