Arbeit und psychische Gesundheit
Von Präsentismus über den Weg in eine Depression bis hin zur Bedeutung der Unternehmenskultur für die Gesundheit: Die diesjährige Tagung für betriebliches Gesundheitsmanagement bot ein vielseitiges Programm und verzeichnete einen Besucherrekord.
Die Tagung fand an der Universität Zürich statt. (Fotos: Philipp Zinniker)
Die von Gesundheitförderung Schweiz organisierte Tagung an der Uni Zürich fand erstmals in Kooperation mit dem Netzwerk psychische Gesundheit Schweiz und «pro mente sana» statt und verzeichnete mit über 800 Teilnehmern einen Besucherrekord.
«Für die psychische Gesundheit und Stabilität gibt es nichts Wichtigeres als die Erwerbstätigkeit.» Mit dieser Aussage beginnt Niklas Baer, Leiter der Fachstelle für Psychiatrische Rehabilitation der Psychiatrie Baselland, das erste Referat des Tages. Seine Aussage untermauert Baer mit Erkenntnissen aus Studien: «Bei erwerbstätigen Patienten ist die Behandlungsdauer kürzer und sie machen schneller Fortschritte bei der Genesung.» Damit ist er gleich mitten im Thema der nationalen Tagung für betriebliches Gesundheitsmanagement: «Arbeit und psychische Gesundheit – Herausforderungen und Lösungsansätze».
Dass psychische Erkrankungen nicht einfach eine Randerscheinung sind, verdeutlicht Niklas Baer mit Zahlen: Wegen starken Rückenschmerzen etwa fehlen Mitarbeitende im Durchschnitt 4,8 Tage pro Jahr. Wegen psychischer Probleme 7,4 Tage. Trotz dieser hohen Zahl ist das Bewusstsein für psychische Probleme am Arbeitsplatz in der Schweiz gering. Und dies, obwohl die meisten psychisch Kranken arbeiten.
Baer verweist auf eine Studie unter Führungskräften vor, die untersuchte, welche «schwierigen» Verhaltensweisen Chefs an ihren Mitarbeitenden am häufigsten beobachteten. Mit über 50 Prozent an erster Stelle stand die Aussage «streitet Fehler ab, gibt anderen die Schuld». Ebenfalls häufig genannt wurde «launisch», «kann sich nicht konzentrieren», «aufmüpfig» oder «vergesslich». In der Studie wurden die Führungskräfte auch gefragt, welche Namen sie den «schwierigen» Mitarbeitern geben würden. Die Antworten sorgen für Lacher im Publikum: «Grämi», «Heulsuse» oder «Motzer» beschrieben wohl treffend gewisse Eigenschaften der betroffenen Personen.
Wie Baer weiter ausführt, merken Chefs meist bereits sehr früh, oft sogar schon im Vorstellungsgespräch, dass etwas nicht stimmt. Bis sie aber reagieren, vergeht viel Zeit, oft weil sie Hemmungen haben, das Problem anzusprechen. «Das ist zwar sympathisch, aber bei psychisch Kranken nicht sinnvoll», betont Baer. Das Ansprechen sei schon mal ein wichtiger Schritt. «Die effizienteste Strategie ist, den Mitarbeiter zum Arzt zu schicken. Das machen aber gerade mal 14 Prozent der befragten Chefs.»
Perfektionisten gehen unter
Dass Erschöpfungsdepressionen deutlich zunehmen, stellt Natalie Lotzmann im Folgereferat fest. Die Ärztin ist für das Global Health Management bei SAP zuständig. «Vor allem diejenigen gehen unter, die perferktionistisch sind, nicht loslassen können, nicht priorisieren und nicht Nein sagen können.» Zugleich nähmen die Belastungen zu, alles werde immer mehr, immer schneller und immer komplexer. Wichtig sei eine gesunde Kultur im Unternehmen, hält Lotzmann fest: Es brauche eine gesunde Kommunikation, eine gesunde Einstellung. «Unternehmen müssen überlegen: Wann geben wir gerne unser Bestes und bleiben dabei gesund?» Denn wer engagiert und motiviert sei, sei deutlich leistungsfähiger. So zahle sich eine gesunde Kultur auch ökonomisch aus.
«Wir müssen wegkommen von Gesundheitsförderung und uns stattdessen um Gesundheitsmanagement kümmern», fordert Natalie Lotzmann. Die Einstellung der Mitarbeitenden müsse sich ändern, da nützten Fitness-, Ernährungs- und Entspannungsprogramme alleine wenig. Zentral ist für die Ärztin das Thema Achtsamkeit: Wie gehe ich mit mir, wie mit anderen um?
Als Handlungsfelder im BGM definiert Natalie Lotzmann die organisationale Gesundheit, die allgemeinen Arbeitsbedingungen und die individuelle Gesundheit: Es brauche Vertrauen, Fairness, Awareness-Kampagnen und Führungskräfte-Schulung auf Organisationsebene. Für gute Arbeitsbedingungen sorgen passende Arbeitsmittel, Pausenzonen, Freiräume und Flexibilität bezüglich Zeit und Ort. Und für die individuelle Gesundheit brauche es eine Gesundheits- und Sozialberatung im Unternehmen sowie Angebote im Bereich Sport, Fitness und Entspannung.
Das alles nütze aber nichts, wenn der Mitarbeiter nicht mitmache. «Der Einzelne ist und bleibt für seine Gesundheit selbst verantwortlich», sagt Natalie Lotzmann. Aber die Organisation kann Rahmenbedingungen schaffen und die Mitarbeitenden dazu ermuntern, ihre Eigenverantwortung wahrzunehmen.
Weg in die Depression
Im letzten Vortrag vor der Pause beschreibt Autor und Kommunikationsberater Daniel Göring eindrücklich seinen Weg in die Depression – und wieder hinaus. Er erzählt, wie sein Arbeitspensum immer mehr zunahm, ebenso wie der mediale Druck auf das Unternehmen, das er kommunikativ vertrat. Seine Arbeitstage wurden länger, die Wochenenden kürzer, Pflichttermine häuften sich. Bis er eines Tages vor dem Kühlschrank stand und einfach nur ein Vakuum spürte, ein Gefühl, das er als schlimmer als Schmerz beschreibt. In den nächsten Tagen nimmt er eine Überdosis Tabletten, «doch statt im Nichts, in der Ruhe, die ich mir wünschte, landete ich auf der Notfallstation». Es war ihm klar, dass er Hilfe brauchte, die er auch suchte. «Doch gute Kliniken haben lange Wartelisten, und so sass ich wochenlang zu Hause, ohne Sinn, ohne Aufgabe», beschreibt Göring. Er ertrug die Nähe anderer Menschen nicht mehr, ein freundlicher Gruss war bereits zu viel für ihn, so dass nur schon Einkaufen gehen eine Tortur für ihn war.
Zwei Monate nach seinem Zusammenbruch konnte er seine Therapie beginnen, bestehend aus moderater Bewegung, Entspannung und Therapiegesprächen. Mit Erfolg: «Heute versuche ich, fünf gerade sein zu lassen und die Welt etwas gelassener zu sehen.»
Doch nach dem Klinikaufenthalt folgte erst mal der nächste Dämpfer: Seine alte Stelle hatte er gekündigt, nun suchte er einen neuen Job. Das sollte kein Problem sein, dachte er sich. Er hatte Wissen, Erfahrung, war krisenerprobt – und erhielt lauter Absagen. Inzwischen hat er seit zwei Jahren wieder eine Stelle in der Kommunikation. Und appelliert an die Tagungsgäste: «Geben Sie Menschen mit einer Depression oder psychischen Beeinträchtigung eine Chance. Diese Mitarbeiter sind überdurchschnittlich loyal und einsatzwillig.»
Anwesend ist nicht gleich leistungsfähig
Nach der Kaffeepause – mit Gemüsesticks, Früchten und alkoholfreien Cocktails – berichtet Philip Strasser, Gesellschaftsarzt und Direktionsmitglied der Swiss Life, über die Folgen des Präsentismus bei der Arbeit. «Den Fokus auf die Fehlzeiten zu legen, greift zu kurz», eröffnet er seine Rede. So sei die blosse Anwesenheit der Mitarbeitenden noch kein Beleg dafür, dass diese gesund und leistungsfähig seien: «Anwesenheit wird fälschlicherweise oft mit guter Leistungsfähigkeit und Gesundheit in Verbindung gebracht.»
Wie viele Mitarbeitende arbeiten, obwohl sie krank sind, nehmen Unternehmen selten zur Kenntnis. Dabei sind die Folgen von Präsentismus nicht unerheblich: So sinkt die Produktivität und die Innovationsfähigkeit des Unternehmens, die Mitarbeitenden können sich nicht konzentrieren und ihre Leistungsfähigkeit nimmt ab, führt Strasser aus. Damit erhöhen sich die Fehlerquoten und die Unfallgefahr, deren Folgen das Unternehmen finanziell treffen.
Präsentismus sei weit verbreitet und keine Ausnahme, sondern eher die Norm. Das belegt Strasser mit Studie, gemäss der über 70 Prozent der Mitarbeitenden in den vergangenen zwölf Monaten krank bei der Arbeit erschienen waren. Viele warten bis zum Wochenende, um sich endlich auszukurieren. Die gesundheitlichen Folgekosten des Präsentismus treffen die Unternehmen langfristig jedoch umso härter. Mitarbeitende, die mehr als sechs Mal pro Jahr krank zur Arbeit erscheinen, hätten später ein 70 Prozent höheres Risiko, länger als zwei Monate auszufallen als ihre auskurierten Kollegen.
Grossraumbüros sinnvoll gestalten
Von gesundheitsförderlichen Büros handelt der nächste Vortrag. Sind Grossraumbüros schädlich? Und wie gestaltet man gesundheitsförderliche Büroräumlichkeiten? Diesen Fragen geht Lukas Windlinger nach, Professor und Dozent für Workplace Management an der ZHAW. Ziel des Workplace Managements sei, den Mitarbeitenden zu ermöglichen, effektiv zu arbeiten, erläutert er. «Grossraumbüros haben einen denkbar schlechten Ruf.» Ob gut oder schlecht, sei aber häufiger eine Frage des Betrachters: Menschen nehmen Situationen wahr und bewerten sie. Diese subjektive Einschätzung habe dann wiederum Einfluss auf ihr Verhalten und ihre Gesundheit.
Deshalb sei der Diskurs, ob Grossraumbüros gut oder schlecht seien, nicht der richtige Ansatz. «Nicht die Grösse des Büroraumes ist entscheidend, ob sich Menschen bei der Arbeit wohl fühlen, sondern ob sie in ihren Tätigkeiten gestört und abgelenkt werden oder ob sie sich zurückziehen können.» Generell müsse ein Grossraumbüro aber zur Unternehmenskultur passen, ergonomisch gestaltet sein, die Zusammenarbeit unterstützen, zufällige und informelle Kommunikation ermöglichen, Raum für Projektarbeit und kreatives Arbeiten sowie Rückzugsmöglichkeiten bieten und Umgebungen für aktive und passive Pausen schaffen.
Die Wahlfreiheit und Vielfalt, je nach Tätigkeit die passende Umgebung zu finden, stehe im Vordergrund, erläutert Windlinger. Das bedinge häufig einen kulturellen Wandel. Das Denken der Mitarbeitenden müsse sich von «mein Arbeitsplatz» zu «unser geteilter Platz» verändern. Nicht ganz einfach, denn «Diskussionen um Kaffemaschinen, Parkplätze und Arbeitsplatz» seien oft die Folgen solcher Paradigmenwechsel. Eine andere Arbeitsumgebung erfordere eben eine andere Kultur. Und die könne man nicht einfach diktieren.
Der ökonomische Nutzen für die neuen Arbeitswelten ist hingegen offenkundig, wenn man bedenkt, wie wenig ausgelastet traditionelle feste Arbeitsplätze sind, sagt Windlinger: So hat die Analyse dreier ZHAW-Workplace-Projekte gezeigt, dass nur 35 Prozent der Arbeitsplätze aktiv genutzt wurden, 20 Prozent von der Anwesenheit des Mitarbeitenden zeugten (Jacke über der Lehne) und ganze 45 Prozent sogar ganz verwaist blieben. Da müsse man sich schon fragen, ob man sich weiterhin den Luxus leisten wolle, so viel ungenutzte Fläche beizubehalten. Diese ungenutzte Fläche könne man ja auch in Meetingräume oder Rückzugsräume umwandeln, woran es ja in vielen Unternehmen chronisch mangle. «An der Ausstattung der neuen Arbeitsflächen soll jedoch nicht gespart werden», warnt Windlinger. Denn die Wertschätzung, die das Unternehmen den Mitarbeitenden tatsächlich entgegenbringe, zeige sich sichtbar schon im Mobiliar.
«Frühwarnzeichen sind Spätwarnzeichen»
Zum Erstaunen des Schlussreferenten Thomas Ihde-Scholl, Stiftungspräsident Pro Mente Sana und Chefarzt der Psychiatrischen Dienste der «spitäler fmi ag» im Berner Oberland, ist der Hörsaal auch noch um 16.30 Uhr zum Bersten voll.
Obwohl «bei diesem schönen Wetter doch eine Glace oder ein Spaziergang am See» locken würden, wie Ihde-Scholl kokett bemerkt, traf sein Thema «Umgang mit bereits psychisch belasteten Mitarbeitenden» offenbar einen Nerv und auf Neugier beim Publikum.
Der Chefarzt eröffnet mit dem vernichtenden Befund, dass der Wissenstand betreffend psychisch belasteter Menschen gegen Null tendiere. Trotz inzwischen allseits bekannten Schlagworten wie «Stress», «Burnout» und «Mobbing» sei «die Analphabetisierungsrate enorm hoch». Es fehle also nur schon an adäquaten Begrifflichkeiten im Umgang mit psychischen Belastungen. Meist sei einfach pauschal von sogenannt «schwierigen Mitarbeitern» die Rede.
Ihde-Scholl mahnt in der Folge, dass «Frühwarnzeichen», die im Geschäftsalltag bemerkt würden, in Tat und Wahrheit bereits «Spätwarnzeichen» seien. Denn psychischen Belastungen oder Erkrankungen zeigten sich oft erst als Resultat einer «langsamen Entwicklung mit multiplen Ursachen» (neben der Arbeitssituation, etwa das soziale Umfeld oder genetische Disposition). Zu den bekannten Frühwarnzeichen respektive Spätwarnzeichen zählen erfahrungsgemäss folgende Phänomene, die alle Recruiter, Onboarding-Verantwortlichen und HR-Professionals generell aufhorchen lassen sollten:
- Bauchgefühl beim Bewerbungsgespräch
- «Honeymoon»-Phase in den ersten 3 bis 6 Monaten
- Schwierigkeiten werden meist externalisiert
- Leistungsinkonstanz
- Interpersonelles Verhalten (z.B. Separatismus)
Dabei fördere die gesellschaftliche Stigmatisierung psychischer Erkrankungen nicht unbedingt einen offenen Umgang mit psychischen Belastungen. Wobei gerade Führungskräfte in der Pflicht stünden mit gutem Vorbild vorangehend ihre eigene psychische Verfassung zu kommunizieren, um bei Betroffenen die Hemmschwellen abzubauen und in einen Dialog zu treten. Denn als Folge der gesellschaftlichen Stigmatisierung psychischer Erkrankungen steigern sich Betroffene oft in eine «Selbst-Stigmatisierung» hinein, was die Sache nicht besser mache. (Selbst-)Stigmatisierung sei denn auch das mit Abstand am häufigsten beobachtete Phänomen auf dem Gebiet der arbeitsplatzbezogenen Fälle, mit denen er in der Praxis zu tun habe. Was in den allermeisten Fällen in Krankschreibungen, Aussitzen oder Entlassungen münden würde. Originellere Ansätze versuchen für ihre Mitarbeitenden detaillierte Belastungsprofile zu erstellen, um zielgerichtet Teilentlastungen herbeizuführen, die Betroffene im Arbeitsleben halten.
Die Stigmatisierung psychisch Erkrankter aufgrund populärer «Mythen über psychische Erkrankungen» sei der «Faktor Nummer 1», dem die betroffenen Führungskräfte aus der Linie, HR- und BGM-Verantwortlichen besondere Beachtung schenken sollten, weshalb er von Führungskräften vorgelebte «Anti-Stigmatisierungskampagnen» ausdrücklich begrüsse. Zum Schluss plädiert Ihde-Scholl dafür, den Umgang mit psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz als betriebskulturelles Thema zu betrachten.