Ressource Wissen

Wissensbilanz – ein Modell für die 
Bewertung des intellektuellen Kapitals

Im Zuge der Globalisierung hängt die Existenz von Unternehmen und von Arbeitsplätzen immer mehr von Wissensunterschieden ab. Zum kritischen Erfolgspotenzial gehören die immateriellen Faktoren wie Human-, Struktur- und Beziehungskapital – Werte, die heute in kaum einer Bilanz erscheinen.

Das immaterielle Kapital umfasst alle Werte, die nur schwer in Zahlen zu fassen sind, aber eindeutige Wirkung auf den unternehmerischen Erfolg haben. In einer globalen Studie kommt das Beratungsunternehmen Brand Finance zum Schluss, dass Schweizer Unternehmen weltweit den höchsten Prozentsatz an immateriellem Wert aufweisen. Dieser entspricht 76 Prozent des Gesamtwerts der im SMI enthalten Unternehmen.

Warum eine Wissensbilanz?

Zur Erfassung und Bewertung des immateriellen Vermögens im Unternehmen eignen sich Wissensbilanzen. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der Fragestellung «Wie messen wir den Wissensbestand und die Wissensnutzung und wie steuern wir die Entwicklung unseres Wissens heute und in Zukunft?» Eine Wissensbilanz weist in strukturierter Form das Vermögen eines Unternehmens aus, das sich hinter den Wissensressourcen (Mitarbeitende, Kunden und Prozesse) verbirgt, jedoch nicht direkt greifbar, aber entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg in der Zukunft ist – das sogenannte intellektuelle Kapital.

Das Wort Wissensbilanz verleitet zur Annahme, dass es sich hier um eine Bilanz im eigentlichen Sinne (Aktiven, Passiven) handelt – dem ist aber ausdrücklich nicht so. Die Wissensbilanz dient gleichzeitig einer systematischen Strategie- und Organisationsentwicklung. Sie schafft Transparenz über die grundsätzliche Ausrichtung der Organisation und ihre strategische Prioritäten. Wissensbilanzen finden hohe Akzeptanz bei Kreditgebern und Partnern, die dadurch mehr Transparenz erhalten über interne Strukturen, Kompetenzen im Unternehmen, die Unternehmenskultur und andere Faktoren, die auf die Wertschöpfungskette Einfluss nehmen. In Deutschland entwickelten und erprobten seit 2004 namhafte Experten mit Unterstützung durch das deutsche Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit das Modell «Wissensbilanz – made in Germany» , dessen Anwendung über die Landesgrenzen hinaus zu befürworten ist.

Die bestimmenden Einflussfaktoren des intellektuellen Kapitals

Auf den Geschäftsprozess und die dazugehörigen Arbeitsprozesse wirkt eine grosse Anzahl immaterieller Einflussfaktoren des intellektuellen Kapitals ein. Was kennzeichnet einen Einflussfaktor? Einflussfaktoren haben bei Veränderung direkte oder indirekte Auswirkungen auf den Geschäftserfolg und die Zielerreichung der Organisation. Sie können sich auf materielle Sachverhalte (beispielsweise Maschinen, Anlagen), finanzielle Aspekte (Fremd- und Eigenkapital) sowie immaterielle Faktoren (Mitarbeiterkompetenzen, Unternehmenskultur) beziehen.

Das intellektuelle Kapital wird näher unterschieden und aufgeteilt in die Bestimmungsfaktoren

  • 
Humankapital (im Besitz des Mitarbeitenden)
  • 
Strukturkapital (im Besitz des Unternehmens)
  • 
Beziehungskapital (teilweise im Besitz des Mitarbeitenden)

Das Humankapital einer Organisation umfasst alle Eigenschaften und Fähigkeiten, welche die einzelnen Mitarbeiter in die Organisation mit einbringen. Es ist im Besitz des Mitarbeitenden und verlässt mit ihm die Organisation (Mitarbeiterkompetenzen, Mitarbeitermotivation, Mitarbeiterverhalten). Das Strukturkapital einer Organisation umfasst alle Strukturen, welche die Mitarbeitenden einsetzen, um in ihrer Gesamtheit die Geschäftstätigkeit durchzuführen. Das Strukturkapital ist im Besitz der Organisation und bleibt auch beim Verlassen einzelner Mitarbeitender weitgehend bestehen (geistiges Eigentum, Organisationskultur, Prozessorganisation, Informationstechnologie). Das Beziehungskapital einer Organisation umfasst alle Beziehungen zu unternehmensexternen Gruppen und Personen, welche in der Geschäftstätigkeit genutzt werden (Kundenbeziehungen, Lieferantenbeziehungen, Beziehungen zur Öffentlichkeit, zu Kapitalgebern).

Betrachtet man das intellektuelle Kapital und dessen Einfluss auf die Geschäftsprozesse genauer, kann das Unternehmen mit Hilfe einer Stärken-Schwächen-Analyse beurteilen, welchen Stellenwert die einzelnen Einflussfaktoren für die Organisation haben, ob sie besonders gut oder eher schwach ausgeprägt sind. Sie müssen zu Beginn transparent gemacht werden, damit die Auswirkungen von möglichen Veränderungen auf den Geschäftsprozess genau eingeschätzt werden können. Neu gewonnene Erkenntnisse führen dann in der Regel zu Anpassungen von Vision, Strategie und Massnahmen, um den Geschäftserfolg nachhaltig zu sichern.

Wesentlicher Nutzen einer Wissensbilanz

  • 
Erhöhte Transparenz, Nutzung und Weiterentwicklung von intellektuellem Kapital im Unternehmen
  • 
Verbesserte Aussenwirkung zu Kunden, Lieferanten, potenziellen Führungskräften, Universitäten, Fachhochschulen oder anderen Instituten (Stakeholder-Kommunikation)
  • 
Verbesserter Zugang zum Kapitalmarkt für solide Unternehmen
  • 
Erfüllung von rechtlichen Anforderungen an die Rechnungslegung (z.B. IFRS, Swiss GAAP FER u.a.)
  • 
Verbesserte Sensibilität zum Themenkreis «Wissen, Lernen, lernende Organisation»
  • 
Systematische Steuerung des Unternehmens, insbesondere auch in Projekten und Innovationen

Einsatz der Wissensbilanz 
in der Unternehmenspraxis

Im Folgenden soll das Modell am Beispiel des mittelständischen Unternehmens Reinisch AG in Karlsruhe dargestellt werden. Im Rahmen des Pilotprojekts des deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit hat Reinisch bereits im Jahr 2004 ihre erste Wissensbilanz erstellt, damals unterstützt von den Experten des AK Wissensbilanz. Es folgten die Wissensbilanz 2005, der Zwischenbericht 2006 und die Wissensbilanz 2007. Seit 2005 wendet Reinisch die Methode zur Analyse und Bewertung des intellektuellen Kapitals eigenständig an. Ebenfalls seit 2005 verwendet das Unternehmen statt Wissensbilanz den Titel Intellectual Capital Report (ICR). Auf Basis dieser regelmässig erstellten ICRs betreibt die Reinisch AG (Wissens-)Management und die Entwicklung des intellektuellen Kapitals als zentrale strategische Disziplinen. Dies erfolgt in den folgenden Schritten.

Strategie
Ausgehend von der Vision und der Unternehmensstrategie werden vom Vorstand die strategischen Ziele für das intellektuelle Kapital definiert. Ebenso die Elemente des Geschäftserfolgs, die erreicht werden sollen (Gewinn, Wachstum, Image usw.).

Bewertung
Ein Projektteam wird gebildet, das die Reinisch AG in ihrer Gesamtheit (verschiedene Hierarchiestufen, Bereiche und Standorte) möglichst gut repräsentiert. Das Team identifiziert die Faktoren des Human-, Struktur- und Beziehungskapitals, welche für den Unternehmenserfolg entscheidend sind (beispielsweise Motivation, Führungskompetenz, Prozessinnovation, Kundenbeziehungen). Anschliessend bewertet das Team den Ist-Zustand dieser Einflussfaktoren bezüglich Quantität, Qualität und Systematik (QQS-Bewertung) auf einer definierten Skala von 0 bis 120 Prozent.

  • 
Quantität: (Beispiel: Einflussfaktor «Mitarbeitende mit Fachausbildung») Wie viel haben wir davon? Ist die Menge ausreichend, um die strategischen Ziele zu erreichen?
  • 
Qualität: Wie gut ist das, was wir haben? Ist die Güte ausreichend, um die Ziele zu erreichen?
  • 
Systematik: Wie systematisch entwickeln wir den Faktor momentan? Ist das im Hinblick auf unsere Ziele ausreichend?

Die Wechselwirkungen (Wirkungsketten) der Faktoren aufeinander werden ebenfalls herausgearbeitet. Die Bewertungen können grafisch in verschiedenen Ansichten dargestellt werden, im Besonderen ist das Potenzial-Portfolio geeignet, sehr schnell die Ansatzpunkte für Veränderungen darzustellen (siehe Abbildung). In drei Workshops hat das Team so die unsichtbaren Einflussfaktoren sichtbar gemacht und kann diese aufgrund ihrer Einflussgewichtung und Positionierung nach der QQS-Bewertung besser beurteilen.

Analyse
Das intellektuelle Kapital ist durch die Arbeit des Projektteams transparent und damit steuerbar. Visualisiert in Diagrammen und Wirkungsnetzen wird deutlich, welche Teile des intellektuellen Kapitals im Unternehmen besonderen Einfluss auf den Geschäftserfolg haben. Das Management erhält als Ergebnis der Workshops starke Hinweise darauf, welche Faktoren sich besonders gut als Hebel eignen oder speziell entwickelt werden sollten, um positive Veränderungen im «System Reinisch AG» erreichen zu können.

Bericht
Die Bewertungs- und Analyseergebnisse werden im Intellectual Capital Report (ICR) zielgruppengerecht zusammengefasst und sowohl intern (an alle Mitarbeitenden) als auch extern (an Kunden, Partner, Stakeholder) kommuniziert.

Entwicklung
Auf Basis der Analyseergebnisse und unter Berücksichtigung weiterer Rahmenbedingungen erarbeitet das Projektteam geeignete Massnahmen zur Entwicklung des intellektuellen Kapitals, die an den identifizierten Hebeln ansetzen. Das sogenannte Intellectual Capital Development (ICD) der Reinisch AG ist nunmehr ein seit der ersten Wissensbilanz laufender Prozess. Erste Ergebnisse sind bereits umgesetzt, etwa die «Reinisch Academy» zur Systematisierung von Potenzialanalysen und darauf aufbauender zielgerichteter Fortbildung.

Am Anfang eines Prozesses, 
der Nachhaltigkeit verlangt

Der Vorstand der Reinisch AG ist überzeugt, mit dem beschriebenen Intellectual Capital Reporting & Development eine optimierte Steuerung und strategisch sinnvolle Entwicklung des intellektuellen Kapitals zu erreichen – zur nachhaltigen Sicherung und kontinuierlichen Steigerung des Geschäftserfolgs. Durch die Kommunikation nach innen und aussen wird eine Transparenz geschaffen, die sowohl von Mitarbeitenden als auch beispielsweise von Banken sehr geschätzt und honoriert wird. Das Unternehmen steht jedoch erst am Anfang eines Prozesses, der Nachhaltigkeit verlangt: Die Reinisch AG will daher den begonnenen Weg fortsetzen und auch in Zukunft im Rhythmus von zwei Jahren eine Wissensbilanz erstellen.

Zielgruppen und Situation in der Schweiz

Gespräche zeigen, dass die «Wissensbilanz – made in Germany» praktisch unbekannt ist. Entsprechende Entwicklungen in Europa, Japan, China sind höchstens Insidern bekannt. Erste Erkenntnisse zeigen aber, dass die systematische Erarbeitung des intellektuellen Kapitals sehr wohl erwünscht ist. Wenn das intellektuelle Kapital als eine strategische Komponente betrachtet wird, dann ist es die oberste Führungsebene in Unternehmen, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen muss. Deren Fachverantwortliche sollte der Personalleiter oder Human Ressource Manager sein. Die langjährige Praxis zeigt, dass in vielen schweizerischen Unternehmen der Personalleiter immer noch eine «edle Administrationsaufgabe» erfüllt und dem Management zudient. Wenn man sich bewusst wird, dass der HR Manager die Verantwortung für die «wichtigste Währung im Unternehmen» trägt, dann wäre diese Funktion zwingend in der Geschäftsleitung anzusiedeln und mit entsprechenden Kompetenzen auszustatten. Mit dem Intellectual Capital Report  (ICR) oder der Wissensbilanz erhält der Personalleiter ein Werkzeug, mit dem er die Organisationsentwicklung wesentlich besser beeinflussen sowie auch wertvollen Input in allfällig etablierte Balanced-Scorecard-Modelle liefern kann.

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Anja Flicker, Diplom-Bibliothekarin, 2003 von «Financial Times Deutschland», «Impulse» und Commerzbank als «Wissensmanagerin des Jahres» ausgezeichnet, ist bei Reinisch AG zuständig für Wissenslogistik und für das intellektuelle Kapital.

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Peter Weissmüller, Diplom-Betriebsökonom und EFQM Assessor, ist Strategieberater und Mitglied im Kompetenzzentrum Wissenskapital.

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