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Alte Hasen für die Arbeitswelt 4.0 begeistern
Ältere Mitarbeitende werden in Personalentwicklungsprogrammen häufig nicht berücksichtigt. Und das bereits ab 40 Jahren. Doch woran liegt es? Und wie gelingt die Integration von erfahrenen Mitarbeitenden?
Die Lebensläufe werden immer bunter, die Grenzen zwischen den Erwerbsformen verschwimmen, werden vielfältiger. (Bild: iStock)
«Ich bin 56, fühle mich aber viel jünger.» Solange weiterhin solche Aussagen getroffen und Social-Media-Profile mit «junggeblieben» untertitelt werden, haben wir es nicht geschafft. Und wenn ich auf die Frage nach der Rolle der Älteren in der Arbeitswelt der Zukunft wieder mal höre: «Ja, richtig wichtig, die haben so viel Erfahrung», dann wird klar, dass sich noch eine ganze Menge ändern muss in unseren Köpfen.
Während wir immer älter werden, steigt das Durchschnittsalter der Erwerbstätigen in den meisten Unternehmen konstant. Die Verhältnisse zwischen Young Talents und alteingesessenen Mitarbeitenden, die in der B.I.-Welt (before Internet) ins Berufsleben heranwuchsen, sind ins Rutschen geraten. Immer mehr «alte Hasen» sind in zunehmend altersdiversen Teams mit immer weniger Jungspunden konfrontiert. Die Anzahl der über 55-jährigen Schweizer im Erwerbsleben hat sich in den letzten 35 Jahren fast verdoppelt, auf heute knapp 800 000, mit steigender Tendenz.
Zugleich haben wir in den letzten Jahrzehnten fast eine Dekade in Gesundheit und Fitness hinzugewonnen, quasi einen neuen Lebensabschnitt. Die meisten Schweizer dürfen inzwischen davon ausgehen, bis mindestens 75 Jahren (oder auch länger) leistungsfähig zu bleiben. Die AHV, die anno 1948 das Renteneintrittsalter für Männer auf 65 festnagelte, ignorierte politisch gezwungenermassen diese Realität bisher. Betriebsinterne Haltungen, Formulierungen und Angebote hinken gleichermassen hinterher.
Der feste Glaube an solche Zahlen wie das «Pensionsalter» zählt zu den kniffligsten Hindernissen im sinnvollen Umgang mit den Potenzialen der alternden Gesellschaft. Der britische Altersforscher Tom Kirkwood fragte einst: «Warum lassen wir die Altersangaben nicht einfach weg und orientieren uns am Zustand? Dann würden die Ärzte endlich behandeln, was nötig ist, und nicht, was das Altersbild erfordert.» Das lässt sich eins zu eins auf den Arbeitsmarkt übertragen. Und damit wären wir schon einen guten Schritt weiter auf dem Weg zu einer Arbeitswelt, in der sich alle gebraucht fühlen dürfen.
Lebensläufe werden bunter
Mit der zunehmenden Altersdiversität in den Unternehmen werden auch die individuellen Erwerbsbiografien immer bunter. Das klassische Normalarbeitsverhältnis – also ein Leben lang von der Ausbildung bis zur Rente im selben Bereich oder sogar Betrieb zu bleiben – wird eher die Ausnahme sein als die Regel. Neue Arbeitsformen wie Cloudworking gesellen sich hinzu, die Grenzen zwischen den Erwerbsformen verschwimmen, werden vielfältiger: Festanstellung oder Freelancing, Vollzeit, Teilzeit oder temporäre Engagements. Gerade die jüngere Generation hat sich häufig darauf eingestellt. Man gönnt sich bei Bedarf Auszeiten beziehungsweise Sabbaticals oder wechselt den Arbeitgeber, weil anderswo ein attraktiverer Job lockt. Ältere dagegen fürchten solche Schritte, selbst wenn sie sich durch die tägliche Routine quälen.
Ja, die Jobsuche jenseits der 50 ist in den meisten Fällen freudlos. Solange das so bleibt und erwünschte wie notwendige Neustarts gescheut werden, ist es um die Augenhöhe der Generationen im Arbeitsmarkt und auch in den einzelnen Unternehmen schlecht bestellt. Immer wieder höre ich Ältere sagen: «Die Jungen werden ganz anders wertgeschätzt, obwohl ich seit 20 Jahren dabei bin und mich sehr gut auskenne.» Sicher haben manche aufgehört, besser zu werden und sich selbst längst in die Opferrolle begeben. Aber genauso viele eben nicht. Wir müssen uns in Selbstreflexion üben, wenn wir Menschen verschiedenen Alters gegenüberstehen: Was erwarten wir von ihnen?
Von der Erfahrung zur Entwicklung
Es braucht eine neue Denke und neue Lösungen, um die am stärksten wachsende Ressource in der Schweiz, die «alten Hasen», für die Arbeitswelt der Zukunft zu begeistern und um glaubhaft rüberzubringen: Wir brauchen euch! Gut 40 Prozent haben schon heute Lust, über das Pensionsalter hinaus zu arbeiten, sie wissen in der Regel, wie es im Betrieb und in der Welt läuft und bringen eine gute Portion Lebenserfahrung mit – was für ein möglichst reibungsloses soziales Miteinander eine wichtige Rolle spielen kann.
Ältere wiederum, wie eingangs erwähnt, auf den Begriff «Erfahrung» zu reduzieren, wäre ein allzu bequemes, trügerisches Zurücklehnen in die einschlägigen Altersklischees. Erfahrung ist nicht per se eine Qualifikation – nach Entwicklungspotenzial klingt das jedenfalls nicht. Die individuellen Erfahrungen können zudem in einem neuen Kontext helfen oder hinderlich sein. Unser Hirn und unser Mindset sind geprägt durch unsere Erfahrungen, und das kann alles heissen. Es bedeutet vor allem, dass mich das, was ich ab heute an Erfahrungen sammle, ebenfalls verändern kann. Gleichgültig, ob ich nun 71 oder 26 Jahre alt bin.
Her mit der Haltung
Talentmanagement muss also zuerst eine Haltung entwickeln, ein Zielbild, in welcher Form und mit welchem Gefühl die Generationen zusammen die Zukunft des Unternehmens gestalten sollten. Wenn ich Ältere weder einstellen noch von meinem Vorruhestandsparadigma abrücken oder Veränderung und Weiterbildung in der zweiten Lebenshälfte fördern möchte und auch nicht an besser leistende altersgemischte Teams glaube, ist das eine Haltung, die funktionieren kann. Will ich aber alle Generationen im Betrieb einsetzen und für die Zukunft begeistern, dann geht das nicht, indem ich sage: «Das Alter spielt bei uns keine Rolle.» Das Alter und die Ära, in der ich aufgewachsen bin, und was ich erlebt habe, werden immer eine Rolle spielen.
Worte schaffen Realität
Im nächsten Schritt müssen wir die alten Begrifflichkeiten neu überdenken. Titel wie «Senior» und «Experte» implizieren einen Zustand, der seinen Endpunkt erreicht hat. Lobt man jemanden für seine «solide Erfahrung», reduziert man ihn zugleich auf das Altsein. Interessanter klingt es doch, wenn ein Mensch – gleich welchen Alters – Ideen hat und uns voranbringt. Diverse Teams funktionieren nur gut, wenn alle so sein können, wie sie sind – inklusive ihrer Fehler, über die auch offen geredet wird. Was den als «Experten» abgestempelten Mitarbeitenden naturgemäss erstmal ausschliesst. Wann schaffen wir Begriffe wie «High Potentials» ab, die immer Junge meinen, Augenhöhe in agilen Teams verhindern und zudem bei den Glücklichen nach enttäuschten Erwartungen eher zum Wechsel in andere Unternehmen führen, anstatt strahlende Leader zu schaffen?
Plattformen für Träume
Welche Angebote zur Veränderung, zum Ausprobieren und auch zum «Dumm-sein Dürfen» gibt es wirklich für über 49-Jährige, und inwiefern werden diese überhaupt genutzt? In Unternehmen gibt es unheimlich viele Konzepte und Angebote. Auf dem Papier. Aber viele Ältere wissen nichts davon oder fragen nicht nach dergleichen. Unternehmen sollten deshalb Plattformen schaffen, damit Mitarbeitende ihre Träume und Ideen offen äussern und diskutieren können.
Apropos Führung
Volatilität. Unsicherheit. Komplexität. Ambiguität. Das Akronym VUKA umschreibt buchstäblich die aktuelle Arbeitswelt. Sie ist kompliziert, schnell, unvorhersehbar – also ziemlich chaotisch. Das klingt erst mal unbehaglich und nach dem Verlust der guten alten Werte Stabilität, Ordnung und Sicherheit. Sind wir nicht in Ausbildung und Berufsleben jahrzehntelang darauf getrimmt worden, Stringenz zu wahren, Fehler zu vermeiden, feste Ziele ins Auge zu fassen und beharrlich zu verfolgen? «Dienst nach Vorschrift» ist in der VUKA-Welt passé. Dafür jetzt die gute Nachricht: anything goes! Es liegt nun an uns, mehr Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.
Für die Unternehmen lautet das Gebot der Stunde, Leadership auf allen Ebenen – auch hierarchie- und bereichsübergreifend – zu fördern. Leadership ist dabei nicht an feste Rollen geknüpft und weniger eine Frage der Macht als des Bewusstseins, des aktiven Handelns und des Annehmens von Problemen zu verstehen. Das kann auch bedeuten, zu sagen: «Das geht so nicht, lass uns etwas anderes probieren.»
Leadership umfasst: andere zu unterstützen, den Elefanten im Raum anzusprechen, die Ärmel hochzukrempeln, ja hemdsärmelig zu sein, Kram zu erledigen, selbst einen Mehrwert für Kunden zu schaffen. Wohl wird es weiterhin, wie gewohnt, strategisch agierende und hauptsächlich delegierende Vorgesetzte geben, aber ob das wirklich Begeisterung zu erwecken vermag und vor allem die Chefin oder den Chef selbst fit für die Zukunft macht? Ausserdem kann es doch gut sein, dass der Praktikant (ob 23 oder 51 Jahre alt) gerade die beste Idee hat, oder?
Damit sich die Leute konkret einbringen, braucht es psychologische Sicherheit. Heisst: so sein zu dürfen, wie man ist, und keine Angst vor interpersonellen Risiken haben zu müssen – das ist naturgemäss in wenig diversen Teams einfacher. Probieren Sie es aus, vielleicht im nächsten Meeting? Einfacher Trick: auf Redeanteile achten. Überlassen Sie einfach mal der stillsten Person die Eröffnung und fragen Sie nach. Nicht lockerlassen. Die Vielredner müssen gar nicht weniger zu Wort kommen, die anderen einfach mehr.
Übrigens sind es in altersgemischten Teams in der Regel nicht die Jüngeren, die mehr reden. Das gilt es auch zu beachten, wenn im Sinne des Wissenstransfers zwischen den Generationen Reverse-Mentoring-Programme ins Leben gerufen werden. Was Sie auf jeden Fall tun sollten.
«Praktikum Arbeitswelt 4.0»
Etablierte Grossunternehmen und KMU entsenden ältere Mitarbeitende (49+) in ein externes vierwöchiges Praktikum. Bei einem Start-up oder einem anderen 4.0-Unternehmen tauchen die Praktikant*innen in eine neue Welt ein (etwa bezüglich flacher Organisationsformen oder digitaler Business-Modelle), haben Zeit und Raum, auszuprobieren, zu lernen oder zu verlernen, und bringen frische Ideen für den Kulturwandel zurück ins angestammte Unternehmen.
Die Neustarter-Stiftung begleitet die Kandidat*innen dabei, sorgt für den Austausch zwischen allen Beteiligten und analysiert gemeinsam mit dem Institut für Angewandte Psychologie der ZHAW am Ende das Erlebnis: Was hat es gebracht, wie ist der Transfer auch nach einiger Zeit gemessen im Unternehmen gelungen und welche Bedeutung hatte das Erlebnis für die eigene Entwicklung? Die erste Welle des Experiments startete, in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Bankenverband, im November 2019, die zweite findet im Februar/März 2020 statt.