HR Today Nr. 12/2019: Talentmanagement

Eine Frage des Alters?

Hierzulande existieren für Mitarbeitende ab 45 Jahren beinahe keine Karriereprogramme. Doch können sich Firmen weiterhin leisten, ältere Arbeitnehmende in der Personalentwicklung zu ignorieren? Wir haben mit Gudrun Sander, Direktorin des Kompetenzzentrums für Diversity und Inklusion der Universität St. Gallen, darüber gesprochen.

Frau Sander, «Talent» scheint ein Begriff zu sein, der sich in der Schweiz hauptsächlich auf jüngere Menschen bezieht. Wie nehmen Sie das wahr?

Gudrun Sander: Grundsätzlich hängt die Definition von «Talent» immer vom entsprechenden Organisationskontext ab. Talententwicklungsprogramme richten sich tatsächlich prioritär an jüngere Mitarbeitende. Für Studienab­gän­ger*innen gibt es in Grossfirmen sogenannte Graduate-Programme, die zum Berufseinstieg und zur ersten Talentförderung dienen. Daneben legen diese Unternehmen ihren Fokus auf Arbeitskräfte, die bereits einige Jahre Berufserfahrung haben und deren Entwicklungspotenzial sie als hoch einschätzen – meist Arbeitnehmende im Alter zwischen 28 und 45 Jahren.

Für diese «High Potentials» existieren auch häufig Personalentwicklungsprogramme. Sobald eine Person diese Phase jedoch hinter sich hat, nehmen die Entwicklungsangebote stark ab. Dass die interne und externe Mobilität und Rekrutierung von Arbeitnehmenden bereits ab 40 Jahren sinkt, zeigen die Ergebnisse unsere Vergleichsstudien.

Weshalb gibt es so wenige Entwicklungsprogramme, die sich an Ältere richten?

Das Problem sind die gängigen Definitionen und Vorstellungen von «Talent» und «Karriere». Häufig haben Personalentwicklungsprogramme junge, dynamische und lernfähige Menschen – unbewusst meist Männer – im Fokus, weil man in den Unternehmen davon ausgeht, dass sich diese bis Mitte 40 besonders schnell und gut der Karriereleiter entlang nach oben entwickeln. Gleichzeitig besteht das Vorurteil, dass ältere Mitarbeitende als Fachpersonen keine Weiterentwicklung brauchen oder wollen, sich diese nicht mehr lohnt oder sie sich eher mit der Frühpensionierung befassen. Unsere Karrierevorstellungen sind sehr einseitig mit einem hierarchischen Aufstieg verbunden, verknüpft mit Privilegien, die es schwer machen, später von diesem Status zurückzutreten.

Welche Auswirkungen hat die Vernachlässigung älterer Arbeitnehmender auf die Unternehmens­entwicklung?

Wir werden älter und sind körperlich und geistig länger fit. Was machen wir, wenn wir, wie unsere Kinder jetzt, 50 Erwerbsjahre vor uns haben und den Höhepunkt unserer Karriere bei 45 Jahren erleben? Wir alle brauchen Perspektiven. Der demografische Wandel wird uns zwingen, Mitarbeitende länger leistungsfähig im Arbeitsleben zu halten. Das braucht neue Vorstellungen von Entwicklung, Karriere, Arbeitsmodellen und Führung.

Die an einer männlichen Normbiografie ausgerichtete Karriere, die zwischen 40 und 45 Jahren einen Peak vorsieht, stellt heute ein Risiko dar: Für Arbeitnehmende wegen ihrer Arbeitsmarktfähigkeit und für Arbeitgebende im Zusammenhang mit den sich in bestimmten Branchen abzeichnenden Fach- und Führungskräftemangel.

In anderen Ländern scheint es «normaler» zu sein, dass Ältere ihre Karriere verfolgen, beispielsweise in den USA. Stellen Sie ebenfalls solche Kulturunterschiede fest?

Die gibt es tatsächlich. Es existieren aber auch historische Gründe. Eine Talentmanagement-Kultur über alle Altersklassen hinweg ist in den USA verbreiteter als in Europa, weil Ende der 90er-Jahre die wirtschaftliche Expansion dazu führte, dass nicht mehr genügend Mitarbeitende rekrutiert werden konnten. Die Nachfrage nach Talenten war grösser als das Angebot. Daneben sind in den USA auch die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen anders als in der Schweiz oder in den EU-Staaten. So existieren dort beispielsweise keine staatlich verordneten obligatorischen Ferientage pro Jahr.

Zudem gibt es keine staatlichen Vorgaben zum Elternurlaub oder zu den Rentenbeiträgen. Das hat zur Folge, dass sich Firmen in den USA vermehrt über unternehmensspezifische Benefits wie einen bezahlten Vaterschaftsurlaub oder Talententwicklungsmassnahmen von der Konkurrenz abheben.

Es scheint eine gewisse Ideenlosigkeit vorzuherrschen, was die Gestaltung von Karrieren älterer Mitarbeitender angeht. Wie sehen Sie das?

Entwicklungs- und Karrieremodelle orientierten sich bisher an einer Vollzeiterwerbstätigkeit von Männern ohne Erwerbsunterbruch mit einer starken Entlastung durch die teilzeiterwerbstätige Partnerin bei der Betreuungs- und Hausarbeit. Entsprechend sind die Lohnentwicklung und die Pensionskassen-Systeme ausgestaltet. Zudem haben wir die Vorstellung, dass ältere Mitarbeitende nicht mehr leistungs-, lern- und entwicklungsfähig sind. Das macht aus ihnen eine kostspielige Ressource: Ihre Löhne und Pensionskassenbeiträge steigen. Gleichzeitig fixieren wir uns auf ein Rentenalter von 64 oder 65 Jahren, wobei der Renteneintritt meist das Ende einer Karriere bedeutet.

Daneben existieren kaum Entwicklungsmodelle, die den Lebensphasen von Frauen und Männern gerecht werden und Phasen mit Betreuungsaufgaben oder anderen gesellschaftlichen Engagements als Normalfall berücksichtigen. Die Frage müsste doch vielmehr lauten: In welcher Funktion kann sich eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben am besten entfalten? Dazu ist ein gegenseitiger Lernprozess notwendig, denn die Herausforderungen sind für alle neu.

Wir sehen das beispielsweise bei den Wiedereinsteigerinnen. Sie sind einerseits «neu», andererseits aber viel erfahrener als Personen nach einer Berufslehre oder einem Studienabschluss. Die Jobs für diese Gruppe mussten jedoch erst «geschaffen» werden, da ihre Bedürfnisse anders sind als jene von Jungen oder Vollzeit-Arbeitenden ohne Erwerbsunterbruch. Nach zwölf Jahren «Women Back to Business», einem Wiedereinsteigerinnen-Programm der Universität St. Gallen, haben wir bemerkt, dass Firmen und Absolventinnen dazugelernt haben und die Jobs immer besser «passen».

Muss man Unterschiede in der Personalentwicklung von Jüngeren und Älteren machen?

Unabhängig vom Alter haben Arbeitnehmende in unterschiedlichen Lebensphasen und mit unterschiedlicher Betriebszugehörigkeit andere Bedürfnisse: Während «jüngere» Mitarbeitende ihr Fachgebiet durch eine externe Weiterbildung mehrmals wechseln oder vertiefen, ist das für «ältere» Mitarbeitenden vielleicht weniger angemessen. Mitarbeitende mit langjähriger Betriebszugehörigkeit ohne Betreuungsverpflichtungen sind dagegen motiviert, nochmals ganz andere Aufgaben im Unternehmen zu übernehmen oder erwägen einen Auslandeinsatz. Damit einhergehend sollte sich ein neues Karriereverständnis ent­wickeln.

Was sind für Sie vielversprechende Konzepte, um die Karrieren von Mitarbeitenden jenseits der Lebensmitte zu gestalten?

Am aussichtsreichsten sind all jene Konzepte, die einen breiten Begriff von Karriere umfassen und nicht nur eine vertikale Führungskarriere im Fokus haben. Als Beispiel hierfür können wir das Bogenkarriere-Modell beim Migros-Genossenschafts-Bund nennen, neue Jobs für «very experienced persons» (VEPs) bei Financial Times oder den Senior Consulting Pool bei Swiss Re. Ausserdem gehören Konzepte dazu, die Mitarbeitende in jeder Lebensphase ansprechen und individuelle Lösungen jenseits der Lebensmitte ermöglichen. Etwa durch Top Sharing, eine schrittweise Reduktion des Arbeitspensums oder eine Expertisefunktion statt einer Führungsaufgabe. Zentral ist, alternative Karrierepfade wertzuschätzen und die Altersvorsorge zu sichern.

Was halten Sie von einer Berufslehre für Ü50 oder Altersteilzeit?

Das sind gute Alternativen zum herkömmlichen Karrieremodell und sie werden in einigen Unternehmen bereits erfolgreich genutzt. Sie reichen alleine jedoch nicht aus, um ältere Mitarbeitende zu motivieren und leistungsfähig zu halten. Es braucht eine Unternehmenskultur, welche die Beiträge jeder Altersgruppe wertschätzt, gängige Stereotype, die mit dem Alter und den Generationen verbunden sind, adressiert und sicherstellt, dass ein reger Austausch zwischen den verschiedenen Generationen stattfindet.

Wo besteht für Sie der grösste Handlungsbedarf?

Eine Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, insbesondere der Altersvorsorge, ist zwingend notwendig. Daneben sollte der sich abzeichnende Wandel zu einem lebensphasenorientierten Karriereverständnis und den entsprechenden Personalentwicklungsmassnahmen systematisch gefördert werden. Vorgaben für Weiterbildungstage pro Jahr wären ebenfalls hilfreich.

Zur Person

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Gudrun Sander ist Direktorin des Kompetenzzentrums für Diversity und Inklusion (CCDI) und Direktorin an der Executive School of Management, Technology and Law der Universität St.  Gallen, wo sie die Management-Weiterbildung «Women Back to Business» leitet. Sie hat auch die Geschäftsleitung des Vereins «Diversity-Controlling» inne. Darüber hinaus wurde sie 2014 zur Titularprofessorin für Betriebswirtschaftslehre mit besonderer Berücksichtigung des Diversity-Managements ernannt. Gudrun Sander absolvierte ihren PhD (Dr. oec. HSG) 1997 an der Universität St.  Gallen.

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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