Herr Korndörffer, an welchen Werten mangelt es Ihrer Meinung nach in der Wirtschaft?
Sven Korndörffer: Als wir 2004 die Wertekommission gründeten, hatten wir das Gefühl, dass unsere Generation sich nicht genügend mit dem Thema Werte auseinandersetzt. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat dann nachfolgend klar gezeigt, wohin fehlende Werteorientierung führen kann: zu einem
enormen Vertrauensverlust. Die Finanzkrise hat damit eindeutig das Bewusstsein von gelebten Werten in Märkten und Unternehmen und als Weg zu nachhaltiger Wertschöpfung geschärft. Heute können wir sagen: Es hat sich einiges verändert, Werte haben ein stärkeres Gewicht bekommen. Aber es bleibt sicher noch viel zu tun.
Schliessen Rendite und Werte sich denn aus?
Keineswegs! Manager aller Branchen stehen im Spannungsfeld zwischen Renditeerwartungen und Werten, das ist heute nicht anders als vor und während der Finanzkrise. Die grosse Mehrheit von Führungskräften ist integer. Aber es gibt immer wieder Ausnahmen – und gerade die verzerren das Bild des Managers in der Öffentlichkeit enorm.
Wie reagiert die Wirtschaft auf eine Wertekommission?
Anfangs wurden wir ein wenig als «Blümcheninitiative» belächelt. Inzwischen konnten wir aber viele Führungskräfte davon überzeugen, dass Wertegemeinschaften auch immer starke Leistungsgemeinschaften sind. Wenn Menschen miteinander agieren, für sich und andere Verantwortung übernehmen und ein Klima des Vertrauens herrscht, so wird dies eine grundsätzlich andere Leis-tungsbereitschaft hervorbringen als ein Klima des Misstrauens. Mittlerweile umfasst unser Netzwerk rund 1400 Führungskräfte, die sich in unseren regelmässig stattfindenden Werteforen austauschen.
Jeder redet über Werte, aber sie lassen sich schwer definieren. Sie haben in Ihrem Buch die sechs Grundwerte Integrität, Mut, Nachhaltigkeit, Respekt, Verantwortung und Vertrauen auf den Prüfstand gestellt und mit vielen Wirtschaftsbossen gesprochen. Wie ernst nehmen Führungskräfte ihre Rolle als Wertevermittler?
Nach meiner Wahrnehmung sehr ernst. Daher auch die Idee zu unserem Buch «Ihre Werte, bitte!», in welchem 50 Manager über alle Branchen hinweg, vom Automobilhersteller bis zum Weingutmanager, zeigen, welche eigene Überzeugung sie antreibt, Werte in ihrem Unternehmen zu leben und die Dinge so zu tun, wie sie es tun. Das Buch soll somit aufzeigen, dass es durchaus Vorbilder in der Wirtschaft gibt, an denen wir uns ausrichten können.
Warum haben Sie genau die erwähnten sechs Werte untersucht?
Wir haben in einem über ein Jahr währenden Prozess diese Werte immer wieder in Foren mit Führungskräften diskutiert und geschliffen. Klar war, es geht uns nicht um Leistungswerte, sondern um echte Grundwerte. Und da haben sich eben diese sechs Kernwerte, die wir in unserem Buch thematisieren, herauskristallisiert.
Welcher Wert hat bei den Führungskräften den höchsten Stellenwert?
Eine sinnvolle Hierarchie der Werte gibt es nicht. Doch nach meinem Eindruck herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass Vertrauen die Grundwährung jedweden Handelns ist. Das zeigt sich auch wieder überdeutlich in der aktuellen, weltweiten Staatsschuldenkrise.
Ist es nicht eine Gratwanderung, gleichermassen dem Unternehmen und der Gesellschaft verpflichtet zu sein?
Das sehe ich nicht so. Wer Verantwortung für Menschen im Unternehmen trägt, verpflichtet sich zugleich auch zur Übernahme von Verantwortung in der Gesellschaft. Dass dieser Dualismus langfristig erfolgreich ist, zeigen zum Beispiel Unternehmen wie Bertelsmann oder Oetker eindrucksvoll auf.
Was verstehen Sie unter werteorientierter Führung?
Nach meiner Erfahrung gehört neben der obligatorischen Fach- und Beurteilungskompetenz eine hohe soziale Kompetenz mit ins Zentrum des Anforderungsprofils einer jeden Führungskraft.
Was bedeutet das genau für die Praxis?
Gute Führungskräfte wissen um die fachlichen und die persönlichen Stärken und Schwächen ihrer Mitarbeiter. Sie setzen dieses Wissen ein, um Mitarbeiter zu motivieren, ihnen Gestaltungsspielräume zu geben und sie an ihren Aufgaben wachsen zu lassen. Zudem muss man gerade auch dann Verantwortung übernehmen, wenn eine Trennung von einem Mitarbeiter unausweichlich ist.
Inwiefern?
Mut zur Verantwortung heisst dann, sofern der Erwartungswert zwischen Führungskraft und Mitarbeiter nicht mehr übereinstimmt, dem Mitarbeiter eine Brücke in eine andere externe Zukunft zu bauen. Mitarbeiter im Unternehmen zu verschieben, weil man mit ihrer Leistung nicht zufrieden ist und man sich nicht traut, Verantwortung zu übernehmen, ist nicht fair. Weder dem Mitarbeiter noch dem Unternehmen gegenüber.
Beinhaltet die Frage nach den Werten nicht auch immer die Frage nach der Identität?
Selbstverständlich! Die Wertevermittlung geschieht durch das Vorleben von Werten durch Vorbilder in der Familie, der Schule und der Institutionen, in denen man aufwächst. Wenn in früher Kindheit Werte nicht vermittelt worden sind, ist es schwer, sie im Erwachsenenalter intrinsisch, also selbstverständlich und von innen heraus, zu leben. Wir brauchen in der Wirtschaft Führungskräfte, die durch Wahrhaftigkeit bestechen, ein klares Wertegerüst haben und in der Lage sind, diese Werte über alle Hierarchieebenen hinweg zu vermitteln. Damit prägen sie entscheidend die Identität eines Unternehmens.
Wie kann man im Einstellungsgespräch herausfinden, für welche Werte der Kandidat steht?
Es gibt inzwischen Möglichkeiten, das Werteprofil und die soziale Befähigung bei Einstellung von Führungskräften gezielt zu hinterfragen. Eine gesunde Menschenkenntnis ist dabei, neben wissenschaftlich fundierten Methoden, natürlich auch hilfreich. Es geht heute nicht mehr nur um Schulnoten, sondern um die Frage, ob die Person werteorientiert denken, handeln und somit führen kann.
Kann man denn sich selbst und seinen Werten immer treu bleiben, wenn man sich auch zwangsläufig den Unternehmens
regeln unterordnen muss?
Ja, definitiv. Die innere Überzeugung, also das eigene Wertegerüst, sollte jederzeit Grundlage des eigenen Handelns sein. Das ist ein hehrer Anspruch, den einzulösen nicht immer leicht ist. Dessen bin ich mir bewusst.Gleichzeitig wird mir die wohlfeile Ausrede, dass die Umstände wertekonformes Verhalten leider nicht zugelassen hätten, viel zu oft benutzt.
Wie setzen Sie als Bereichsleiter in Ihrer Bank Ihr persönliches Werteverständnis um?
Sie können über einen Kontrollmechanismus führen oder über das Prinzip Vertrauen, das sind zwei ganz unterschiedliche Ausrichtungen. Mein Führungsprinzip beruht klar auf Letzterem. Mir macht es Freude, meinen Mitarbeitern die Freiheiten zu geben, die sie befähigen, ihre Gestaltungskraft immer mit Blick auf die gesetzten Ziele nutzen zu können. Das ist ein Prinzip, was mir vorgelebt wurde und was ich für mich als sehr bereichernd empfunden habe.
Oft hört man: Die Finanzkrise war eine Wertekrise. Stimmen Sie dem zu?
Es gibt noch kein umfassendes Bild über die Ursachen der Krise. Aber sicher haben nicht nachhaltiges Agieren sowie fehlender Mut zur Verantwortung eine grosse Rolle gespielt. Nie zuvor hat eine ganze Zunft neben ihren Repräsentanten so schnell und gründlich ihren Kredit verspielt wie in den Jahren 2007 bis 2009.
Lässt sich das eingebüsste Image mit einer offenen Wertediskussion aufpolieren?
Kommunikation alleine reicht gewiss nicht, aber eine offene Diskussion ist sicher ein guter Anfang. Das Image eines Unternehmens lässt sich nur wieder herstellen, wenn eine glaubwürdige Strategie vorhanden ist. Dies setzt ein nachhaltig tragfähiges Geschäftsmodell, gute Produkte und vor allem engagierte und werteorientierte Führungskräfte voraus.
Findet der seit der Finanzkrise viel beschworene Wertewandel, eine Besinnung auf traditionelle Werte, wirklich statt?
Zunächst denke ich, dass wir gar keinen Wertewandel brauchen. Die Werte sind seit Jahrhunderten die gleichen. Sie sind keine Modeerscheinung. Es geht eher darum, immer wieder Bewusstsein für Werte zu schaffen. Es gibt genügend Indizien dafür, dass wir derzeit eine Phase erleben, in denen das Bewusstsein für die Bedeutung von Werten ausgeprägter ist als in den Jahren vor der Krise. Aber noch einmal: Es gibt keine gänzlich neuen Werte, sondern man muss die traditionellen Werte permanent mit Leben füllen. Aufwändig beschriebene Werte in einer Hochglanzbroschüre nützen niemandem. Die Frage ist vielmehr, wie erleben die Menschen im Unternehmen die Relevanz ihrer Werte.
Sie haben mit der Wertekommission auch einen guten Draht zu Nachwuchsführungskräften. Sollten Werte in der Ausbildung stärkeres Gewicht erhalten als bisher, und wie kann das erreicht werden?
Hier hat sich schon eine ganze Menge bewegt. An den Wirtschaftsfakultäten nimmt Ethik immer mehr Raum ein. Dies geht bis zu einer Art hippokratischen Eides für Manager. Den Studenten sollte eine breite Basis mit auf den Weg gegeben werden, die weit über das rein fachliche Wissen hinausgeht.
Wie hat sich das Werteverständnis von Nachwuchsführungskräften in den letzten Jahren verändert?
Nach meiner persönlichen Wahrnehmung stehen Nachwuchsführungskräfte ganz besonders unter dem Eindruck der bisherigen Finanz- und Schuldenkrisen. Das Bewusstsein hat sich daher sehr geschärft. Insofern wächst eine neue Generation von Führungskräften heran, die durch eigenes Erleben Bewusstsein vermitteln kann und will. Ich bin sehr optimistisch, dass diese Führungskräfte so führen, wie sie selbst geführt werden wollen.