Recruiting

«Wir müssen die Kandidaten besser spüren»

Die Helsana betritt mit ihrer neuen «Rekrutierungsstrategie 2.0» Neuland und will so dem Fachkräftemangel in der Informatik trotzen. Gianni Raffi, verantwortlich für das Strategic Sourcing im Pilotprojekt «Direct Search», spricht potenzielle Kandidaten direkt an.

Herr Raffi, was müssen wir uns unter Strategic Sourcing konkret vorstellen?

Gianni Raffi: Das Suchen von interessanten Profilen in der eigenen Talent-Pool-Datenbank und auf Social-Media-Plattformen sowie die Direktansprache von spannenden potenziellen Kandidaten.

Dann sind Sie ein hauseigener Headhunter?

Genau. Meine Arbeit ist die eines klassischen Headhunters. Nur, dass ich eben kein externer Mandatsträger bin, sondern als Mitarbeiter der Helsana einen Wissensvorsprung habe. Ich kenne Bereich, Team und die Unternehmenskultur.

Sind Sie mit dieser neuen Rekrutierungsstrategie noch eine Ausnahme?

Im Prinzip ja. Im Finanzdienstleistungsbereich gibt es einige Unternehmen, die dieses Verfahren bereits praktizieren. Es haben sich sogar bereits kleinere Erfahrungsgruppen gebildet, in denen man sich austauschen kann. Im Industriebereich und im Handel ist diese Art der Rekrutierung noch unüblich. Helsana ist die erste Krankenkasse der Schweiz, die dieses Neuland durch ein Pilotprojekt betritt.

Welche Aufgaben beinhaltet Ihre Funktion als Verantwortlicher für das Recruitment 2.0?

Ich durchkämme die sozialen Netzwerke des World Wide Web nach potenziellen Kandidaten und schaue gezielt nach qualifizierten IT-Spezialisten. In diesem Bereich ist der Fachkräftemangel besonders gross. In der Schweiz fehlen derzeit rund 30 000 Personen im IT-Engineering-Umfeld. Bei Helsana haben wir im Moment 19 Vakanzen, inklusive neu geschaffener Positionen.

Wie kam es dazu, dass Helsana diesen neuen Weg im Recruiting eingeschlagen hat?

Informatikfachkräfte sind Mangel­ware. Übers Jahr suchen wir im Schnitt 40 Informatiker. Das wurde in letzter Zeit immer schwieriger. Man kann diese Personen jedoch finden, wenn man aktiv nach ihnen sucht. 90 Prozent der von Personalvermittlungen eingereichten Dossiers passen leider zu wenig genau aufs gesuchte Profil. Warum also nicht neue Wege gehen? Da kam der Gedanke auf, das strategische Sourcing, die proaktive Identifikation und Suche von Kandidaten, selbst zu übernehmen. Es gibt sehr viele gute Fachkräfte in der Schweiz, die offen sind für eine neue Herausforderung, obwohl sie sich nicht aktiv am Markt umschauen. Diese gilt es nun zu finden.

Wie gehen Sie dabei genau vor?

Ich durchforste die einzelnen Kanäle und selektiere nach Kriterien, aufgrund derer ich dann eine Resultateliste, eine sogenannte Longlist, erstelle. Aus dieser Liste wähle ich die geeignetsten Kandidaten aus und erstelle daraus eine Shortlist. Die ­Kriterien können beispielsweise Region, Erfahrung oder Schwerpunkte sein und unterscheiden sich je nach Position. Anschliessend kann ich diese Kandidaten gezielt ansprechen. Das Ergebnis ist überraschend. Viele Informatiker wissen gar nicht, dass sie auch in einer Krankenversicherung interessante Aufgaben und Perspektiven haben. Wir müssen mit dem «verstaubten» Image aufräumen.

Sie gehen mit Ihrer Recruitmentstrategie 2.0 an die Öffentlichkeit, auch um andere Unternehmen darauf aufmerksam zu ­machen. Wird dadurch die Konkurrenz um die besten Informatiker nicht noch grös­ser?

Ob die Unternehmen die Mandate an externe Personalberater vergeben oder diese Direktsuche selbst in die Hand nehmen, das dürfte am Markt keine grossen Verschiebungen auslösen. Es hat ja auch immer schon Unternehmen gegeben, die über externes Executive Search um die besten Informatiker konkurriert haben.

Worin liegen nun die Vorteile Ihres Modells?

Es ist ein massgeblicher Unterschied, ob ich als externer Berater agiere oder als Mitarbeiter selbst für das Unternehmen auftrete. Ich spüre das Unternehmen besser als der vertrauteste externe Berater. Zudem ist dieser Weg zu einem wichtigen Marketinginstrument geworden. Nicht nur für das Unternehmen, sondern auch speziell für das HR. Ein entscheidender Vorteil ist die Transparenz für die Kandidaten. Sie wissen sofort, um welches Unternehmen es sich handelt, anders als wenn ein Headhunter dazwischengeschaltet wäre. Ich kann die Tätigkeit ganz genau beschreiben, kenne Fachgebiete, Teilgebiete und kenne die Anforderungen an den Kandidaten bestens, weil ein enger Austausch mit dem jeweiligen Linienverantwortlichen besteht. Der Kandidat respek­tive die Kandidatin kann auch direkt beim Linienverantwortlichen nachfragen und bekommt damit einen Vertrauensvorschuss. So können wir uns gegenseitig besser spüren und beide schneller entscheiden, ob es passt.

Sie sind im November mit dem Pilotprojekt gestartet, das zunächst auf ein Jahr befristet ist. Können Sie schon eine Zwischen­bilanz ziehen?

Das Projekt ist im Unternehmen breit abgestützt. Wir können bereits jetzt sagen, dass wir mit dieser Strategie 80 bis 90 Prozent der Stellen, die wir damit besetzen wollen, auch besetzen können. Im Moment ist die Suche per Direktansprache sogar effizienter als die Suche über klassische Stellenausschreibungen, die ja immer parallel laufen.

Worauf führen Sie Ihren Erfolg zurück?

Es kommt darauf an, wie man auf die interessanten Kandidaten zugeht. Wichtig sind Offenheit, Ehrlichkeit und Transparenz. Wenn ich merke, sie oder er würde für eine gewisse Stelle passen, versuche ich, den Kandidaten natürlich zu überzeugen. Das kann bisweilen schwierig sein. Es ist aber eine Frage des Fingerspitzengefühls. Ganz nach dem Motto: «Dranbleiben, aber nicht lästig werden».

Denken Sie, dass sich Strategic Sourcing weiter verbreiten wird?

Noch sind die Unternehmen nicht sehr offen dafür. Die meisten Recruiter schreiben ihre Stellen zwar auf Social-Media-Plattformen aus – unternehmen aber meistens nichts darüber hinaus. Sie gehen noch nicht so weit, die Kandidaten auch selbst zu suchen und anzusprechen. Ich denke, hier wird ein Umdenken stattfinden, insbesondere auch weil die jün­gere Generation anders tickt. Grössere Unternehmen werden für spezielle Ausrichtungen in Fachbereichen die Experten auf dem herkömmlichen Weg nicht mehr finden und selbst beginnen müssen, stärker auf aktive Direktansprache zu setzen.

Und die Headhunter arbeitslos machen?

Teilweise schon. Es werden aber sicher trotzdem noch genügend Mandate extern vergeben.

Gianni Raffi

ist Wirtschaftsinformatiker und wechselte nach elf Jahren Tätigkeit in diesem Fach ins HR. Seitdem verknüpft er seine IT-Kenntnisse mit der Suche nach Fach- und Führungskräften aus der Informatik. Bevor er als «Recruitment 2.0 Manager» das Pilotprojekt «Direct Search» bei Helsana übernahm, war er als externer Headhunter und Personalberater für die Finanzindustrie tätig.

 

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