«Wir müssen aufhören zu glauben, das Wirtschaftswachstum sei die Lösung»
Der Philosophieprofessor Frithjof Bergmann bezeichnet die normale Arbeitswelt als «milde Krankheit». Das Konzept der Zukunft sei eine lokalisierte Wirtschaft, mit kleinen Betrieben und modernsten Technologien, in der alle das tun, was sie wirklich tun wollen. Dafür würde er am liebsten den grossen Firmen die Subventionen streichen.
Frithjof Bergmann: «Die Mehrheit der Menschen erleben ihre Arbeit als geist tötend. Sie sagen: ‹Ich arbeite nur, weil ich muss›»
Herr Bergmann, was läuft Ihrer Ansicht nach in der heutigen Arbeitswelt falsch?
Frithjof Bergmann: In den letzten 20 Jahren hat sich für eine grosse Anzahl von Menschen die Arbeit in jeder Art und Weise sukzessive verschlechtert: Sie werden überwacht, gemobbt, immer schlechter bezahlt und so weiter. Die Gründe dafür sehe ich in drei Hauptfaktoren: erstens die Automatisierung. Durch sie wurde viel Arbeit abgeschafft. Das übt Druck auf die ganze Arbeitswelt aus, der sich noch weiter verschärft. Der zweite Riesenfaktor ist die Globalisierung, auch die wird sehr unterschätzt. Dadurch sind in extremen Grössenordnungen Menschen dazugekommen, die Arbeit brauchen, für ganz geringe Löhne arbeiten und sehr gut ausgebildet sind. Der dritte Faktor ist die Landflucht, Die Menschen können sich nicht mehr von einem kleinen Stück Land ernähren, auf der Suche nach Arbeit wandern sie in die Stadt, was wieder einen grossen Druck ausübt. Hier im deutschsprachigen Europa ist dieser Druck geringer als in anderen Teilen der Welt.
Worin besteht Ihr Konzept der «Neuen Arbeit»? Wie soll Arbeit künftig aussehen?
Ich denke, die Entwicklung einer zweiten Wirtschaft, welche die alte Wirtschaft ergänzt und die Entwicklung in die Zukunft darstellt, tut Not. Diese Weiterentwicklung ist möglich und muss bald geschehen. Sie hat sehr viel mit Technologien zu tun, die zum Teil noch am Horizont sind, zum Teil aber auch schon genutzt werden können. Wir brauchen eine Entwicklung hin zu kleinen Betrieben. Die sind agiler, entwicklungsfähiger, innovativer und wettbewerbsfähiger. Grosse Betriebe sind langsam und schwerfällig und es gibt viele Beispiele für grosse Unternehmen, wie die Allianz, wie General Motors oder sogar Mercedes-Benz, denen es nicht mehr so gut geht. Deshalb brauchen wir die Entwicklung zum Kleinen. Die nächste Generation der Technologie sind Technologien, die die Entwicklung zur Herstellung im Kleinen unterstützen. Schon jetzt gibt es interessante Möglichkeiten, beispielsweise Elektrizität im Dorf oder im Stadtteil zu erzeugen.
Bleiben wir künftig in unseren Dörfern und machen alles selber?
Nein, das meine ich nicht. Es dreht sich nicht ums Selbermachen von beispielsweise Erdbeermarmelade oder Ziegenkäse. Es geht um kleine Betriebe, die trotzdem in dem, was sie machen, weltweit führend sein können. Mein Bild ist, dass sich mit modernsten Technologien kleine Betriebe aufbauen lassen.
Welche modernen Technologien meinen Sie?
Es gibt viele, aber ein sprichwörtliches Beispiel ist der Fabrikator, ein Gerät, mit dem sich sehr viel Unterschiedliches herstellen lässt. Wir wollen, dass sich die Jugend mit dem Fabrikator bekannt macht. Wir versuchen, ähnlich wie Internet-Cafés, Fabrikatoren-Cafés aufzubauen, wo man lernen kann, mit dem Fabrikator umzugehen, damit die jungen begabten Leute die Technologie der Zukunft erleben können.
Was kann denn der Fabrikator?
Der Fabrikator ist im Grunde genommen eine Minifabrik, die man täglich umprogrammieren kann. Das ist vergleichbar mit Computern, die auch ganz verschiedene Programme haben. Mit einem Fabrikator können Sie an einem Tag Lippenstift herstellen, am nächsten Kühlschrankteile und am übernächsten Schuhe. Mittlerweile können Fabrikatoren bis zu 50 verschiedene Materialien verarbeiten. Es wäre denkbar, dass acht oder zehn unterschiedliche Kleinbetriebe einzelne Teile herstellen. Die kann der Endkunde dann bestellen und mit Unterstützung selbst zusammenbauen. Das ist viel effizienter, billiger und ökonomischer. Und darin liegt die wirtschaftliche Überlegenheit des Kleinen gegenüber dem Grossen.
Aber widerspricht das nicht den Economies of scale?
Nein, die Massenerzeugung ist nicht billiger. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Herstellung eines Lippenstiftes kostet einen Centbetrag. Der wird nur deshalb so teuer, weil zusätzliche Kosten für Transport, Marketing, Verkauf und, und, und dazukommen, die bis zu 80 Prozent des Verkaufspreises ausmachen. Das vergessen die Economies of scale. Wenn man dezentral herstellt, kann man die Produkte fast zum Herstellungspreis verkaufen.
Sie wollen Menschen helfen herauszufinden, was sie wirklich wollen. Wie wollen sie das tun?
Dadurch dass sie es ausprobieren können. Dadurch, dass man sich sehr intensiv mit ihnen beschäftigt, auch wenn es sehr lange dauern kann, jemandem dabei zu helfen, sich einzugestehen, was er oder sie wirklich tun will auf dieser Erde. Es ist ein Wahnsinn, dass man in der Schule nicht die Möglichkeit hat, viele verschiedene Dinge auszuprobieren, und dass so viele Leute beispielsweise ein Jurastudium abschliessen, ohne je die Praxis kennen gelernt zu haben. Und dann erkennen sie nach drei Monaten plötzlich: «Das ist ja entsetzlich. Das ist das Letzte, was ich will.» Man kann nicht rauskriegen, ob man was will oder nicht, wenn man es nicht gemacht hat.
Ist es denn so, dass viele Menschen etwas tun, was sie nicht wollen?
Absolut. In der Welt, wie sie jetzt ist, tun viele Menschen irgendetwas. Sie wollen Arbeit um jeden Preis und machen alles, nur um irgendeine Arbeit zu haben. Der Unterschied zwischen einer Arbeit, die man liebt, und einer Arbeit, die man hasst, könnte gar nicht grösser sein. Und das hat auch Auswirkungen auf die Gesundheit, auf die Sexualität, auf alle Lebensbereiche. Und deshalb ist es wichtig, es Menschen möglich zu machen, eine Arbeit zu tun, die sie wirklich wollen. Und dazu brauchen wir die lokal orientierte Wirtschaft. In der wäre es möglich, dass Menschen Arbeit tun, die sie wirklich wollen.
Wenn alle nur noch das tun, was sie wollen, wer macht dann unangenehme Arbeit wie beispielsweise Müllabfuhr?
Erstens kann die Müllabfuhr weitgehend automatisiert werden. Zweitens ist bei solchen Aufgaben eine Art Rotationsprinzip denkbar. Ein Beispiel: Als Student drei Monate lang Taxi zu fahren, ist ein Abenteuer. Ein Leben lang Taxi zu fahren, ist furchtbar. Jeder Mensch sollte also die Möglichkeit haben, zum grösseren Teil das zu tun, was er will. Aber nur das tun, was man will, ist unmöglich und auch gar nicht gut. Es kann sehr erholsam sein, irgendwann etwas Blödes zu tun. Und sechs Monate lang Müllabfuhr ist vielleicht gar nicht so schlecht. Aber eben nur einmal im Leben oder einmal im Jahr und nicht ein ganzes Leben lang.
Arbeiten die Menschen nur, weil sie glauben, es zu müssen?
Es gibt auf der einen Seite viele Menschen, deren Arbeit ihrem Leben Sinn gibt und für die ihre Arbeit das Schönste im Leben ist. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht noch eine viel grössere Anzahl Menschen gibt, die durch ihre Arbeit verkrüppelt werden. Die Mehrheit der heute lebenden Menschen erlebt ihre Arbeit als geisttötend. Die Mehrzahl sagt, ich arbeite nur weil ich muss, und die sehen dann auch danach aus.
Warum verkrüppelt uns die Arbeit?
Es liegt am Druck der Arbeit, am Druck, den man sehr deutlich in der U-Bahn auf den Gesichtern der Leute sieht, wenn sie am Morgen zur Arbeit fahren oder am Abend nach Hause kommen. Am Druck vom Vorgesetzten, vom Wettbewerb, am Druck der Zeit. Das alles führt dazu, dass man unter der Arbeit leidet und dass sie einen erschöpft, ausbeutet, depressiv macht.
Wie können die Menschen ausbrechen aus diesem Muss-muss-muss?
Das Ausbrechen ist nicht leicht. Es reicht nicht, nur herauszufinden, was man wirklich will, und dann ist alles ganz einfach. Es ist sehr gefährlich, den Versuch zu machen, allein auszubrechen. Der Ausbruch muss gestützt werden, es müssen sich Gruppen zusammentun, die sich gegenseitig helfen und stärken. Der Staat kann da Unterstützung bieten.
Wie kann der Staat helfen?
Auf hunderte Arten und Weisen. Mit Subventionen, mit Steuererlässen und so weiter. Er könnte Betriebe unterstützen, in denen die Menschen die Möglichkeit haben, ausser der Arbeit auch Dinge zu tun, die ihre Lebenskosten reduzieren und in denen sie Dinge herstellen können, die sie zum Leben brauchen.
Was muss sich verändern, damit wir dorthin kommen?
Das Wichtigste ist, das Problem erst mal zu benennen und aufzuhören, mit der Illusion zu leben, dass das Wirtschaftswachstum alles in Ordnung bringt. Wir müssen uns über die drei grossen Faktoren klar werden und sagen, dass wir eine andere Art von Wirtschaft brauchen. In den Schulen sollte das Fach «Arbeit» unterrichtet werden, damit die Leute, die aus ihnen entlassen werden, etwas von der Arbeit verstehen und wissen, was sie wirklich tun wollen.
Woher kommt denn das Geld für die Umsetzung ihrer Pläne?
Vereinfacht gesagt: Aus den Subventionen, die man nicht mehr an die grossen Betriebe zahlt. Die neue Wirtschaft würde sich sehr schnell bezahlt machen. Mein Ansatz ist sehr unternehmerisch und wettbewerbsfähig. Die neuen Unternehmen würden das Geld verdienen, das sie brauchen.
Sie haben in mehreren Ländern Zentren für neue Arbeit gegründet. Was können die Menschen in diesen Zentren lernen?
Das Stichwort ist Aufstieg: Erstens lernt man in den Zentren den wirtschaftlichen Aufstieg aus der alten Wirtschaft in die neue. Zweitens den persönlichen Aufstieg: Man lernt, wie man rauskommt aus dem Erleiden der Arbeit, dem Empfinden der Arbeit als milder Krankheit, die Arbeit so zu erleben, dass sie einem Kraft und Sinn gibt und dass man das Gefühl hat, wirklich zu leben.
Sie haben einmal gesagt, früher hätten die Menschen zwei Stunden am Tag gearbeitet. Wollen Sie da wieder hin?
Um Gottes willen nein! Ich will, dass wir nicht 16 Stunden am Tag bis zur Erschöpfung arbeiten, wie das jetzt sehr viele tun, zum Beispiel Rechtsanwälte oder Manager. Ich will, dass wir bis zu einem Grad arbeiten, wo man das Gefühl hat, jetzt hat das Sinn, jetzt passt das zu mir, jetzt gibt mir das Kraft, jetzt ist das gut für mein Leben. Das hat auch nichts mit Spass zu tun, immer mehr begabte junge Menschen erwarten viel mehr als nur Spass. Sie wollen Arbeit, die ihnen hilft, wirklich zu leben, anstatt ihr Leben zu ruinieren.
Das klingt alles sehr gut. Aber wie realistisch ist das?
Da bin ich sehr hoffnungsvoll. Ich bin nicht mit dem Gefühl herangegangen, dass das von heute auf morgen gehen wird. Ich denke in Dekaden und ich finde, sehr viel in den letzten 20 Jahren hat sich schon in die richtige Richtung entwickelt.
In Teilen der Dritten Welt leben die Menschen oft ohne das, was wir als normale Arbeit bezeichnen. Sind sie glücklicher?
Ich würde sagen manchmal ja. Ich komme gerade aus Afrika, und wenn man sich so umschaut, auch in den ärmeren Dörfern, hat man den Eindruck. Wenn man in der Schweiz so lachen würde, wie man in Afrika lacht, dann würde die Polizei kommen, weil es einfach so laut ist.
Wie lange wird es noch dauern, bis sich Ihre Ideen durchsetzen?
Es geht in vielen Punkten jetzt schon ziemlich schnell. Zum Beispiel in Amerika, wo sich sehr viel sehr schnell verändert. Überraschenderweise legen sich jetzt dort sehr viele Menschen Gärten an. Zum einen weil sie zu wenig verdienen, zum anderen weil ihnen Gartenarbeit sympathisch ist. In Amerika ist deutlich geworden, dass das alte System nicht mehr funktioniert. Ein Drittel der Bevölkerung ist verarmt. Man wird sich klar darüber, dass es eine grundsätzliche Änderung braucht. Deshalb redet Obama auch dauernd von Change.
Sie sprechen von Gärten, die sich die Menschen anlegen. Geht der Trend wieder zum Selbstversorger?
Selbstverantwortung kommt jetzt wieder nach vorn. Ein Garten ist ein erster Schritt in die Richtung. Aber in Amerika ist auch die Idee der Gemeinschaft sehr stark, in der man viel herstellen kann. Nicht jeder für sich und nicht jeder mit einem Schrebergarten. Aber man ist enttäuscht und hat gelernt, sich nicht mehr auf die Riesenkonzerne zu verlassen. Man bewegt sich hin zur Self-Reliance, zur Freiheit des Auf-eigenen-Füssen-Stehens. Das ist in Amerika absolut im Gange, sehr viel mehr als in Europa.
- Mehr Informationen finden Sie in Bergmanns aktuellem Buch «Die Freiheit leben» und auf www.newwork-newculture.net.
In Südafrika hilft Bergman mit der «Neuen Arbeit» den Menschen in den Slums, selbst Kompost herzustellen und damit vertikale Gärten anzulegen. Die Projekte basieren auf Spenden, schon kleine Beträge helfen: Kontoinhaber: Lift Africa Technologies Bank: First National Bank Kontonummer: 62192899741
Swift Code: FIRNZAJJ 926