Buchtipp: C’est qui ton chef?! Sociologie du leadership en Suisse
Ivan Sainsaulieu und Jean-Philippe Leresche (Hrsg.)
EPFL Press, 2023
344 Seiten (auf Französisch)
Die Forscher Ivan Sainsaulieu und Jean-Philippe Leresche haben mit ihrem Buch «C'est qui ton chef?!» («Wer ist dein Chef?!») einen faszinierenden Überblick über die Machtverhältnisse in der Schweiz geschaffen.
Bild: iStock
«Der Schweizer Chef besticht vor allem durch Pragmatismus und Konfliktvermeidung. Auch wenn er sich nicht in der Öffentlichkeit inszeniert, bleibt die Macht hinter den Kulissen dennoch spürbar», heisst es in der Einleitung von «C’est qui ton chef?!».
«Der Ausgangspunkt dieses Buches war eine Frage, die mir Ivan Sainsaulieu eines Tages stellte: ‚Was ist ein Chef in der Schweiz?‘», erklärt Jean-Philippe Leresche, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Lausanne und Herausgeber der Sammlung «Savoir suisse». «Mein Kollege, der aus Frankreich stammt, aber in Lausanne lebt, bemerkte, dass Macht hierzulande keine Obsession ist und anders ausgeübt wird als in der sehr hierarchischen Form, die er aus Frankreich kennt.»
Nach diesem Gespräch stellten die beiden Forscher fest, dass es bisher keine aktuelle Analyse der Machtstrukturen in der Schweiz gab. Diese Lücke wird nun durch ihr Werk geschlossen. «Als wir mit dem Projekt begannen, haben wir aktuelle Forschungen in der Schweiz identifiziert, die einen Bezug zum Thema hatten. Anschliessend haben wir die jeweiligen Autorinnen und Autoren kontaktiert, um sie zu fragen, ob sie bereit wären, ihre Studien unter dem Gesichtspunkt der Führungsrolle zusammenzufassen und zugänglich zu machen.»
Insgesamt haben sich mehr als 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt. Das Ergebnis ist ein umfassendes Panorama der Machtausübung in der Schweiz, das so unterschiedliche Bereiche wie Polizei, Einzelhandel und IT-Branche umfasst. «Auch wenn Führung in der Armee anders funktioniert als in einem Blumenladen, konnten wir dennoch wiederkehrende Elemente identifizieren: die Entpersonalisierung, die Entpolitisierung und die Entmaterialisierung der Macht.»
Ein Aspekt ist die Idee, dass niemand aus der Reihe tanzen sollte. «Die geringe Personalisierung der Macht hat sich im Laufe der Zeit sogar verstärkt, wo früher etwa die Namen der Leiter grosser Banken oder Unternehmen bekannt waren.»
Die Entpolitisierung zeigt sich auf allen Ebenen, und beginnt mit dem Bundesrat. «Ausländische Beobachter sind oft erstaunt, dass wir in der Schweiz keine Minister haben, sondern lediglich Departementsvorsteher – als wolle man sie zu einfachen Beamten degradieren.»
Schliesslich wird Macht immer diffuser und unsichtbarer, insbesondere durch den Einfluss von Technologie und die Finanzialisierung der Wirtschaft. «Dennoch nimmt diese Unsichtbarkeit von Chefs und Konflikten nichts von der fortbestehenden Bedeutung sozialer Hierarchien bei der Bildung und Rekrutierung von Eliten.»
Eine weitere typisch schweizerische Eigenheit: Konfliktvermeidung bedeutet nicht die Abwesenheit von Konflikten. «Man könnte es als ‚Politik des Flurs oder des Carnotzets‘ bezeichnen. Konflikte werden nicht in der Öffentlichkeit oder im Fernsehen gelöst, sondern lieber hinter verschlossenen Türen.»
Ein Beispiel dafür sind die ausserparlamentarischen Kommissionen, die vor allem in der Vergangenheit eine wichtige Rolle spielten, um Referenden zu vermeiden, indem verschiedene Standpunkte in die vorbereitenden Gesetzgebungsarbeiten integriert wurden. «Diese Kompromisskultur trägt dazu bei, dass es in der Schweiz keine Führungsmythologie gibt. Selbst wenn einige meinen, dass die Konkordanzdemokratie rückläufig ist, bleibt die Machtausübung in der Schweiz von dieser Vorgehensweise geprägt.»
Das Buch ist in sechs Teile gegliedert, von denen jeder einen anderen Aspekt von Führung beleuchtet. Der erste Teil, «Die traditionelle Sozialisation von Macht», untersucht Schweizer Systeme wie die Milizpolitik, die Verbindung zwischen Führungskräften und Sport sowie das schwindende Prestige militärischer Führer. «Heute sind Diplome ein entscheidendes Kriterium, wo früher ein militärischer Rang erforderlich war. Dies ist eine wichtige Entwicklung», betont der Politikwissenschaftler. «Dieser Wandel hin zu einer Auswahl anhand von Qualifikationen zeigt sich in allen Bereichen – in Banken, Versicherungen oder in den Spitzen der kantonalen und föderalen Verwaltungen.»
Der nächste Teil beleuchtet den Einfluss der Finanzialisierung auf Organisationen und Unternehmen. «Wir beobachten, wie sich das familiäre Industriekapital und die ‚Old Boy Networks‘ des 20. Jahrhunderts allmählich zugunsten internationaler Rekrutierungen und Finanzierungen auflösen.»
Die globale Transformation bringt auch andere Veränderungen mit sich, wie die schrittweise Öffnung von Führungspositionen für Frauen. «Das von unserer Kollegin Stéphanie Ginalski verfasste Kapitel zu diesem Thema ist eines meiner Favoriten», bemerkt Leresche. «Es bietet eine Rückschau auf die Schweizer Nachkriegsgeschichte – vom Frauenstimmrecht 1971 bis zur gläsernen Decke und dem langsamen Zugang von Frauen zu Führungspositionen in Unternehmen.»
Ein weiteres Kapitel widmet sich den Personalchefs unter dem Titel «Arbeitgeber oder Mitarbeiter in Chefposition?». Es hebt hervor, «dass HR-Verantwortliche, einst Vermittler und soziale Balancehalter, zunehmend von der magnetischen Anziehungskraft des Unternehmenschefs erfasst werden.»
Den Abschluss bildet eine Untersuchung der Auswirkungen digitaler Werkzeuge auf die Führungsrolle. Die Frage lautet: «Ist die Technologie am Steuer?» Anhand des Beispiels von Hotelbuchungen zeigt das Buch, wie Algorithmen zur Entpersonalisierung und Entpolitisierung von Macht beitragen – Phänomene, die in den kommenden Jahren weiter an Bedeutung gewinnen dürften.
Ivan Sainsaulieu und Jean-Philippe Leresche (Hrsg.)
EPFL Press, 2023
344 Seiten (auf Französisch)