Berechnung der verlängerten Probezeit im Krankheitsfall
Ein Urteil über einen Krankheitsfall während der Probezeit wirft die Frage auf, ob die Berechnung einer verlängerten Probezeit anhand Kalendertage oder effektiven Arbeitstage zu berechnen ist.
Illustration: Jonas Raeber.
BGE 8C_317/2021, Urteil vom 8. März 2022 (zur Publikation vorgesehen)
Das Urteil
Das Urteil Arbeitnehmer A. trat am 16. März 2020 eine Arbeitsstelle bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) an (öffentlich-rechtliches Arbeitsverhältnis). Vom 15. bis zum 19. Juni 2020 war A. krankgeschrieben. Am 22. Juni 2020 nahm er seine Arbeit wieder auf. Die SBB händigten ihm gleichentags eine auf den 22. Juni 2020 datierte Kündigungsverfügung aus, worin sie festhielten, dass sie das Arbeitsverhältnis auf den 29. Juni 2020 beenden.
A. führte gegen die Kündigungsverfügung Beschwerde bis ans Bundesgericht und machte unter anderem geltend, die Kündigung sei erst nach Ablauf der Probezeit erfolgt, weshalb die SBB den Lohn während der ordentlichen Kündigungsfrist von drei Monaten schulden. Gemäss Ziff. 22 des Gesamtarbeitsvertrags (GAV) 2019 der SBB gelten die ersten drei Monate des Arbeitsverhältnisses als Probezeit.
Die Frage der Probezeit-Verlängerung aufgrund Krankheit von A. wurde mangels GAV-Regelung nach Art. 335b Abs. 3 OR beurteilt. Danach wird die Probezeit entsprechend verlängert, wenn sie infolge Krankheit, Unfall oder Erfüllung einer nicht freiwillig übernommenen gesetzlichen Pflicht effektiv verkürzt wird. Bezüglich der Verlängerungsberechnung hielt das Bundesgericht fest, dass sich diese nicht nach Kalendertagen bestimme, sondern nach Anzahl ganzer Arbeitstage, an denen der oder die Arbeitnehmende an der Arbeitsleistung verhindert gewesen sei. Dabei greife die Verlängerung auch bei kurzen Absenzen.
Die Probezeit von A. begann am 16. März 2020 und endete grundsätzlich am 16. Juni 2020. Er versäumte krankheitsbedingt zwei Arbeitstage innerhalb der Probezeit (15. und 16. Juni 2020) und blieb danach bis und mit 19. Juni 2020 (Freitag) krankgeschrieben. Da der 20. und der 21. Juni 2020 (Samstag und Sonntag) arbeitsfrei waren, befand das Bundesgericht, dass A. erst am 22. und 23. Juni 2020 (Montag und Dienstag) in der Lage gewesen sei, die krankheitsbedingt versäumten Arbeitstage effektiv abzuarbeiten.
Die Probezeit ermögliche den Parteien, einander kennenzulernen und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen beziehungsweise abzuschätzen, ob sie die gegenseitigen Erwartungen erfüllen, so dass sie über die beabsichtigte langfristige Bindung in Kenntnis der konkreten Umstände entscheiden könnten. Mit Blick auf diesen Gesetzeszweck sei die Probezeit-Verlängerung daher auf tatsächliche Arbeitstage umzulegen, also real abzuarbeiten. Es liefe dem Sinn und Zweck der Probezeit-Verlängerung um die effektiv verpassten Arbeitstage jedoch zuwider, wenn diese bereits am Sonntag (21. Juni 2020) geendet hätte.
Demnach endete die Probezeit im beurteilten Fall erst am 23. Juni 2020, womit die Kündigung am 22. Juni 2020 noch vor deren Ende eröffnet wurde. Das Bundesgericht wies die Beschwerde von A. deshalb ab.
Konsequenz für die Praxis
Auch wenn das Bundesgericht im vorliegenden Fall ein öffentlich-rechtliches Arbeitsverhältnis zu beurteilen hatte, gelten die dargelegten Grundsätze zur Berechnung der Probezeit-Verlängerung gemäss Art. 335b Abs. 3 OR in gleicher Weise auch in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen.
Massgebend ist, dass aufgrund von Sinn und Zweck der Probezeit für die Frage, ob eine Verlängerung der Probezeit greift, wie auch bis wann die Verlängerung dauert, auf effektive Arbeitstage abzustellen ist und nicht auf Kalendertage. Das vorliegende bundesgerichtliche Urteil bringt für die Praxis eine willkommene Klärung.