Zwischen Pille und Placebo – Suche nach einem Weg aus dem Wildwuchs
Alles ist Coaching, jeder ein Coach – diese inflationäre Verwendung der Begriffe ist der Weiterentwicklung der Coaching-Branche nicht eben zuträglich. Einen Weg aus dem Wildwuchs heraus könnte das Evidence-Based-Konzept weisen, das beispielsweise in der Psychotherapie weit verbreit ist.
Von Beratungsdienstleistungen fordert man heute etwas, das sich kurz mit WWW und U umschreiben lässt. Die drei Ws stehen für Wirtschaftlichkeit, Wirksamkeit und Wissenschaftlichkeit, das U für die Unbedenklichkeit. Wirkt Coaching? Und wenn es wirkt, stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis? Weiss man, warum, wann, in welchem Kontext und wie es bei welchen Personen wirkt? Und, last but not least, die Unbedenklichkeit: Wenn etwas wirkt, kann es auch schaden. Dauernde Abhängigkeit des Kunden vom Coach kann kaum ein erwünschtes Ergebnis sein.
Zunächst eine schlechte Nachricht. Wenn Coaching ein Medikament wäre, müsste es sofort vom Markt genommen werden. Es gibt bis zum heutigen Datum keine Wirksamkeitsstudie zu Coaching, die den Anforderungen der Medikamentenforschung auch nur näherungsweise genügen würde. Und, Hand aufs Herz, wer würde ein Medikament kaufen, dessen Wirkung nicht untersucht wurde?
Systematische Recherche, Analyse und Bewertung
Gott sei Dank ist Coaching kein Medikament. Man stelle sich eine Coaching-Doppelblind-Studie vor, wie sie in der Medikamentenforschung üblich ist: Weder der Coach noch der Coachee wissen, ob es sich bei der Beratung um Coaching handelt oder nicht. Eine absurde Vorstellung. Zudem gibt es keine Belege, die auf Unwirksamkeit oder gar generelle Schädlichkeit von Coaching hinweisen. Mehr als 20 Studien (vgl. Künzli 2006) zeigen: Coaching scheint zu wirken. Und dies auf den vielfältigsten Ebenen. Führungskräfte verbessern ihre Kompetenzen, erhöhen ihre Reflexionsfähigkeit, verändern ihr Beziehungsverhalten, finden zu angemessener Work-Life Balance, fühlen sich entlastet und verhelfen ihren Organisationen zu mehr Erfolg.
Es bleibt aber ein Wermutstropfen: Keine dieser Studien erreicht die oberste Qualitätsstufe der so genannten Evidence-Based-Forschung. Der Begriff stammt aus der Medizin: Evidence Based Medicine (EBM) bezeichnet einen Best-Practice-Ansatz, welcher sich auf eine systematische Recherche, Analyse und Bewertung von Belegen stützt, die für oder gegen die Wirksamkeit einer Behandlung sprechen.
Im engeren Sinne umfasst das Evidence-Based-Konzept verschiedene Qualitätsstufen, wobei Stufe I für den höchsten Evidenzgrad steht. Die höchste Qualitätsstufe erreichen nach herkömmlicher Sicht nur so genannte randomisierte Kontrollgruppenuntersuchungen (RCT, randomized control trials). Die Klienten werden zufällig auf eine Kontrollgruppe ohne Coaching und eine Versuchsgruppe mit Coaching verteilt. Nur so lässt sich eine Wirkung kausal auf die Behandlung zurückführen. Auf der tiefsten Stufe sind Einzelfallstudien und Aussagen von Experten angesiedelt.
Das klassische Modell der EBM wurde zu Recht als zu praxisfern (beispielsweise durch das Doppelblind-Kriterium) und zu stark an der Medikamentenforschung orientiert kritisiert. Aber auch gemessen an neuen, dem Gegenstand besser angemessenen Konzeptionen des EB-Modells (Leichsenring & Rüger 2004) erreichen erst vereinzelte Coaching-Studien (Greif, 2008) die höchste Stufe.
Ein freundliches Nebeneinander von Forschung und Praxis
Unter einer erweiterten Perspektive bedeutet evidenzgestütztes Coaching die Ausrichtung der Praxis auf das beste momentan verfügbare Wissen. Wobei das beste momentan verfügbare Wissen als Koproduktion aus dem Zusammenspiel zwischen Praxis und Forschung zustande kommt (Grant 2005). Die Delegation der Wissensproduktion an rein akademische Institutionen kann und darf damit nicht gemeint sein, ebenso wenig wie die Einengung der Methodik auf randomisierte Studien. Forschung soll nicht als wahrheitsprüfende Instanz, sondern als zusätzliche Reflexionsebene verstanden werden. Forschung und Praxis sind Umwelten für sich, welche sich im besten Fall gegenseitig befruchten. Momentan ist eher ein freundliches Nebeneinander zu verzeichnen. Aus Sicht von Coaches und deren Kunden, die gute Erfahrungen mit Coaching gemacht haben, mag der Bedarf nach einer evidenzgestützten Dienstleistung nicht dringend sein. In Zeiten aber, in denen Kunden schon für einfachste Produkte Herkunftsnachweise, Inhaltsangaben und Unbedenklichkeitserklärungen verlangen, wird die Frage nach der Effizienz und Effektivität von Coaching zunehmend aktuell. Bis die Butter beim Konsumenten landet, hat sie vielfache Kontrollmechanismen durchlaufen. Unter dem Label Coaching hingegen kann jeder anbieten, was er will.
In der Forderung nach Kontrollmechanismen liegt eine Chance
Sich in diesem Dschungel zu orientieren, ist für den einzelnen Verbraucher unmöglich. Coaching ist ein sensibler Bereich mit Themen wie Persönlichkeitsentwicklung und Gesundheitsprävention. Es erscheint zynisch, sich gerade hier auf Marktmechanismen zu verlassen, die die Spreu vom Weizen trennen. Die Übertragung dieses Gedankens auf den Medikamentenmarkt möchte man sich lieber nicht ausmalen. Hochflexible und komplexe Märkte brauchen Kontrollmechanismen im Dienste des Verbraucherschutzes. Verbraucherschutz ist aber auch Anbieterschutz. Langfristig werden auch Coaches davon profitieren, wenn sie eine Dienstleistung anbieten, für die sie Belege beibringen können, welche über individuelle Bekenntnisse zur Nützlichkeit hinausgehen.
Coaching ist den Kinderschuhen entwachsen. Die Zeiten der Gurus sind vorbei. Es sind nicht mehr Personen, die den Begriff Coaching nach Belieben definieren können. Coaching ist zu einer normalen Dienstleistung geworden, die in immer grösseren Mengen nachgefragt wird. Die Forderung nach Kontrollmechanismen darf daher als Zeichen einer «erwachsenen» Dienstleistung gewertet werden. Grosse Unternehmen haben dies bereits erkannt und werden heute schon selbst aktiv. Für psychologische Tests von externen Anbietern beispielsweise verlangen sie, dass sie gewisse Mindestanforderungen hinsichtlich Zweckmässigkeit und Zuverlässigkeit erfüllen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Kriterien auch auf das Coaching angewendet werden.
Was die Zukunft von Coaching anbelangt, sind nun Ausbildungsinstitute, Verbände, Praktizierende, Verantwortliche für die Personalentwicklung und Forschende gemeinsam gefordert, das Heft in die Hand zu nehmen und qualitativ hochstehende Evidenz für ihre Dienstleistung beizubringen. Welches die Beiträge der einzelnen Beteiligten sein könnten, soll nun kurz umrissen werden.
Forschung
Was Coaching bewirkt, was es nicht bewirkt und warum es wirkt, ist beschreibbar. Es braucht manchmal die Wunderfrage, aber sicher kein Wunder, um Wirkungen zu erzeugen. Hier gibt es noch einiges zu tun.
Coaching ist keine medizinische Intervention. Dementsprechend hat das medizinische Modell der Wirksamkeitsforschung keine Gültigkeit. Ein Vorschlag für hochwertige Studien nichtklinischer Art ist vorhanden (vgl. Leichsenring & Rüger 2004).
Die Coaching-Forschung hat die Theorien aus verwandten Gebieten wie der Allgemeinen Psychologie und der Klinischen Psychologie noch wenig zur Kenntnis genommen. Hier kann sich die Coachingforschung wichtige Anregungen holen.
Die Coaching-Welt gleicht mit ihrer Vielfalt einem Feuchtbiotop. Forschung braucht aber möglichst einheitliche Gegenstände. Vielfalt ist ein Wert für sich und soll nicht durch die Ansprüche der Forschung zerstört werden. Die Forschung muss Wege finden, sich dieser Vielfalt anzupassen.
Gute Coaching-Forschung ist zudem multimodal ausgerichtet. Sie
- ist theorieverankert,
- multiperspektivisch (Klient, Coach, Vorgesetzter, Mitarbeitender etc.),
- berücksichtigt die Zeitabhängigkeit von Wirkungen (kurz-, mittel- und langfristig),
- benutzt Indikatoren des Verhaltens und des Erleben,
- nimmt auf die verschiedenen Formen und Ausprägungen von Coaching Rücksicht,
- vergisst den Kontext nicht (das Unternehmensklima spielt eine Rolle),
- berücksichtigt ökonomische Aspekte (Preis-Leistungs-Verhältnis).
Es leuchtet ein, dass kein einzelnes Forschungsprojekt all diesen Anforderungen gerecht werden kann. Um diese Ansprüche einzulösen, braucht es nicht einzelne Studien, sondern internationale Programme und Kooperationen mit einer langfristigen Perspektive. Einzelne Institute mit ihrer primär an einzelne Personen und Standorte gebundenen Forschung können dies nicht leisten.
Ausbildungsinstitute
Aus der Psychotherapieforschung ist bekannt, dass die Diskussion zur Unter- oder Überlegenheit einer Schule oder Methode hinfällig ist. Die Unterschiede in den Wirkungen sind gering. Es gilt das Dodo-Verdikt: Alle haben gewonnen. In Zukunft wichtig sein werden aber folgende Punkte:
- transparentes Curriculum mit offen gelegten Bezügen zu den dahinter stehenden Theorien und Annahmen.
- Kompetenzmodelle mit erforderlichen Eingangskompetenzen und zu erreichenden Zielkompetenzen.
- Coaching ist eine psychologische Dienstleistung. Entsprechend sind Erkenntnisse aus diesem Gebiet in das Curriculum aufzunehmen. Gleiches gilt für verwandte Gebiete wie Neurowissenschaften, Pädagogik, Soziologie etc.
- Ausbildungen sollten eine gewisse Mindestdauer umfassen. Drei Mal vier Tage Coaching-Seminar mag gute Einblicke in die Thematik verschaffen und für Personen mit sehr viel Vorerfahrung, z.B. Psychotherapeuten, ausreichen. Für eine ernst zu nehmende Grundausbildung in Coaching hingegen reicht es nicht.
- Die Zeiten der völlig unabhängig agierenden Ausbildungsinstitute sind vorbei. Zu fordern sind partnerschaftliche Assoziationen mit Hochschulen für gemeinsame Forschungen und Entwicklungen. Wobei hier der Wissenstransfer keineswegs als Einbahnstrasse gedacht ist. Es kann nicht schaden, wenn das Hochschulpersonal ab und an einen richtigen Coach und dessen Kunden erlebt.
- Zertifizierungen der Ausbildungsinstitute sind anzustreben.
Verbände
Die Verbände können vor allem auf der Ebene der Strukturqualität von Coaching eine wichtige Rolle übernehmen und förderliche Rahmenbedingen schaffen. Möglich Aufgaben könnten sein:
- Weiterbildungsrichtlinien
- Ausbildungsrichtlinien
- Information der Nachfrager – was ist Coaching und was ist es nicht?
- Aufnahmerichtlinien mit Mindestanforderungen
- internationaler und nationaler Austausch
- Förderung der Forschung
- Beschaffen von Marktdaten
- Ethik-Richtlinien
Praktizierende und Kunden
Eine Schlüsselrolle kommt den heute praktizierenden Coaches zu. Coaching geschieht hinter geschlossenen Türen. Ihr Beitrag wird es sein, diese Türen ein wenig zu öffnen und Forschungen zu ermöglichen.
Die vornehmste Rolle in diesem Spiel kommt den Kunden zu: Ihnen ist es überlassen, den besten Angeboten die Gunst zu schenken.
Zum Abschluss die Frage: Warum das Bemühen um ein Evidence-Based-Coaching? Mit Coaching lässt sich doch hier und heute gutes Geld verdienen. Und es ist der Lauf der Welt, dass auch Gutes verschwindet, wenn es seine Zeit gehabt hat. Aber, und das ist eine Antwort: Um das Coaching wäre es schade. Es bietet Reflexions-, Wachstums- und Entlastungsmöglichkeiten für Menschen, die sich in einem zunehmend dynamischen und belastenden Umfeld bewegen. Sogar auf die Gefahr hin, dass der Begriff Coaching in naher Zukunft durch inflationäre Verwendung diskreditiert wird und sich auflöst, lohnt sich die Beschäftigung mit dem Thema.
Der Begriff Coaching mag verschwinden. coachingähnliche Beratungsformate für Menschen in Unternehmen werden bleiben. Doch so weit ist es noch nicht. Coaching ist ein gut eingeführtes Label. Tragen wir ihm Sorge, dass es uns auch in Zukunft noch viel Freude bereitet.
Literatur
- Grant, A. M. (2005): What is Evidence-Based Executive, Workplace and Life Coaching? in: M. Cavanagh, A. M. Grant & T. Kemp (Hrsg.): Evidence-Based Coaching, Volume 1, Theory, research and practice from the behavioral sciences, 1–13. Bowen Hills: Australian Academic Press.
- Greif, S. (2008): Coaching und ergebnisorientierte Selbstreflexion. Göttingen: Hogrefe.
- Künzli, H. (2006): Wirksamkeitsforschung im Führungskräfte-Coaching, in: E. Lippmann (Hrsg.): Coaching. Angewandte Psychologie für die Beratungspraxis, S. 280–294.
- Leichsenring, F. & Rüger, U. (2004): Psychotherapeutische Behandlungsverfahren auf dem Prüfstand der Evidence-Based Medicine. Randomisierte kontrollierte Studien vs. naturalistische Studien – gibt es nur einen Goldstandard? Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 50, 203–217.