«Wir haben die Menschen befähigt und uns dann als Funktion verabschiedet»
Heiko Fischer hat zehn Jahre als Personaler gearbeitet, unter anderem bei HP, eBay und beim Computerspielhersteller Crytek. Mittlerweile ist er aber so weit, dass er die HR-Funktion zu Gunsten des Modells Resourceful Humans abschaffen will.
Heiko Fischer: «Die Geschäftsleitung hat mehr Demokratie gewagt mit der Ansage: ‹Okay, wenn ihr kein HR wollt, dann bekommt ihr auch keins.›» (Foto: Gary Edwards)
Herr Fischer, Sie wollen das HR abschaffen. Wie kommen Sie darauf?
Heiko Fischer: Als ich 2008 als HR-Leiter bei dem mittelständischen Spielhersteller Crytek anfing, wollten die Mitarbeitenden die neugeschaffene Personalfunktion nicht. Sie dachten, dass sie jetzt in den Würgegriff der Bürokratie gerieten und auf dem besten Weg seien, ein starres Grossunternehmen zu werden, in dem die Kreativität den Bach runtergeht. Also hat die Geschäftsleitung mehr Demokratie gewagt mit der Ansage: «Okay, wenn ihr kein HR wollt, dann bekommt ihr auch keins. Aber natürlich müsst ihr ein paar Dinge lernen, die HR normalerweise macht.» Die Idee passte perfekt in die Ausprobier-Kultur, entsprang mehr dem Zufall als einer strategischen Richtung.
Und das hat funktioniert?
Das hat sich zum Selbstläufer entwickelt. Wir haben den Mitarbeitenden gezeigt, was es bedeutet, HR-Tätigkeiten selbst auszuführen. Plötzlich waren selbst mässig motivierte Teams mit Eifer dabei.
Geht es dann nicht drunter und drüber?
Es geht um Selbstorganisation. Nicht um Anarchie. Und diese neue Form der Arbeit will strukturiert und erlernt werden. Es gibt immer noch Regeln, die eingehalten werden müssen. Die Teams geben sich neue Strukturen und gehen untereinander Entwicklungsverträge ein, welche die Mitarbeitenden für Projekte ihrer Wahl verpflichten. Um das aufzugleisen, haben wir vom HR die Mitarbeitenden zu Beginn begleitet. Denn HR-Fähigkeiten wie Recruiting oder Personalentwicklung müssen ja erst einmal gelernt werden. Wir haben also zuerst die Menschen befähigt und uns dann als Funktion verabschiedet. Wenn Sie Menschen die Möglichkeit geben, ihr Potenzial auszuloten, tun sie das in der Regel. Und zwar wesentlich besser als durch Rollenprofile und Regularien.
Ist das für alle Unternehmen machbar?
Ich denke schon. Am Anfang meinte ich, es funktioniere nur in Unternehmen mit hochkomplexen und innovativen Produkten. Es gibt aber mittlerweile aus der verarbeitenden Industrie – Wagner & Co Solartechnik, Semco – oder dem Einzelhandel – DM-Drogerie Markt, Alnatura – Beispiele, die zeigen, dass sich das Konzept mit willigen und fähigen Mitarbeitenden auch andernorts wirtschaftlich sehr erfolgreich umsetzen lässt.
Was passiert mit dem Rest?
Die Unfähigen bekommen die Chance, fähig zu werden. Die anderen sollte man sowieso nicht im Unternehmen haben.
Gibt es am Ende dann gar kein HR mehr?
In der Reinkultur ist das der Anspruch. Das Gleiche gilt übrigens auch für Finanzen und Marketing, die ebenso am besten in den Teams abgedeckt werden. Entscheidend dabei ist die Geisteshaltung. Im Business-Partner-Modell ist immer ein HR-Berater vor Ort. Beim Modell Resourceful Humans (RH) bleibt letztlich vielleicht auch ein sehr kleines HR-Team bestehen, aber das ist immer noch besser als 100 im Overhead. Schon der Anspruch an das Ideal bringt neue Lösungen.
Wenn jeder alles kann, bleibt dann noch Zeit für die eigentlichen Tätigkeiten?
Ja. Wenn das Team lernt zu rekrutieren, nimmt es sich am Anfang mehr Zeit, um den richtigen Kandidaten zu identifizieren. Dafür geht das Onboarding dann schneller, Mitarbeiter sind schneller produktiv und bleiben länger. Das rechnet sich schnell, weil die Mittlerfunktion wegfällt. Bei RH ist die Investition vorneweg in die Befähigung statt hintenraus in die Symptombehandlung. Auch bei einer Marketingmassnahme können die Teams dann selbst die Rechnung aufstellen, ob sich etwas lohnt, und müssen nicht mühsam durch alle Kanäle.
Sind die Ausbildungen von HR- oder Marketingfachleuten dann alle für die Katz?
(Lacht.) Nein, für die Katz sind sie nicht. Aber überspitzt gesagt, neigt der Mensch dazu, sich in seine Kompetenzen reinzusteigern. Das ist auch einfacher als zu sagen: «Was wir im HR machen, ist nicht so weltbewegend, dass es nicht jemand anders auch lernen könnte.» Ausserdem liegt es in unserer Natur, uns möglichst unentbehrlich zu machen und auch nächsten Monat noch Gehalt zu bekommen. Bei echtem Spezialistenwissen, wie zum Beispiel Arbeitsrecht, in dem sich übrigens die meisten HR-Leute auch nicht 100-prozentig auskennen, muss dann natürlich Hilfe geholt werden. Das ist auch Teil der Befähigung von Mitarbeitenden: zu erkennen, wann sie allein nicht mehr weiterkommen.
Haben Sie ein Beispiel, wann das Team überfordert war?
Oh ja ... als die überwiegend jungen Herren eine gutaussehende Künstlerin rekrutiert haben und bei ihr etwas geringere Massstäbe als bei anderen für die Qualifizierung angelegt haben. Als sie dann merkten, dass es mit der Leistung nicht so passt, wollten sie vom HR, dass die Dame die Probezeit nicht übersteht. Das haben wir dann abgelehnt, und das Team musste das unangenehme Gespräch selbst führen. Das war zwar ein schwieriger Lernprozess, aber am Ende hat kein Team sorgfältiger rekrutiert als dieses.
Wie reagieren HR-Experten auf Ihre Thesen?
Ich hatte dazu letztens einen interessanten Austausch mit Dave Ulrich. Er fand das Konzept zwar spannend, meinte dann aber, wenn er ein Haus baue, wolle er auch einen Architekten dazu holen, sonst würden ja nachher die Wände schief stehen. Worauf ich anmerkte, dass er jedoch am Ende wohl nicht wolle, dass der Architekt mit einzieht. Im RH-Way sind Talent-, Kultur-, Organisations- und Produktentwicklung eben eine fokussierte Einheit. Denn entweder ist die Organisation so unnötig komplex, dass es Behelfsfunktionen bedarf, oder wir machen das Unternehmen so einfach, dass jeder sich auf den Kunden konzentrieren kann. Und dorthin kann sich HR entwickeln, wenn es diesen Weg konsequent geht. Da hören mir die meisten Personaler zwar interessiert zu, schütteln aber den Kopf und fragen, von welchem Planeten ich komme, wo Geschäftsführer so etwas mitmachten. Ausserdem denken sie, dass ich sie nicht wertschätze und nicht verstehe, wie wichtig HR ist.
Klingt ja auch so ...
Schon vor 80 Jahren hat der Unternehmer Dave Packard, Mitbegründer von HP, gesagt, dass Personalführung zu wichtig sei, um der Personalabteilung überlassen zu werden. Ich selbst bin in dritter Generation Personaler. Aber ich denke, dass wir Personaler der HR-Funktion viel zu wenig abverlangen. Uns fehlt der Mut. Wir sollten mehr Verantwortung für die gesamte Unternehmensethik und -kultur übernehmen. Der RH-Way soll ein Weckruf an das HR sein, sich viel mehr um die Selbständigkeit und Mündigkeit der Mitarbeitenden zu kümmern. So sehr, dass es uns im Idealfall gar nicht mehr braucht.
Was sind die häufigsten Argumente gegen Ihre Idee?
Das erste Argument ist meist: «Du kommst aus einer kuriosen Nische und hast keine Ahnung, wie es im Rest der Welt aussieht.» Ein weiteres ist: «Das bekommen wir nie am Betriebsrat vorbei.» Was ich aber am traurigsten finde, ist die Aussage: «Dazu ist unsere Belegschaft nicht fähig.»
Das Menschenbild in den Unternehmen ist also das Problem?
Sehr oft. Wenn Mitarbeiter wie Schafe behandelt werden, werden sie sich auch so verhalten. Schafe erfinden kein iPhone. Wir haben zwar als volkswirtschaftliches Betriebs-system die Demokratie, in den Unternehmen gehen wir aber davon aus, dass einige wenige meist wissen, was richtig und falsch ist. Natürlich kann nicht jeder Mitarbeiter ein 100-Prozent-Unternehmer sein. Aber wir sollten doch zumindest darauf hinarbeiten, dass jeder sein Potenzial maximieren kann. Das ist ein klarer Wettbewerbsvorteil.
Gibt es denn eine Klugheit der Masse?
Es wird oft unterstellt, dass alle Menschen Millionen verdienen wollen, wenn sie selbst darüber entscheiden können. Aber das ist nicht wahr. Die meisten können sehr realistisch einschätzen, was sie oder andere wert sind und was das Unternehmen sich leisten kann. Besonders wenn sie ihren Wert vor ihren Kollegen rechtfertigen sollen. Leider wird ihnen das oft nicht zugetraut. Und auch der Einzelne selbst traut sich oft wenig zu.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Bei Crytek haben wir uns lange überlegt, wie das ideale Bonussystem aussehen kann. Aber kein Mitarbeiter hatte je ein überzeugendes Bonussystem erlebt. Darum haben wir nach dem Facebook-Prinzip selbst ein System aufgebaut, in dem sich die Mitarbeitenden gegenseitig bewerten konnten und nach dem am Ende des Jahres der Bonus verteilt wurde.
Und? Hat es funktioniert?
Am Tag, nachdem es online ging, kam ein Mitarbeiter auf mich zu und äusserte Zweifel an dem System. Er hätte gerade einem begnadeten Programmierer 5 Sterne gegeben. Der Programmierer sei aber ein sozialer Einzelgänger und darum glaube er nicht, dass auch die anderen Mitarbeiter erkennen können, was der Programmierer für die Firma leistet. Am nächsten Tag kamen weitere Mitarbeiter mit der gleichen Befürchtung. Alle hatten also erkannt, was der Mitarbeiter kann und leistet, und er erhielt am Ende einen Bonus von 30 000 Euro. Die Leute haben also selbst nicht an ihre Objektivität geglaubt.
Warum führen Unternehmen ab einer gewissen Grösse eine HR-Abteilung ein?
Aus Mangel an Alternativen und Angst, Kontrolle oder Leistungsfähigkeit zu verlieren. Ich sage auch nicht, dass der RH-Way der eierlegenden Wollmilchsau gleicht, aber er ist wirksam. Für wissensbasierte Firmen ist er ein bewiesenermassen erfolgreiches Kontrastprogramm zum üblichen Command und Control. Letztlich geht es darum, zu verstehen, dass die Wirtschaft für die Menschen da ist. Leider erscheint es oft umgekehrt im Management. Und darum brauchen wir keine Human Resources, sondern Resourceful Humans.
Heiko Fischer
ist Gründer und Geschäftsführer von Resourceful Humans, einem 2011 gegründeten Beratungsunternehmen. Zuvor war er HR-Leiter bei Crytek, Europas grösstem Hersteller von Videospielen. Seine Karriere im HR begann 2001 bei Hewlett Packard, gefolgt von einem Ausflug zu eBay, wo er eine Abteilung im Kundendienst leitete. Fischer hat einen MsC in Organizational Change.