Wie man als KMU einen KI-Masterplan entwirft
Zu teuer, zu aufwändig und zu kompliziert: Viele KMU glauben, Künstliche Intelligenz sei nur ein Thema für Grossunternehmen. Sich als KMU nicht mit KI zu befassen ist aber leichtfertig. Digitalisierungsexperte Jens Uwe-Meyer zeigt, wie man eine KI-Roadmap erstellt – und sagt, wieso man dabei wie ein Recruiter vorgehen muss.
Künstliche Intelligenz kann KMU massiv entlasten. Eine Roadmap hilft dabei herauszufinden, wo KI angewendet werden kann. (Bild: iStock)
KI-Anwendungen werden die Unternehmen und deren Geschäftsmodelle sowie Prozesse und Strukturen in den nächsten Jahren radikal verändern. Jobs, die heute noch aufwendig manuell erledigt werden, werden künftig intelligente Maschinen übernehmen. Die Effizienz und Produktivität werden auf eine neue Stufe gehoben werden.
Viele Führungskräfte sind verunsichert
In diesem Change-Prozess liegen dem Innovations- und Digitalisierungsexperten Dr. Jens-Uwe Meyer zufolge jedoch «die Chancen und Risiken für Unternehmen dichter beisammen als je zuvo»“. Entsprechend verunsichert und «nicht selten zurecht zögerlich» sind viele Führungskräfte, Manager und Unternehmerinnen, wenn es um das Beantworten der Frage geht: Wie können wir die Chancen, die uns die KI bietet, in unserer Organisation bestmöglich nutzen?
Dies auch deshalb, weil die Künstliche Intelligenz fast alles kann: Fehler entdecken, Prognosen erstellen, Analysen durchführen, Bewerbungen screenen, Beschäftigte einarbeiten, Kundeninnen und Kunden automatisiert informieren, Qualitätsstandards überprüfen, Produktionsprozesse optimieren und vieles mehr. Deshalb stellen sich, so der Digitalisierungsexperte den Verantwortlichen in KMU drei zentrale Fragen:
- Wie können wir Anwendungsfälle für die künstliche Intelligenz in unserer Organisation identifizieren?
- Wie entscheiden wir, womit wir am besten anfangen?
- Wie erkennen wir, ob sich bestimmte Anwendungsfälle in unserem Unternehmen oder Unternehmensbereich für den KI-Einsatz überhaupt eignen?
Digitalisierungsexperte
Dr. Jens-Uwe Meyer ist Vorstandsvorsitzender der Innolytics AG, Leipzig, die unter anderem Ideen-, Wissens- und Qualitätsmanagement-Software für Unternehmen entwickelt (www.innolytics.de). Von dem Digitalisierungs- und Innovationsexperten erschien im Oktober 2023 das Buch «Die KI-Roadmap: Künstliche Intelligenz im Unternehmen erfolgreich einsetzen». Der Autor von insgesamt 13 Büchern zum Themenkomplex Innovation und digitale Transformation ist auch ein gefragter Referent und Vortragsredner. jens-uwe-meyer.de
Das Thema KI gezielt angehen und bearbeiten
Um diese Fragen zielführend zu beantworten, bedarf es seines Erachtens einer Roadmap, also eines systematischen Vorgehens beim Identifizieren, Bewerten und Implementieren von KI-Anwendungen in der Organisation, denn: «Die grösste Gefahr besteht in einem blinden Aktionismus – das zeigt die Praxis immer wieder.» Statt dem «Marktgeschrei» zu folgen, gelte es Schritt für Schritt und mit System mögliche Anwendungsfälle zu identifizieren, deren Wert für das eigene Business zu ermitteln und diese im Falle eines positiven Befunds schnell auf ihre Machbarkeit hin zu überprüfen.
Schritt 1: Mögliche Anwendungsfälle ermitteln
Dass die KI einige Geschäftsprozesse automatisieren und in anderen erhebliche Effizienzsteigerungen bewirken kann, ist den meisten Verantwortlichen klar. Doch womit sollen sie starten? Meyer schlägt eine pragmatische Herangehensweise vor: «Stellen Sie sich vor, die künstliche Intelligenz sei eine Person, die sich bei Ihnen um eine Stelle bewirbt. Dann lautet die erste Frage, die Sie sich in der Regel stellen: Was kann die Person eigentlich und wofür könnten wir sie einsetzen?»
Mit dieser Frage beginnt auch die Suche nach KI-Anwendungsfällen. Bei ihrer Beantwortung können Musteranwendungsfälle und Leitfragen helfen, wie Meyer sie entwickelt hat. Diese kann man sich wie Kreativitätstechniken vorstellen, die speziell dafür entwickelt wurden, Ideen und Vorschläge für Anwendungsfälle zu generieren. Hierfür ein Beispiel: KI-Systeme können Prognosen zum künftigen Kaufverhalten von Personen und Organisationen erstellen. Dazu nutzen sie Entscheidungsmuster, die in Kundendaten vorliegen. Bezogen auf diesen Anwendungsfall lautet die zentrale Leitfrage: Welche betriebswirtschaftlichen und strategischen Vorteile würde es uns bringen, wenn wir das Kaufverhalten unserer Kundinnen und Kunden prognostizieren könnten?
«Angenommen Sie geben einem KI-System den Auftrag, die Produktivität Ihrer Beschäftigten auf Basis aller zur Verfügung stehenden Daten zu erhöhen, dann können lustige Empfehlungen herauskommen. Zum Beispiel könnte es die Empfehlung geben, den Kaffeekonsum zu erhöhen.»
– Jens-Uwe Meyer, Digitalisierungsexperte und Vorstandsvorsitzender der Innolytics AG
Beim Arbeiten mit den Musteranwendungsfällen geht es also nicht primär darum, ein vertieftes Technologie-Verständnis zu entwickeln, vielmehr soll erkundet werden, welchen Benefit das Unternehmen aus dem potenziellen KI-Einsatz ziehen könnte. Die Vorlagen haben hierbei die Funktion von Blaupausen, um Ideen zu generieren, wo und wie die Unternehmen die KI messbar effektiv nutzen könnten.
Schritt 2: Wirtschaftlichkeit berechnen
Eine grosse Herausforderung beim Einsatz künstlicher Intelligenz ist es, die genauen Einspar- beziehungsweise Wachstumspotenziale zu berechnen, denn jeder Berechnung liegen zahlreiche Annahmen und Wenn-Dann-Beziehungen zugrunde:
- Wenn das Projekt teurer wird als geplant, rechnet es sich dann noch?
- Wenn die Verkäufe statt um 30 nur um 20 Prozent steigen, lohnt sich die Investition dann noch?
- Wie wirkt es sich auf den Business Case aus, wenn wir statt diesem KI-System das Tool eines anderen KI-Anbieters nutzen?
Beim Beantworten solcher Fragen kann ein Szenarienrechner helfen. Mit ihm können die unterschiedlichsten Szenarien (Worst Case, Best Case, Anbieter A, Anbieter B) verglichen werden. Das Tool berechnet auch den Projektaufwand, «den viele Mittelständler häufig vergessen», so Meyer. «Es macht einen riesigen Unterschied, ob die Beschäftigten drei Wochen, Monate oder Jahre mit dem Implementieren einer KI beschäftigt sind.»
Schritt 3: Machbarkeit analysieren
Damit eine künstliche Intelligenz sinnvolle Daten und Empfehlungen generieren kann, braucht es bestimmte Voraussetzungen. So müssen unter anderem genügend Daten vorliegen, die für die Aufgabenstellung relevant sind. Sonst kommt es Meyer zufolge zuweilen zu merkwürdigen Effekten: «Angenommen Sie geben einem KI-System den Auftrag, die Produktivität Ihrer Beschäftigten auf Basis aller zur Verfügung stehenden Daten zu erhöhen, dann können lustige Empfehlungen herauskommen.» So zum Beispiel, wenn das System feststellt, dass Beschäftigte produktiver sind, die drei Tassen Kaffee getrunken haben. «Dann könnte es die Empfehlung geben, den Kaffeekonsum zu erhöhen.»
Dahinter würde kein Fehlverhalten der KI-Anwendung stecken, sondern genau das, wozu sie entwickelt wurde, nämlich: neue, bisher unbekannte Zusammenhänge aus Daten herauszulesen. Unternehmen müssen sich also genau überlegen, welche Daten sie einem System zur Verfügung stellen. Und sie dürfen den gesunden Menschenverstand nicht ausser Acht lassen.
«Bei jeder KI-Anwendung braucht es zu Beginn Menschen, die die Ergebnisse korrigieren und dem System mitteilen, wo es richtig oder falsch liegt. Bereits in dieser Phase produziert die KI aber messbare Ergebnisse, die zu einer Effizienzsteigerung führen.»
– Jens-Uwe Meyer, Digitalisierungsexperte und Vorstandsvorsitzender der Innolytics AG
Schritt 4: Pilotprojekte starten
Die aktuell rasanten Fortschritte beim Einsatz künstlicher Intelligenz bringen viele Mittelständler in Zugzwang. Unternehmen sie nichts und warten sie lieber, bis alle Mitbewerber Anwendungsfälle für KI gefunden haben, laufen sie Gefahr, abgehängt zu werden. Entscheiden sie sich hingegen zu früh für eine bestimmte Richtung, besteht die Gefahr, dass sie sich verzetteln oder aufs falsche Pferd setzen.
Ein Vorteil der KI-Technologie ist: Man kann mit Prototypen arbeiten. «Im Gegensatz zur Entwicklung eines neuen Autos oder einer neuen Maschinengeneration muss man sich beim Einsatz von künstlicher Intelligenz meist nicht sofort festlegen», betont Meyer. «Man kann sich zunächst mit Prototypen an die Materie heranarbeiten. Also: Mit kleineren Anwendungsfällen sowie in Teilbereichen der Organisation starten und ausprobieren, welche Ergebnisse dies bringt.»
Im Kern steckt dahinter die gleiche Entwicklungsphilosophie, mit der Thomas Edison einst das System der Glühbirne erfand. In den USA wird es «Serendipity» genannt. «Man kann dies als geplanten Zufall bezeichnen», erklärt Meyer, der diesbezüglich ein Buch über die Arbeitsweise von Thomas Edison schrieb. «Man tastet sich durch Experimente Schritt für Schritt vorwärts.» Die Erkenntnisse aus jedem Experiment fliessen dabei in den nächsten Entwicklungsschritt ein und der erfolgreiche Prototyp wird schliesslich implementiert. (Lesen Sie dazu: «Glückspilze haben die Augen für das positiv Unerwartete offen»)
Schritt 5: Die KI trainieren und optimieren
Dieser Punkt wird häufig unterschätzt. KI-Modelle werden schlauer und treffsicherer, je länger sie im Einsatz sind. Das heisst auch: Die Ergebnisse aus den prototypischen Tests sind noch nicht perfekt. Das macht aber nichts, weil die künstliche Intelligenz selbstständig lernt, sofern sie das nötige Daten-Futter erhält.
«Seien Sie also nicht frustriert, wenn die Ergebnisse anfangs hinter Ihren Erwartungen zurückbleiben», betont Meyer. «Ähnlich wie bei der Entwicklung eines autonom fahrenden Autos braucht es bei jeder KI-Anwendung zu Beginn Menschen, die die Ergebnisse korrigieren und dem System mitteilen, wo es richtig oder falsch liegt. Bereits in dieser Phase produziert die KI aber messbare Ergebnisse, die zu einer Effizienzsteigerung führen. Selbst wenn die KI-Anwendung beispielsweise Dinge im Lager noch nicht hundertprozentig perfekt findet, ist sie immer noch schneller als ein Mensch. Selbst wenn die Mustererkennung zu Beginn noch teilweise fehlerhaft ist, sind doch schon viele Daten dabei, die bereits eine bessere Prognose als bisher erlauben.»
Fazit: Den KI-Einsatz systematisch analysieren und ausbauen.
Der Vorteil eines systematischen und geplanten Vorgehens liegt laut Meyer auf der Hand: Die Unternehmen sammeln umfangreiche Erfahrungen und bauen Expertise im Anwenden der KI auf. Sie identifizieren die Anwendungsfälle, die für sie am lohnendsten sind, und schaffen so die Grundlage für ihre künftige Wettbewerbsfähigkeit.
Ein strukturiertes, systematisches Vorgehen ermöglicht es zudem, alle Betroffenen beziehungsweise Stakeholder «Top-down» ins Boot zu holen, denn es schafft Transparenz. Dadurch sinken die Vorbehalte und Widerstände gegen den mit dem verstärkten KI-Einsatz verbundenen Change- und Transformationsprozess. Und das verkürzt wiederum die Projektdauer und erhöht die Effizienz.