Arbeitnehmermarkt

Arbeitnehmende am längeren Hebel?

Bislang haben die Firmen gesagt, wo’s lang geht in Sachen Arbeitszeiten und Lohn. Mit dem Arbeits- und Fachkräftemangel werden die Karten neu gemischt. Sind damit bald die Arbeitnehmenden am längeren Hebel und diktieren die Bedingungen?

Während die einen Beizen trotz des schönen Sommers die Öffnungszeiten verkürzen mussten und ihre Einnahmen zurückgingen, weil Köchinnen und Kellner fehlten, lief es für andere prächtig. Aber dafür wurden teilweise ungewöhnlich hohe Löhne hingeblättert: So hat etwa ein Servicemitarbeiter in einer Szenekneipe am Zürichsee den Rekordlohn von 16 500 Franken verdient – in einem Monat.

Landauf, landab berichteten die Medien inklusive des deutschen «Spiegel» über den Fall: Die beiden Gastronomen Michel Péclard und Florian Weber bezahlten während der Sommersaison in ihren Seerestaurants Umsatzlöhne und bescherten damit dem Servicepersonal so hohe Einnahmen, dass sich manch eine Führungskraft in einer Grossbank gewünscht hätte, Kellner geworden zu sein. Eingeführt hatten Péclard und Weber das Modell der Umsatzbeteiligung, weil auch sie Mühe bekundeten, geeignetes Personal zu finden. In einer Branche, in der im Schnitt 4000 Franken im Monat verdient werden, kamen ihre Umsatzlöhner nun während der Sommersaison auf 8000 bis 12 000 Franken. Was heisst das nun für den Arbeitsmarkt insgesamt? Verschieben sich langsam, aber sicher die Machtverhältnisse zugunsten der Arbeitnehmenden? Diktieren nun sie, wie viel sie verdienen und zu welchen Bedingungen sie arbeiten wollen?

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Michel Péclard und Florian Weber in einer ihrer Seerestaurants

Péclard und Weber führten das Modell der Umsatzbeteiligung ein, um genügend Mitarbeitende für ihre Seerestaurants während der Sommersaison zu finden. (Bild: zVg)

Wird der Arbeitsmarkt zum Arbeitnehmermarkt?

Ganz so eindeutig ist es nicht – denn es kämpfen nicht alle Branchen mit dem gleichen Mangel an Arbeits- und Fachkräften wie die Gastrobranche. Doch laut dem Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) macht der Arbeitskräftemangel den Arbeitsmarkt dennoch allmählich zu einem Arbeitnehmermarkt: «Immer mehr Arbeitnehmende können es sich aussuchen, für wen sie arbeiten wollen», heisst es dort. Und: «Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen sind also unter Zugzwang, Anstellungsbedingungen möglichst attraktiv zu gestalten, ob über den Lohn, flexible Arbeitsbedingungen oder die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit.» Expertinnen und Experten für die demografische Entwicklung schlagen einen ähnlichen Tenor an: «Die Macht verschiebt sich zu den Arbeitnehmenden, die heute immer mehr Optionen haben. Dort, wo Arbeitsbedingungen und Löhne nicht stimmen, wird einfach Personal fehlen», so etwa der Basler Demograf Manuel Buchmann.

Das NZZ-KMU-Barometer 2023, für das die «Neue Zürcher Zeitung» zusammen mit der Kalaidos Fachhochschule Führungspersonen in Schweizer Unternehmen befragt hat, liefert Zahlen zum aktuellen Befinden der Firmen, insbesondere der KMU. Dort klingt es zwar nicht ganz so drastisch: So ist für 32 Prozent der Firmen die Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal in etwa gleich geblieben, während sie sich für 8 Prozent sogar verbessert hat. Allerdings hat sich laut der Studie für 43 Prozent die Situation verschlechtert und für 16 Prozent sogar deutlich verschlechtert. Das heisst: Nicht alle haben zu kämpfen. Aber dennoch ist es die Mehrheit der Firmen, die Mühe hat. Und obwohl nicht alle nach dem gleichen Rezept vorgehen können wie die Gastrounternehmer aus Zürich, also massiv höhere Löhne zahlen, sei eine bessere Entlöhnung laut NZZ-KMU-Barometer nichtsdestotrotz ein Mittel, um qualifizierte Leute anzuziehen; 43 Prozent der Befragten sehen in dieser Massnahme ein mittleres Potenzial und 5 Prozent ein grosses. Neben der Förderung von Weiterbildungen und besseren Angeboten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf will ein Teil der Firmen auch die Arbeitszeiten flexibilisieren, um für gute Leute attraktiv zu sein – 46 der befragten Führungspersonen stufen das Potenzial dieser Massnahme als mittel, 22 Prozent sogar als gross ein.

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Grafik zu NZZ-KMU-Barometer

Quelle: NZZ-KMU-Barometer 2023; Potenziale von möglichen Massnahmen gegen den Fachkräftemangel

Höhere Ansprüche trotz genügend Arbeitskräften

Auch die Firma Citytrans GmbH aus Schlieren sagt: «Inzwischen zahlen wir 10 bis 20 Prozent mehr Lohn, um geeignete Bewerbende anzuziehen und Mitarbeitende zu halten.» Das Zürcher Speziallogistikunternehmen mit Schwerpunkt Pharma transportiert von Krebszellen und Blutproben über Medikamente bis zu Organen eine breite Palette an spezieller Fracht. Bewerbende müssen zwar keine pharmaspezifischen Ausbildungen mitbringen, haben jedoch besondere Kriterien hinsichtlich Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Erscheinungsbild und Kooperationsfähigkeit zu erfüllen.

«Selbst spüren wir den Mangel an Arbeitskräften zwar noch nicht, wir bekommen noch immer genügend Bewerbungen auf ein Inserat», sagt Dragana Ivkovic, HR-Fachfrau bei Citytrans. «Allerdings stellen wir den Personalmangel bei unseren Kunden fest, und zwar insofern, als dass sie immer öfter auf uns und unsere Mitarbeitenden zurückgreifen.» Laut Ivkovic werde Citytrans als Kooperationspartner immer wichtiger, zumal es beim Logistiker seit jeher Teil des Services gewesen sei, dass die Chauffeure stark in den Kundenprozess integriert sind: «Zum Beispiel, wenn wir Blutprodukte in ein Spital liefern. In einem solchen Fall bringen wir die Ware bis zur OP-Schleuse und übergeben sie dem Ärzteteam persönlich.»

So würden sich die Fahrer in den Spitälern bewegen, als seien sie dort angestellt – was unter anderem auch der Grund sei, warum Citytrans von seinen Mitarbeitenden überdurchschnittlich viel an Kommunikations- und Kooperationskills und Integrationsfähigkeit verlange. «Unsere Fahrer spielen eine wichtige Rolle im Gesamtprozess – entsprechend müssen sie ausgezeichnete Teamplayer sein und mit den Kunden gut zusammenarbeiten können.» Um für ihre Kunden weiterhin eine hohe Servicequalität zu garantieren, würden sie daher guten Bewerbenden respektive Mitarbeitenden entsprechend hohe Löhne bieten. «Bei uns wird die Leistung gewürdigt – wer flexibel ist und viel leistet, verdient bei uns viel, und zwar unabhängig von Alter oder Geschlecht.» Allerdings, so Ivkovic, gehe es den Bewerbenden in den Verhandlungen um die Anstellungsbedingungen oft gar nicht so sehr um den Lohn – etwas anderes spiele inzwischen eine grössere Rolle.

44 Stunden in der Woche sind zu viel

«In unserer Branche ist eine Wochenarbeitszeit von 44 Stunden nichts Ungewöhnliches, sondern sogar üblich», erzählt die HR-Fachfrau. «Doch mittlerweile sind Bewerbende immer weniger bereit, diese Arbeitszeit auf sich zu nehmen.» Besonders die jüngere Generation lege grossen Wert auf eine ausgewogene Work-Life-Balance – und kommuniziere das auch. «Wenn ich sage, wie viele Stunden ein 100-Prozent-Pensum bei uns beinhaltet, bekomme ich oft zu hören: Was? So viel?», sagt Ivkovic. Früher sei das Arbeitspensum nicht so ein Thema gewesen, heute hingegen sei die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten regelmässig ein Diskussionspunkt in den Jobinterviews, erzählt sie.

Deshalb müsse der Speziallogistiker Citytrans nebst kürzeren Arbeitszeiten auch einen attraktiven Arbeitstag bieten. «Wir achten auf eine möglichst kurze Präsenzzeit », erklärt Ivkovic. Was bedeutet das? «Bei der Planung einer Tour schauen wir darauf, dass die Fahrer möglichst keine Leerzeiten zwischen den Aufträgen haben.» So rückten jedoch der kürzeste Fahrtweg sowie Rendite und Wirtschaftlichkeit in den Hintergrund, die Bedürfnisse der Chauffeure dagegen in den Vordergrund. Zudem würden sie den Fahrern auch immer öfter die Firmenautos mit nach Hause geben, um auch den Arbeitsweg möglichst kurz zu halten, weil dadurch ihre Tour zu Hause beginne und sie nicht noch zum Hauptsitz fahren müssen.

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Mitarbeitende von Citytrans beladen einen Lastwagen

Mitarbeitende von Citytrans beladen einen Lastwagen. (Bild: zVg)

«Die Balance zu finden zwischen den Bedürfnissen der Mitarbeitenden, den Ansprüchen der Kunden und dem Geschäftsergebnis, ist sehr herausfordernd geworden», sagt HR-Fachfrau Dragana Ivkovic. Doch letztlich brauche es gute Leute, um die Kundenaufträge erfüllen zu können. Und um diese zu halten, müsse Citytrans neue Wege beschreiten und stärker auf die Mitarbeitenden zugehen, sagt sie. «Wir investieren viel mehr in unsere Leute als früher, etwa bei den Schulungen. Die Mitarbeitenden müssen unsere Prozesse beherrschen und auf einem hohen Ausbildungsniveau sein – das kostet viel Zeit und Aufwand, denn wir schulen die Leute bei uns intern.» Was wiederum ein Grund sei, die Leute möglichst lange in der Firma halten zu wollen. Was tut Citytrans darüber hinaus, um für die Mitarbeitenden attraktiv zu sein und sie zum Bleiben zu bewegen?

«Wir bieten Aufstiegsmöglichkeiten – jemand, der bei uns als Chauffeur anfängt, kann es bis zum Betriebsleiter bringen», sagt Ivkovic. «Und natürlich haben wir Angebote, die den Alltag angenehmer machen oder das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken: etwa Kaffee, auf die Mitarbeiterwünsche ausgerichtete Snacks in den Automaten und ein Kühlschrank mit täglich frischen Salaten und Sandwiches. Neu veranstalten wir auch einmal pro Quartal ein grosses Mitarbeiterfest für alle unsere sechs Standorte statt nur eines jährlichen Weihnachtsessens wie früher.»

Dragana Ivkovic lacht: «Ich bin nur froh, dass noch niemand von den Chauffeuren auf die Idee gekommen ist, Homeoffice zu verlangen – das ist das Einzige, was wir ihnen nicht bieten können.» Es seien aber auch die anderen Mitarbeitenden, von der Administration über HR bis zur Disposition, nach der Corona-Pandemie wieder zurück ins Firmenoffice gekommen und arbeiteten kaum noch von zu Hause aus. «Nicht, dass wir das nicht dürften. Aber wichtig sind uns Solidarität, Fairness und Teamspirit – die Chauffeure sind schliesslich den ganzen Tag im Lieferwagen unterwegs und tragen und heben Lasten. Da wollen wir für sie da sein, wenn sie im Büro vorbeikommen und eine Lösung für ein Problem brauchen.» Letztlich brauche es Fingerspitzengefühl und eine Balance, damit niemand benachteiligt werde und sich alle gleich behandelt fühlen, sagt Ivkovic.

So würden in einem KMU wie Citytrans dann auch alle am gleichen Strang ziehen. Doch trotz allen Entgegenkommens, eines müsse klar sein: «Gute Löhne und attraktive Benefits müssen zuerst erwirtschaftet werden. Daher sind auch alle Mitarbeitenden angehalten, ihren Beitrag zu leisten. Letzten Endes ist es ein Geben und Nehmen zwischen den Arbeitnehmenden und dem Arbeitgeber.» Das Fazit lautet also: Die Arbeitnehmenden mögen zwar vielleicht bald am längeren Hebel sitzen – doch das wird nur so lange gutgehen, wie sich die Firmen das leisten können. Wenn Mitarbeitende zudem mehr verlangen, als sie zu geben bereit sind, hebeln sie auf lange Sicht ihre Arbeitgebenden aus. Und damit auch sich selbst.

Für die Gastrounternehmer Péclard und Weber ist die Rechnung bisher aufgegangen. Das Geschäft brummte für sie, und das, obwohl sie beim Lohn tief in die Tasche griffen: Die Personalkosten seien zwar gestiegen, wie sie gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagten, aber weil sich die Mitarbeitenden aufgrund der Umsatzbeteiligung so engagierten, als gehöre der Betrieb ihnen, hätten sich auch die Einnahmen erhöht – die Personalkosten seien in der Folge prozentual gesunken. Zudem sei der Arbeits- und Fachkräftemangel für sie jetzt kein Problem mehr; sie werden von Bewerbungen überhäuft.

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Jelena Martinelli hat als Abteilungsleiterin für SwissRe und Swisscom gearbeitet. Heute ist sie selbstständige Texterin, freie Journalistin und Autorin, und berät KMU zu Kommunikationsfragen. www.martinellitext.com

Jelena Martinelli hat als Abteilungsleiterin für SwissRe und Swisscom gearbeitet. Heute ist sie selbstständige Texterin, freie Journalistin und Autorin, und berät KMU zu Kommunikationsfragen. www.martinellitext.com

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