HR Today Nr. 3/2016: Porträt

«Wir brauchen keine Rambos»

Martin Weissleder wirkt seit 21 Jahren für die Eidgenössische Zollverwaltung (EZV), mit über 4800 Profilen vom Grenzwächter bis zum Zollexperten die grösste zivile Verwaltungseinheit der Schweiz, die mit rund 25 Milliarden Franken etwa einen Drittel des Bundeshaushalts beschafft. Seit drei Jahren leitet er die Abteilung Personal und Ausbildung, nachdem er als langjähriger Ausbildungschef ein bemerkenswertes Jobrotationsprojekt initiiert hatte, das in einer tief greifenden Reorganisation mündete.

Der HR- und Ausbildungschef der Eidgenössischen Zollverwaltung legt von Beginn weg ein gesundes Selbstbewusstsein an den Tag: «Viele der sogenannten HR-Trendthemen, von denen wir auch bei Ihnen im Magazin lesen können, sind kalter Kaffee und bei uns bereits umgesetzt und etabliert!» Egal ob es sich um Home-Office, flexible Arbeitszeitmodelle, den Verzicht auf Arbeitszeiterfassung für das oberste Kader oder um den Einsitz von HR in der Geschäftsleitung handelt.

«Das ist unser pensionierter Oberzolldirektor», erklärt Martin Weissleder und deutet auf das Titelbild der internen Mitarbeiterzeitschrift, die das  Konterfei von Rudolf Dietrich zeigt, der Ende 2015 nach 21 Jahren – und über diese Zeitspanne vier Bundesräten rapportierend – als Oberzolldirektor in Pension ging. Genauso lange ist es her, dass Weissleder, damals 32-jährig als Ausbildungsverantwortlicher des Grenzwachtkorps in die EZV eingetreten war – noch vor Abschluss seines Studiums der Erziehungswissenschaften an der Universität Bern. Der Abtritt von «Ruedi» Dietrich nach 21 Jahren sei schon prägend gewesen, habe er doch eine mitarbeiterorientierte Kultur der Transparenz, Offenheit und des Vertrauens geprägt. Umso mehr wolle er nun den mit seinem preisgekrönten Jobrotationsprojekt «Bien vu» eingeschlagenen Weg in diese Richtung weiterverfolgen.

Zur Person

Dr. Martin Weissleder (52) wird am 24. Mai 1963 in Kreuzlingen geboren. In Bern besucht er das Lehrerseminar. Vor dem Studium der Erziehungswissenschaften an der Universität Bern jobbt er als Gruppenleiter in einem Heim für schwer erziehbare Knaben und Mädchen. 1994 tritt er als Ausbildungsverantwortlicher des Grenzwachtkorps in die Eidgenössische Zollverwaltung ein und leitet die Grenzwachtschule. 1999 wird er zum Chef Ausbildung der gesamten Zollverwaltung und 2013 zum Chef Personal und Ausbildung ernannt mit Einsitz in der Geschäftsleitung. Weissleder verfügt über einen MBA Executive Master in HR und eine Promotion in Erziehungswissenschaften. Er ist verheiratet, Vater zweier erwachsener Kinder und wohnt in Kerzers. Er spielt aktiv Wasserball bei Fribourg Natation und hält Lehraufträge an der Fachhochschule Bern sowie am Schweizerischen Polizeiinstitut.

Gegen das Silodenken

Das Projekt «Bien vu» war das Resultat einer Reihe von Kaderseminaren in den Jahren 2008 und 2009, die Martin Weissleder als Ausbildungschef der EZV angestossen hatte. Ausgangspunkt dafür war eine Kaderbefragung, die ergeben hatte, dass die Zentrale in Bern insbesondere in den Aussenstellen der Zollverwaltung als ausnehmend veränderungsresistent wahrgenommen wurde. Kritisiert wurden namentlich ein Silodenken, komplizierte Prozesse und Doppelspurigkeiten.

«Meine Intention und Vision war es, die verantwortlichen Kader zuerst emotional abzuholen, denn ein solches Projekt ist aus meiner Sicht eine Frage des Herzens und nicht des Kopfs.» Weissleders Idee bestand darin, «mit dem Instrument einer Jobrotation auf höchster Geschäftsleitungsstufe einen Perspektivenwechsel herbeizuführen». Dabei war es ihm ein Anliegen, «keinesfalls eine pseudohafte Jobrotation als Führungsspielchen zu initiieren». Weissleder schwebte vielmehr ein tief greifender Ansatz vor: Und zwar ausgehend vom AKV der einzelnen Geschäftsleitungsmitglieder. «Mir ging es darum, dass die an der Rotation freiwillig teilnehmenden GL-Mitglieder die Aufgaben, Kompetenzen und die Verantwortung eines Kollegen für mindestens fünf Wochen komplett vor Ort übernehmen und Probleme nur im Notfall über den eigentlichen Jobinhaber eskalieren.» Damit verbunden war auch ein Auftrag, die angetroffene Situation betreffend Prozesse und Schnittstellen anhand eines strukturierten Fragebogens zu protokollieren sowie einen Abschlussbericht mit Veränderungs- und Optimierungsvorschlägen zu verfassen.

«Als ich die Idee in der GL präsentierte, haben viele Betroffene gesagt, das gehe nicht – aus zig Gründen», erinnert sich Weissleder. «Natürlich musste ich auch ein wenig lobbyieren, das gehört dazu.» Man gehe ja nicht blindlings in ein solches Projekt hinein. Mit der Rückendeckung des Oberzolldirektors, der sich die Gegenargumente anhörte, am Schluss aber klar für das «Experiment» war, wurde das Projekt konkret.

Preisgekrönte Jobrotation

Es zeigte sich, dass die anfänglichen Ängste unbegründet 
waren. «Der tiefgreifende Perspektivenwechsel mit einem neuen Chef, der von aussen kam, war elementar», erinnert sich Weissleder. «Die Interim-Chefs brachten eine unverstellte Sichtweise ein, mit der vieles ins Rollen kam.» Nicht zuletzt, weil sich die Mitarbeitenden plötzlich auch in anderen Rollen einbringen konnten. «Das Rotationsprojekt führte unter anderem letztlich zur Erkenntnis, dass wir die Oberzolldirektion (OZD) zur Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen grundlegend reorganisieren müssen, und ich kann Ihnen versichern, dass die OZD heute ganz anders aufgestellt ist, es blieb sozusagen kein Stein auf dem anderen.» So habe man zunächst die Arbeitsprozesse der 700 Leute, die in Bern arbeiten, grundlegend neu organisiert. «Wir hatten vor der Reorganisation in unserer Workforce-Planung einen um rund 50 Leute höheren Personalbestand angepeilt, der dank Synergien aus der Reorganisation heute um diese Zahl tiefer ist.»

Hand aufs Herz, ein durchschlagendes Erfolgsprojekt ohne Widerstände und Schwachpunkte? «Doch, von den damals elf GL-Mitgliedern haben leider nur acht bei der Rotation mitgemacht. Das war der einzige Schwachpunkt», gibt Weissleder zu. «Aber alle, die nicht mitgemacht haben, haben es am Schluss bedauert.» Dem Projekt «Bien vu» wurde jedenfalls Ende November 2015 im Wettbewerb «Excellence publique 2015», der zwecks Innovationsförderung im öffentlichen Sektor ausgerichtet wird, der zweiten Platz verliehen. Weissleder ist sichtlich stolz auf den Erfolg des Projekts. Zumal «sein» Projekt obendrein im äusserst sehenswerten Dokumentarfilm «Musterbrecher» (www.musterbrecher.de Anm. d. Red.) aufgenommen wurde, der innovative HR-Modelle aus dem ganzen DACH-Raum porträtiert.

Mehrwert statt heisse Luft

«Letztes Jahr habe ich innerhalb meiner HR-Abteilung mit allen Leitern der HR-Centern ebenfalls ein Rotationsprojekt durchgeführt.» Alle durften für drei Wochen mit einem Kollegen tauschen. «Ich selbst habe für vier Wochen meinen Arbeitsplatz ins Tessin verlegt und von Lugano aus meinen Job gemacht.» Er verfechte heute noch überzeugter «eine dezentrale Organisations-Philosophie ohne Wasserkopf in Bern». Auch, was HR betrifft: «Ich bin überzeugt, dass operatives HR und die Ausbildung nahe bei den Leuten sein muss.» Von den insgesamt 80 Mitarbeitenden (FTE) in seiner Abteilung arbeiten dezentral je sechs bis acht HR-Mitarbeitende in den fünf HR-Centern an der Front. «Durch diesen Perspektivwechsel ist auch in meinem Bereich die Zusammenarbeit innerhalb des HR viel intensiver geworden.» Früher hätte ein deutlich grösseres «Gärtlidenken» vorgeherrscht.

Die Reorganisation sei insofern auch eine Chance für die erfolgreiche Positionierung der Abteilung Personal und Ausbildung in der Organisation als Ganzes gewesen. «Am Anfang hatten viele über die Zusatzbelastung gestöhnt und mussten auf die Zähne beissen», erinnert sich Weissleder. «Sie können aber nicht mit heisser Luft Akzeptanz und Legitimation schaffen, sondern nur mit Leistung, Facts und Aktivitäten mit konkretem Mehrwert.» Ausserdem liessen sich auch keine grossen HR-Strategien entwerfen, wenn man die HR-Administration nicht im Griff habe, wenngleich er seine Begeisterung für HR nicht unbedingt aus der HR-Administration beziehe. «Ich sage meinen Leuten: Ihr müsst euch jeden Abend eine oder zwei Minuten überlegen, was ihr heute zum Erfolg der Unternehmung beigetragen habt. Gibt es nichts, war es ein schlechter Arbeitstag.»

Umworbene Grenzwächter/-innen

Unter anderem ist Martin Weissleder brisanterweise in seiner Funktion aktuell auch für die Aufstockung des Schweizerischen Grenzwachtkorps um 48 Grenzwächter und deren Ausbildung verantwortlich. Und bereits soll von Teilen des Parlaments via Motionen und Interpellationen eine weitere «Tranche» über noch einmal rund 200 zusätzliche Grenzwächter gefordert werden. Aber das sei Sache der Politik. Er und sein Team hätten zu vollziehen, was die Politik verlange, erklärt er relativ emotionslos. «Unser Job ist es, geeignete Kandidatinnen und Kandidaten auf dem Markt zu finden und sie professionell auszubilden.» Er gebe aber zu, dass die Rekrutierung geeigneter Grenzwächter keine ganz triviale Herausforderung sei, zumal das Profil eines Grenzwächters der Schweizerischen Eidgenossenschaft sehr anspruchsvoll und weltweit einzigartig ist, da dieser in der Schweiz sowohl polizeiliche als auch zollspezifische Aufgaben in Personalunion wahrnimmt. Dieser Umstand mache das Schweizerische Grenzwachtkorps nicht nur international zu einer Besonderheit, sondern auch zu einem hocheffizienten und korruptionsresistenten und damit höchst ressourcenoptimiert ökonomischen Konzept.

Für die Strategie und Umsetzung der Grenzwächter-Rekrutierungskampagne habe man auch die Unterstützung externer Partner in Anspruch genommen. Etwa Beratungsdienstleistungen der Firma Prospective betreffend Massnahmen-Mix bei Personalmarketingfragen und deren Orchestrierung der Umsetzung. Dabei verfolge man keine «Schwarz-Weiss-Philosophie» à la «neue Medien versus alte Medien». Gutes Marketing beginne zuallererst bei einer guten Reputation und damit verbunden bei der Mund-zu-Mund-Propaganda. Auch seien Direktansprache-Aktionen an Publikumsmessen wie der BEA oder der OLMA mit Informationsständen sehr erfolgreich. Ebenso auch klassische Inserate: «Wir schreiben diese spezifischen Stellen vielleicht weniger in der NZZ aus – wo wir andere Profile suchen –, sondern eher in 20 Minuten oder in der grenznahen Lokalpresse bei den Leuten vor Ort.»

Neuerdings experimentiere man auch mit Videos und Kinowerbung. Dabei gelte es noch an den Details zu feilen. Etwa die Frage, vor welchen Filmen man die Werbevideos platziere. «Vielleicht weniger vor einem Film mit Sylvester Stallone», erklärt Weissleder. «Wir brauchen keine Rambos an der Grenze.» Ob er eine Art gesteigertes «Missionsgefühl» wahrnehme von sich berufen fühlenden Patrioten? «Ich glaube, dass der Mehrheit der Leute in der Schweiz bewusst ist, dass wir keinen Zaun hochziehen und das Land in ein Reduit verwandeln können.» Sicher aber sei die Akzeptanz des Grenzwachtkorps generell deutlich gestiegen. «Image und Stellenwert haben sich durch die politischen Umstände verändert.» Er denke aber nicht, dass die Schweizer Bürger erwarten, «dass hinter jedem Baum und Stein ein bewaffneter Grenzwächter stehen muss».

Vevey statt Bern?

Neben den Grenzwächtern bilde man aber auch diverse weitere eidgenössisch anerkannte Berufe aus und habe auch Juristen, Ökonomen, Finanzfachleute und Informatiker unter Vertrag. Diese Vielfalt an Tätigkeiten und Kulturen mache seinen Job so spannend und abwechslungsreich. In fünf Jahren wolle er deshalb den genau gleichen Job machen. Und ein Wechsel in die Privatwirtschaft? Dazu sei er vielleicht etwas zu alt und er habe auch keine derartigen Ambitionen. «Ich bin nicht frustriert deswegen – einfach realistisch.» Die Luft sei dünn geworden. «Ich bin auch nicht auf Linkedin oder auf einer anderen Bewerberplattform, denn ich sehe noch viel Potenzial hier und mache meine Arbeit mit grosser Freude und Leidenschaft.» Vielleicht schätze er die Lage auch falsch ein «und Nestlé bietet mir morgen für 
einen HR-Job ein Millionenjahresgehalt – was meine Frau sicher freuen würde. Dann würde ich halt nach Vevey pendeln statt nach Bern.»

Die Eidgenössische Zollverwaltung

Als grösste zivile 
Verwaltungseinheit des Bundes verfügt die Eidgenössische Zollverwaltung (EZV) mit 4800 Mitarbeitenden in allen Landesteilen der Schweiz über einen heterogenen Profilmix vom Zollfachmann, Grenzwächter Edelmetallprüfer bis zum Hunde-, Berg- und Bootsführer. Die Abteilung Personal und Ausbildung umfasst rund 80 Mitarbeitende. Insgesamt liefert die EZV jährlich rund 25 Milliarden Franken in die Bundeskasse – was etwa 30 Prozent des Bundeshaushalts ausmacht.

 

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos

Ehemaliger Chefredaktor HR Today.

Weitere Artikel von Simon Bühler

Das könnte Sie auch interessieren