«Wir werden selten mit einem Hund verjagt»
Peter Meier ist oberster Arbeitsinspektor des Kantons Zürich und Präsident der kantonalen Arbeitsinspektorate. Im Gespräch mit HR Today spricht er über einen typischen Arbeitstag, Freud und Leid im Umgang mit HR-Verantwortlichen und das Dauerbrenner-Thema der Arbeitszeiterfassung.
Peter Meier, Arbeitsinspektor des Kantons Zürich. (Bild: zVg)
Herr Meier, wie muss man sich den typischen Arbeitsalltag eines Arbeitsinspektors vorstellen?
Peter Meier: Ein wesentlicher Teil der Arbeit eines Arbeitsinspektors besteht aus Betriebsbesuchen. Dabei kann es sich um Beratungen, Überprüfungen und Kontrollen, bestimmte Messungen oder Bauabnahmen handeln. Der Arbeitsinspektor verbringt aber auch einige Zeit im Büro, wo er Berichte und Verfügungen schreibt, Arbeitszeitbewilligungen ausstellt, Plangenehmigungen und Planbegutachtungen von Umbau- oder Neubauobjekten verfasst oder Arbeitgeber wie auch Arbeitnehmer telefonisch berät.
Welche Aufgaben nehmen Sie am meisten in Anspruch?
Wir wollen keinen Gesetzesvollzug vom Schreibtisch aus machen, deshalb ist es für uns wichtig, die Situation vor Ort in den Betrieben zu kennen, Probleme im Gespräch zu lösen und zu beraten. Der Aussendienst ist also eine unserer Hauptaufgaben. Unfallprävention ist ein weiterer Schwerpunkt unserer Tätigkeit. Indem wir geplante Bau- oder Umbauvorhaben, bei denen es um zukünftige Arbeitsplätze geht, genau prüfen, können wir gute Voraussetzungen für die Arbeitssicherheit und den Gesundheitsschutz schaffen.
Zur Person
Dr. Peter Meier promovierte in Chemie. Nach diversen Stellen in der Lebensmittelindustrie und Medizinaltechnik in den Bereichen Qualitätssicherung, Qualitätsmanagement, Forschung und Entwicklung sowie Beratungstätigkeit im Bereich Zertifizierung und Akkreditierung von Qualitätsmanagementsystemen übernahm er die Leitung des kantonalen Lebensmittelinspektorats Aargau. Seit September 2000 verantwortet er als Mitglied der Geschäftsleitung und Sicherheitsingenieur die Leitung Arbeitsbedingungen (Arbeitsinspektorat) im Amt für Wirtschaft und Arbeit der Volkswirtschaftsdirektion Zürich. Meier ist Präsident der kantonalen Arbeitsinspektorate (IVA) und verheiratet.
Ihre Ansprechpersonen in den Firmen sind oft aus dem HR. Wie schätzen Sie den arbeitsgesetzlichen Wissensstand der HR-Zuständigen ein?
Die HR-Zuständigen haben insbesondere in mittleren und grossen Betrieben einen guten bis sehr guten Kenntnisstand der allgemeinen arbeitsgesetzlichen Grundlagen. Anspruchsvoller wird es, wenn es um spezifische gesetzliche Bestimmungen geht, mit denen die HR-Verantwortlichen im Alltag nicht konfrontiert sind. Auch der Wissensstand über gesetzliche Vorgaben im Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz ist oft unvollständig.
Wie werden Sie bei Kontrollen vor Ort in den Firmen empfangen?
Bei der überwiegenden Mehrheit der Besuche wird uns ein Espresso angeboten und wir werden nur sehr selten mit einem aggressiven Hund vom Betriebsgelände verjagt. Ein grosser Teil der Betriebe sieht uns als Berater und Partner. Manchmal sind sie ganz überrascht, dass sie für unseren «Service» nichts bezahlen müssen. Es ist ja auch so, dass unsere Besuche dazu dienen, allen Betrieben etwa gleich lange Spiesse zu verschaffen, auf dass nicht ein Mitkonkurrent einen Wettbewerbsvorteil erlangt, indem er gesetzliche Bestimmungen missachtet. Nur einzelne Betriebe fühlen sich durch unsere Besuche «belästigt», sei es, weil die zuständigen Personen keine Zeit haben, um mit uns zu sprechen, oder weil sie finden, dass sie bereits ausreichend von anderen staatlichen Stellen kontrolliert werden. Ein eher kühler Empfang kann sich auch ergeben, wenn wir Massnahmen bei Gesetzesverstössen anmahnen müssen, der Betrieb sich aber uneinsichtig zeigt.
Können Sie die eine oder andere Anekdote aus Ihrer Berufspraxis erzählen?
Tatsächlich wurden wir auch schon mit einem reich gedeckten Tisch mit Kaffee und Kuchen überrascht, an dem alle wichtigen Personen des Betriebs einschliesslich Personalvertretung sassen. Während des Zvieris gab es von den verantwortlichen Personen verschiedene Präsentationen über die Umsetzung des Arbeitssicherheits- und Gesundheitsschutzsystems im Betrieb. Es handelte sich um ein deutsches Unternehmen. Ich weiss nun nicht, ob eine derartige Willkommenskultur für deutsche Arbeitsinspektoren in allen Betrieben üblich ist. Auf der anderen Seite gab es aber auch Fälle, in denen mit der Willkommenskultur übertrieben wurde und den Inspektoren Leistungen – zum Beispiel der Besuch eines Weinguts – angeboten wurden, wofür sie dann im Gegenzug ein Auge zudrücken sollten. Das sind aber sehr seltene Fälle.
Wie würden Sie generell Freud und Leid Ihres Jobs beschreiben?
Grundsätzlich ist die Tätigkeit eines Arbeitsinspektors abwechslungsreich und spannend, kann er doch einerseits zur Berufsunfallprävention beitragen und sich andererseits in seinem Einflussbereich für Arbeitsbedingungen engagieren, welche die Gesundheit des Arbeitnehmenden schützen. Weniger erfüllend ist die tägliche Auseinandersetzung mit den unübersichtlichen und komplizierten Arbeitszeitbestimmungen im Arbeitsgesetz. Wohl jeder Arbeitsinspektor träumt hier von einem einfachen, klaren und sinnvollen neuen Gesetz.
Apropos Arbeitszeitbestimmungen: Die Revision der ArGV1 zum Arbeitszeiterfassungsrecht hat einigen Wirbel ausgelöst. Wie beurteilen Sie die Situation vier Monate nach der Einführung?
Wie immer wird nicht alles so heiss gegessen, wie es gekocht wird. Letztendlich betreffen die Änderungen nicht so viele Betriebe und das Interesse, die Arbeitszeiterfassung für bestimmte Personengruppen anzupassen, hält sich bei den Betrieben aus unserer Sicht in Grenzen. Dies sicher auch, weil dafür viele Vorbedingungen erfüllt werden müssen. Wie gut der Arbeitgeberpflicht der Arbeitszeiterfassung grundsätzlich nachgelebt wird, darüber kann ich keine generelle Aussage machen. Dieser Pflicht wird in unterschiedlichen Betrieben und Branchen unterschiedlich nachgekommen.
Die NZZ (sowie jüngst auch eine Demoscope-Umfrage) berichteten von Verhältnissen, die nahelegen, dass rund 30 Prozent aller Arbeitnehmenden keine Arbeitszeit erfassen. Unter der Maxime «Lohn für Leistung, statt für Präsenzzeit» gilt dies vor allem für Kader und Spezialisten. Sie sehen in viele Unternehmen hinein. Ist diese Zahl realistisch?
Ob jetzt genau diese Zahl von 30 Prozent oder eine Zahl von 17 Prozent stimmt, die eine Seco-Studie von 2012 ermittelte, weiss ich nicht. Zweifelsfrei gibt es aber einen nicht vernachlässigbaren Anteil von Arbeitnehmern, die keine Arbeitszeit erfassen, dies vor allem in der Finanzbranche, bei Versicherungen und in Medienhäusern.
Geht für Sie der Ansatz, Arbeitszeiterfassung auf Lohneinkommen unter 120'000 Franken pro Jahr zu beschränken, grundsätzlich in die richtige Richtung?
Ich denke, gesetzliche Bestimmungen sollten grundsätzlich nicht in Abhängigkeit einer Lohngrenze aufgestellt werden. Anstatt einer Lohngrenze sollten Überlegungen im Vordergrund stehen, wie möglichst einfache Arbeitszeitbestimmungen in der heutigen Arbeitswelt die Gesundheit der lohnabhängigen Angestellten schützen können. Auch eine Person, die deutlich mehr als 120'000 Franken verdient, kann nach ein paar Jahren aufgrund von Überarbeitung arbeitsunfähig werden und dann Kosten verursachen, die letztendlich die Allgemeinheit trägt.
Als Vollzugsbehörde stehen die Arbeitsinspektorate quasi zwischen Hammer und Amboss von Gesetzgeber und Wirtschaft. Können Sie Ihre Lage etwas genauer beschreiben?
Das stimmt, wir machen die Gesetze nicht, wir vollziehen sie. Allerdings sind gewisse Bestimmungen in der Praxis aus unserer Sicht sehr schwierig zu kontrollieren. Auch sehen wir manchmal in bestimmten Branchen die Schwierigkeiten in der Praxis, einzelnen Arbeitszeitbestimmungen nachzukommen. Wir stehen in ständigem Kontakt mit dem Seco und haben auf diesem Weg auch schon kleine Änderungen auf Verordnungsebene anregen können. Grundsätzlich haben wir jedoch nur sehr begrenzte Mitsprachemöglichkeiten. Der Gesetzesvollzug lässt aber einen gewissen Gestaltungsspielraum zu, der auch genutzt wird.
Welche Signale erhalten Sie seitens HR?
Es kommt immer wieder vor, dass wir dem HR für Anliegen im Personalbereich gegenüber der Firmenleitung den Rücken stärken können, wenn diese Anliegen im Zusammenhang mit gesetzlichen Bestimmungen des Arbeitsgesetzes stehen. Auf der anderen Seite gibt es aber vom HR auch Klagen über zu komplizierte oder zu starre gesetzliche Arbeitszeitbestimmungen.
Als Präsident des Verbands aller kantonalen Arbeitsinspektorate (IVA) haben Sie auch in der Presse Alarm geschlagen. Namentlich warnten Sie anfangs Jahr in der Handelszeitung vor einem «Papierkrieg» und davor, dass die Arbeitsinspektorate zu «Lohnpolizisten» mutieren. Wie zuversichtlich sind Sie, dass Ihre Warnung vom Seco erhört wird?
Nicht sehr zuversichtlich.
Zu welchem Verhalten raten Sie HR-Verantwortlichen in der aktuellen Situation konkret?
Das Arbeitsgesetz gibt Leitplanken vor, an die man sich halten muss. Innerhalb dieser Leitplanken gibt es aber einen Gestaltungsspielraum, der von vielen HR-Verantwortlichen oft nicht gesehen wird. Allein die Art der Arbeitszeiterfassung ist auf sehr verschiedene Weisen, zum Beispiel mit Hilfe eines Smartphones, möglich. Ich rate also den HR-Verantwortlichen, den Gestaltungsspielraum entsprechend ihren spezifischen Betriebsbedürfnissen zu nutzen und sich beim Seco oder beim kantonalen Arbeitsinspektorat zu informieren oder beraten zu lassen.
Wie liesse sich aus Ihrer Sicht die derzeitige Konfusion am besten beheben?
Das Beste wäre schon ein von Grund auf neues, zeitgemässes Arbeitsgesetz mit klaren und einfachen, aber gleichzeitig verbindlichen und gut kontrollierbaren Regeln. Dies ist aber momentan politisch offensichtlich nicht möglich.