92 Gründe, warum ein Ziel nicht erreicht wird
Die Migros Aare hat ein besonderes Projekt umgesetzt: Führungskräfte ermittelten durch Gespräche mit Vorgesetzten, Videoaufzeichnungen und Selbstreflexion die Muster, die sie daran hindern, ihre Ziele zu erreichen. Resultat: Eine neue Fehlerkultur und eine Effizienzsteigerung – an Führungssitzungen hält zum Beispiel niemand mehr eine Präsentation mit mehr als 10 Seiten.
Volltreffer! Die Migros Aare verfeinert ihre Zielerreichungsfähigkeiten. (Foto: 123RF)
«Wie haben wir es geschafft, es nicht zu schaffen?» Diese Frage stellt man sich in der Genossenschaft Migros Aare regelmässig. Und das kam so: Zwar wurden die Ziele im Unternehmen im Durchschnitt gut erreicht, doch die Mitarbeiter führten im Alltagsgeschäft ihre Aufträge sehr unterschiedlich aus, sowohl was Quantität als auch Qualität betraf.
Die Geschäftsleitung wünschte sich daher eine höhere Umsetzungsdisziplin. Ein Ziel, welches die Migros Aare auf besondere Weise umsetzte. Sie forderte die Leiter grösserer Filialen sowie die regionalen Verkaufschefs (verantwortlich für 15 bis 20 Filialen) auf: Überlegen Sie sich drei Ziele aus der Vergangenheit, die Sie nicht oder nur teilweise erreicht haben. So vorbereitet, traf man sich unter sechs Augen im internen «Filmstudio». Die jeweilige Führungskraft, deren Vorgesetzte und der Betriebspsychologe diskutierten vor laufender Kamera die nicht erreichten Ziele. Die Aufzeichnung diente zur genaueren Analyse im Nachhinein.
Die Vorgesetzte wählte im Gespräch eines der drei Beispiele ihres Mitarbeiters, welches dann gemeinsam analysiert wurde mithilfe folgender Fragen: Was war das offizielle Ziel? Was hast du gemacht, was ist tatsächlich geschehen? Welches persönliche Ziel hattest du? Was sind die Ursachen für dein tatsächliches Tun beziehungsweise für deine persönlichen Ziele?
Persönliches Ziel behindert Unternehmensziel
Dass sich das offizielle und das persönliche Ziel nicht decken müssen, zeigt dieses fiktive Beispiel: Ein Filialleiter hat das offizielle Ziel «Senkung der Personalkosten». Weil er aber Konfrontationen und Auseinandersetzungen mit seinen Mitarbeitern scheut, versucht er stattdessen unter Einsatz entsprechender Ressourcen, den Umsatz nach oben zu drücken. «Hinter diesem persönlichen Ziel, mittels Umsatzsteigerung das offizielle Ziel der Personalkostensenkung zu umgehen, stehen die Muster ‹Hoffnung›, ‹Beziehung› und ‹Konfliktvermeidung›», sagt Martin Kessler, Leiter Direktion Personelles/ Ausbildung der Genossenschaft Migros Aare. Mit dem Muster «Hoffnung» ist die vage Idee gemeint: Wenn ich viel Umsatz bringe, dann kommt das mit den Personalkosten automatisch. Und das Muster «Beziehung» beschreibt, dass einer Person das gute Auskommen wichtiger ist als die Interessen des Unternehmens.
In insgesamt 119 Gesprächen kamen 92 solcher Muster zusammen, wie eben ein Ziel nicht erreicht wird. «Die Hälfte dieser Muster hängt mit klassischen Managementfehlern zusammen», sagt Martin Kessler. Die Ziele wurden zum Beispiel nicht gemäss SMART (spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch, terminierbar) formuliert. «Die andere Hälfte dieser Muster betrifft Ängste, die wir alle haben», so Kessler. Zum Beispiel die bereits erwähnte Angst vor Konfrontation, die Schwierigkeit, Unsicherheiten auszuhalten, oder aber ganz allgemein die Angst vor Schuld und Scham, wenn es um Fehler geht.
Angstbehaftete Situationen mit Chefin üben
«Diese Dinge sind nicht neu, neu ist aber, dass sie transparent gemacht werden», sagt Martin Kessler. «Indem über solche Ängste geredet wird, merken die Mitarbeiter, dass es bei jedem Menschen Dinge gibt, vor denen er Respekt hat, und dass es in Ordnung ist, diese zum Beispiel mit dem jeweiligen Vorgesetzten zu besprechen.» Der konfliktscheue Filialleiter würde also in der Genossenschaft Migros Aare mit seiner Vorgesetzten entsprechende Personalgespräche durchspielen, um Sicherheit dafür zu gewinnen.
Ein Geh-spräch entlang der Aare
Mit Unterstützung des HR wurden eine Reihe von Führungs-Massnahmen eingeführt, damit Ziele in Zukunft besser erreicht werden:
- Führungskräfte erarbeiteten nach der Analyse ihrer Videointerviews ein individuelles Führungsblatt mit ihren drei bis fünf wichtigsten Zielverhinderungsmustern sowie Massnahmen, wie sie diese Verhinderungsmuster überwinden wollen. Dieses Blatt beziehungsweise das entsprechende Handeln wird vierteljährlich mit dem Vorgesetzten besprochen.
- Bei jedem neu vereinbarten Ziel gibt es den Kopf-Hand-Herz-Check: Auf einer Skala von 1 bis 10 prüft die Mitarbeiterin mit ihrem Chef, ob sie begriffen hat, was sie machen soll und warum (Kopf), ob sie das Know-how dafür hat (Hand) und ob sie voll hinter diesem Ziel stehen kann (Herz). Liegen die jeweiligen Werte nicht mindestens bei 8, muss nochmals darüber gesprochen werden.
- Führungsgespräche und Sitzungen finden nur statt, wenn konkrete Ziele vorhanden sind, und müssen in ebenso konkreten Kontrakten enden.
- Sollen Führungsgespräche eine gewisse Lockerheit haben, werden Geh-spräche geführt (etwa ein Mitarbeitergespräch entlang der Aare).
Machen da alle mit? «Die Intervention stiess zuerst auf Verwunderung und moderate Kritik», sagt Martin Kessler. Manche hätten geglaubt, das Projekt ginge in Richtung Psychotherapie. «Dem ist natürlich nicht so, und inzwischen sind unsere Massnahmen voll akzeptiert.» Das geht sogar so weit, dass viele Führungskräfte regelmässig Gespräche mit Untergebenen auf Video aufnehmen, um sich selbst zu reflektieren. Und um sich, je nach Situation, die Frage zu beantworten: Wie habe ich es wieder geschafft, dass mich mein Mitarbeiter nicht verstanden hat?
Sitzungszeit GL: minus 25 Prozent
Was hat das Projekt, das im Frühjahr 2011 gestartet wurde, bisher gebracht? Die durchschnittliche Zielerreichung, die ja bereits vor dem Projekt gut war, hat sich (noch) nicht geändert. Aber laut Martin Kessler ist eine allgemeine Effizienzsteigerung zu beobachten: «Dank der intensiven Auseinandersetzung mit Zielen kommen unsere Mitarbeiter heute schneller zum Punkt, Gespräche und Sitzungen verlaufen fokussierter. Die Sitzungszeit der Geschäftsleitung ist um 25 Prozent gesunken. Und es produziert an Führungssitzungen niemand mehr einen Foliensatz mit mehr als 10 Seiten.»
Auch wird als Folge des Zielprojekts demnächst eine neue Massnahme umgesetzt: Alle in der Zentrale gehen pro Jahr mindestens einen Tag an die «Front» zur Arbeit. Damit es zu mehr Interaktion kommt zwischen Vorgesetzten, die Anordnungen geben, und Untergebenen, die diese Anordnungen «ausbaden» müssen.
Und noch ein – gerade fürs HR wichtiges – Thema kam durch das Projekt auf. «Manche Ziele werden nicht erreicht, weil sich die Betreffenden auf die Vertraulichkeit berufen», so Martin Kessler. «Schildert etwa eine Mitarbeiterin einem Vorgesetzten oder einer HR-Person ein Problem oder einen Übergriff, will aber danach, dass niemandem etwas gesagt wird, so hat sich schon so mancher daran gehalten – dabei ist nicht Vertraulichkeit das oberste Gebot, sondern das Funktionieren des Systems.» Das heisst konkret in der Migros Aare: Soll bei einem Problem firmenintern nichts gemacht werden, so gehört das Thema nicht in ein firmeninternes Gespräch, sondern in die Sozialberatung, welche das Unternehmen den Angestellten anbietet.
Beziehungskultur wird Leistungskultur
«Wir fördern mit unserem Projekt explizit eine Kultur, in der Fehler angesprochen werden, um daraus zu lernen», sagt der Personalleiter. Diese Fehlerkultur sei das Kernstück eines Kulturwandelinstruments, das die Beziehungs- in eine Leistungskultur überführe. «Bisher gingen viele davon aus, dass das Unternehmen funktioniere, wenn nur die Menschen darin gut miteinander auskommen, die Beziehungen standen im Mittelpunkt», so Kessler. «In der Leistungskultur tun wir alles, damit es dem Unternehmen gut geht. Das ist natürlich nur möglich, wenn die Menschen anständig behandelt werden. Aber das ist in einer echten Leistungskultur selbstverständlich und steht daher weniger im Zentrum. Statt Konflikte nicht anzusprechen, also die Beziehung zu schonen, können wir nun über Fehler reden – und dadurch das Unternehmen weiterbringen.»