Wie verträgt der Schweizer Arbeitsmarkt die Zuwanderung?
Das Personenfreizügigkeitsabkommen hat bei der Bevölkerung Ängste geweckt. Doch dem Schweizer Arbeitsmarkt ist es gelungen, die Zuwanderung gut zu integrieren.
Seit dem Jahr 2002 gilt das Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU. Seit 2007 ist diese Freizügigkeit unbegrenzt – bis auf die neueren EU-Länder, auf die die vollständige Personenfreizügigkeit erst schrittweise ausgedehnt wird. Das Personenfreizügigkeitsabkommen hat in der Schweizer Bevölkerung Ängste über die Auswirkungen der Zuwanderung genährt. Doch für die Schweizer Wirtschaft ist die Personenfreizügigkeit vital. Ein Zwiespalt, der Zündstoff birgt!
Von wahren und vermeintlichen Effekten
Jährlich wandern rund 70 000 Personen in die Schweiz ein. Dabei handelt es sich um die Nettozuwanderung, das heisst alle Einwandernden minus die Auswandernden. 70 000 ist eine beachtliche Zahl von Menschen, die die Schweiz Jahr für Jahr integriert. Dass es hierbei zu Friktionen kommen kann, liegt auf der Hand. Stark ansteigende Mietpreise, volle S-Bahnen und Züge, verstopfte Strassen und eine zunehmend zersiedelte Landschaft sind Phänomene, die beklagt werden und eine Herausforderung für die Schweizer Gesellschaft darstellen.
Doch die Personenfreizügigkeit ist nur für einen Teil dieser Entwicklungen und Probleme verantwortlich. Teurer werdender Wohnraum und überfüllte Verkehrswege sind auch die Folge eines gewachsenen Wohlstands und gestiegener Ansprüche. Heute beansprucht eine einzelne Person deutlich mehr Wohnraumquadratmeter als früher. Aufgrund des ausgebauten Verkehrsnetzes und der schneller werdenden Züge sind die Menschen mobiler geworden und nehmen längere Arbeits- und Freizeitwege in Kauf als früher.
Die aktuellen Zuwanderungszahlen sind nicht allein das Resultat der Personenfreizügigkeit. Denn es kommen nicht alle Migranten aus der EU. Auf die EU-Staaten fallen rund 70 Prozent der Zuwanderung, auf Drittstaaten die restlichen rund 30 Prozent.1 Die Drittstaatenzuwanderung ist kontingentiert. Über den Familiennachzug und das Asylwesen kommen aber weitere Personen aus Drittstaaten in die Schweiz, deren Zahl man nicht präzise steuern kann. Insgesamt war die Zahl der Zuwandernden bereits früher einmal zwar nicht identisch, aber ähnlich hoch – nämlich Anfang der Neunziger, als es das Saisonnier-Statut noch gab und der Krieg in Ex-Jugoslawien wütete und Flüchtlingsströme generierte. Die Frage der Integration von beträchtlichen Zuwanderungsströmen ist für die Schweiz nicht völlig neu.
Bedeutung der Zuwanderung für die Wirtschaft
Es grenzt schon fast an ein – allerdings berechtigtes – Mantra der Arbeitgeber, dass sie ohne Personenfreizügigkeit nicht überleben könnten. Das hat zwei Gründe: Erstens ist es für die Unternehmen sehr interessant bis nahezu unumgänglich, den Rekrutierungsradius über die Schweizer Grenzen auszudehnen, wenn es darum geht, Fachkräfte zu finden, die das Unternehmen vorantreiben. Zweitens ist die Personenfreizügigkeit eng an alle anderen Freihandelsabkommen beziehungsweise die bilateralen Verträge mit der EU geknüpft. Würden diese aufgekündigt, wäre die Schweiz ziemlich isoliert. Für die Wirtschaft, die auf Handelsaustausch angewiesen ist, wäre das untragbar.
Dieses Faktum darf aber nicht zu einem Blanko-Check für die Personenfreizügigkeit verkommen. Deren Effekte auf den Arbeitsmarkt müssen zwingend verfolgt werden, damit man rechtzeitig Massnahmen ergreifen könnte, sollten sich Schwierigkeiten abzeichnen. Die bereits existierenden flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit sind zwar mit Bürokratie verbunden und schränken die Marktfreiheit zum Teil beträchtlich ein. Trotzdem ist es mit Blick aufs Ganze besser, allfällige Negativeffekte der Zuwanderung abzufedern statt am Ende des Tages das Kind Personenfreizügigkeit mit dem Bade auszuschütten.
Personenfreizügigkeit und Lohnniveau
Darum ist die kürzlich erschienene Studie der Universität Genf2 über die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf die Löhne in der Schweiz absolut begrüssenswert. In dieser vom Seco beauftragten Studie wird ein politisch brisantes Thema nüchtern analysiert. Und die Ergebnisse sind – teilweise sogar überraschend – beruhigend.
Insgesamt stellen die Autoren der Universität Genf keinen Lohndruck bei Schweizer Arbeitnehmenden infolge der Personenfreizügigkeit fest. Entgegen weit verbreiteter Sorgen wird sogar eine leicht positive Wirkung der Personenfreizügigkeit auf die Löhne von Arbeitnehmenden mit nur primärem Ausbildungsabschluss – also ohne Berufsbildung – festgestellt. Die Wissenschaftler der Uni Genf erklären das folgendermassen: Lohndruck entsteht dann, wenn einheimische und ausländische Arbeitskräfte einer bestimmten Arbeitnehmergruppe (die bezüglich Bildungsstand und Berufserfahrung vergleichbar ist) ohne Schwierigkeiten gegeneinander ausgetauscht werden können. Die Studie kommt aber zum Schluss, dass einheimische und ausländische Arbeitskräfte in der Schweiz generell nur begrenzt austauschbar sind. Und dies gelte umso mehr, wenn der Bildungsstand niedrig ist. Wenig qualifizierte Zugewanderte stellen laut der Studie deshalb keine direkte Konkurrenz für die Einheimischen dar. Das ist eine ausserordentlich erfreuliche Beobachtung! Auf Arbeitnehmende mit sekundärer Ausbildung – das heisst mit Lehrabschluss oder Matura – habe die Personenfreizügigkeit nur geringfügigen und generell positiven Einfluss, so ein weiteres Studienergebnis.
Als eheste Verlierer der Personenfreizügigkeit bezeichnen die Studien-Autoren Arbeitnehmende mit tertiärer Ausbildung (Universität, Fachhochschule oder höhere Berufsausbildung) und gleichzeitig mittlerer Berufserfahrung (6 bis 25 Jahre). Im Vergleich mit einem Szenario, bei dem die Ausländeranteile seit 2004 konstant geblieben wären, wären die Reallöhne dieser Tertiärgebildeten bis maximal 1,6 Prozent höher ausgefallen.
Im gut qualifizierten Segment spielt offenbar eine leichte Konkurrenz zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Die Zahl der Ausländer hat in der Gruppe der Gutverdienenden auch am stärksten zugenommen. In diesem Bereich sind aber zugleich die Löhne am meisten angestiegen. Insgesamt sind die Reallöhne der 10 Prozent Bestverdienenden zwischen 2004 und 2010 um 7 Prozent gewachsen. Der Medianlohn hat im Vergleich dazu um nur 2,6 Prozent zugenommen. Anders gesagt: Ohne Zuwanderungs-Konkurrenz unter den Gutqualifizierten wäre deren Lohnanstieg noch höher ausgefallen.
Zuwanderung und Arbeitslosigkeit
Die Erwerbstätigen in der Schweiz haben bezüglich ihrer Löhne unter der Personenfreizügigkeit also nicht gelitten. Wie steht es aber um die Erwerbslosen? Ein erster Blick auf die Statistik (siehe Grafik) gibt auch in dieser Hinsicht, allerdings etwas weniger deutlich, Entwarnung: Innerhalb der letzten 20 Jahre sind die Erwerbslosen-Minima Boom für Boom – Anfang der Neunziger, 2001 und 2008 – leicht angestiegen. Ob das auf die Personenfreizügigkeit zurückzuführen ist, kann man aus der blossen Betrachtung der Statistik nicht beurteilen. Auffällig ist allerdings, dass der Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit bereits vor der Einführung der Personenfreizügigkeit eingesetzt hat. Die Vermutung liegt daher nahe, dass Phänomene wie die Globalisierung und der technologische Fortschritt in wesentlichen Teilen für diese Entwicklung der Erwerbslosenquote mitverantwortlich sind. Die Erwerbslosen-Maxima haben sich in den letzten 20 Jahren dagegen weniger deutlich verändert und liegen seit Mitte der Neunzigerjahre in jeder Rezession auf einem jeweils ähnlichen Niveau.
Insgesamt hat sich die Erwerbslosigkeit seit Einführung der Personenfreizügigkeit also nicht wesentlich verändert. Die Erwerbslosenquote der ausländischen Bevölkerung liegt zwar deutlich über dem Durchschnitt. Die Zugewanderten machen aber nur einen kleinen Teil dieser Gruppe aus. Den Grossteil bilden Ausländer, die schon seit Jahren in der Schweiz leben. Diese Differenzierung ist wichtig, wenn es darum geht, über die Effekte der Zuwanderung zu urteilen.
Was bedeutet das für die Zukunft?
Dem Schweizer Arbeitsmarkt ist es gelungen, die Zuwanderung gut zu integrieren. Die Sorgen der Bevölkerung müssen dennoch sehr ernst genommen werden – ob sie nun direkt, indirekt oder nur sehr wenig mit der Personenfreizügigkeit zusammenhängen. Dank dem direktdemokratischen System der Schweiz kann man die Befindlichkeit der Bevölkerung nicht ignorieren. Wenn ihre Präferenzen zu weit von den Projekten der Politik divergieren, wird die Schweiz unsteuerbar. Eine Radikalisierung im Abstimmungsverhalten der Schweizer Stimmbevölkerung hat klarerweise bereits stattgefunden. Es wurden in den letzten paar Jahren deutlich mehr Initiativen angenommen als früher. Dies ist Ausdruck eines Unbehagens, dem sich die Politik, und auch die Wirtschaft, zum Wohle der Schweiz unbedingt annehmen müssen! Sie machen das besser früher als später, denn die nächsten sensiblen Abstimmungen – über die Löhne in der Schweiz sowie die Zuwanderung – stehen schon sehr bald an.
- 1 Quelle: Bundesamt für Statistik: PETRA, ESPOP, STATPOP, ZAR
- 2 Observatoire Universitaire de l’Emploi (2013). Les effets de la libre circulation des personnes sur les salaires en Suisse. Herausgegeben vom Seco: www.seco.admin.ch