Beziehungskitt in der Dauerunruhe
Veränderung nervt viele Menschen – weil sie sich nach Stabilität sehnen. In unserer von Veränderung geprägten Welt können Unternehmen ihren Mitarbeitern die gewünschte Stabilität aber oft nicht bieten. Also braucht die Beziehung Unternehmen-Mitarbeiter ein neues Fundament.
Stabilität ist eine Illusion. Wie sollen Unternehmen damit umgehen? (Bild: 123RF)
Viele Menschen reagieren auf Veränderungen in ihrem beruflichen und privaten Umfeld so, als gebe es einen Normalzustand, in dem sich nichts verändert. Dabei ist Veränderung die einzige Konstante im Leben: Menschen verändern sich, Beziehungen wandeln sich, Gebäude altern, Dinge gehen kaputt, etwas wächst, etwas vergeht. Kurz: Stabilität ist eine Illusion.
Trotzdem haben die meisten Menschen eine grosse Sehnsucht nach Stabilität. Sie ist oft so gross, dass wir die Augen zukneifen und das Leben in so kleinen Zeitabschnitten betrachten, dass wir die Veränderung nicht sehen. Eine Ursache hierfür ist folgende: In unserem Alltag erfordert es meist wenig Energie, Dinge (scheinbar) stabil zu halten. Verändern hingegen kostet Kraft. Doch reicht das als Begründung oder Rechtfertigung für das Festhalten an der Illusion «Stabilität»? Wenn wir ehrlich sind, wissen wir: Wir machen uns etwas vor.
Wie befreien wir uns aus dem Dilemma, dass wir Menschen einerseits eine tiefe Sehnsucht nach Stabilität haben, die oft in Bequemlichkeit mündet, und andererseits alles im Fluss und Wandel ist?
Diese Frage beschäftigt viele Unternehmer. Denn offensichtlich hat in unserer Wirtschaft das «Alles ist im Fluss» eine neue Dynamik gewonnen: Märkte verändern sich immer schneller, die technologische Entwicklung schreitet rascher voran, Produktlebenszyklen werden kürzer, Strategien haben eine immer kürzere Halbwertszeit ...
Mit der Dauerunruhe leben
Früher konnte man als Chef nach einer Reorganisation oder strategischen Neuausrichtung den Mitarbeitenden (und Kapitalgebern) eine gewisse Konstanz und Sicherheit versprechen. Heute ist es oft sogar unmöglich, für ein Jahr verlässliche Prognosen abzugeben. Deshalb herrscht in zahlreichen Unternehmen eine Art Dauerunruhe-Zustand. Und viele Führungskräfte stecken im Dilemma, dass sie ihren Mitarbeitern nicht mehr versprechen können: «Ihr Job ist sicher». Oder: «Unsere Strategie gilt für die nächsten Jahre.» Zugleich fordern ihre Mitarbeiter jedoch Sicherheit und eine längerfristige Planung.
Aktuell geistert durch die Management-Diskussion ein Begriff, der diesen Zustand der Dauerunruhe beschreibt: das Akronym VUKA. Es fasst formelhaft zusammen, dass wir in einer immer volatileren, unsichereren, komplexeren und mehrdeutigeren Welt leben. Daran besteht kein Zweifel. Doch was bedeutet das für uns Menschen? Wie gehen wir mit dieser Situation um, und wie finden wir uns in ihr zurecht?
Bei den Mitarbeitenden von Unternehmen (wozu auch deren Führungskräfte zählen) erlebte man oft folgende Reaktionen.
- Reaktion 1: Change-Müdigkeit. Sie zeigt sich unter anderem darin, dass Anpassungsanforderungen mit Lethargie, Fatalismus oder Zynismus kommentiert werden.
- Reaktion 2: Change-Ignoranz. Manche Mitarbeiter haben gelernt, Neuerungen einfach auszusitzen – gemäss der Maxime: «Wenn ich mich langsam genug bewege, ist diese Welle vorbei, bevor ich etwas ändern muss.»
- Reaktion 3: aktiver Widerstand. Durch ein Festhalten an Überholtem sowie durch Endlos-Diskussionen und Stimmungsmache wird hierbei mit Zähnen und Klauen versucht, den Status quo zu erhalten.
Selbstverständlich begegnet man in den Unternehmen auch Mitarbeitern, die sich auf Veränderungen einlassen. Doch das Gros leidet unter der Dauerunruhe und ist wenig offen für Veränderungen.
VUKA
- Das V steht für volatil (flüchtig, schwankend). Es bezieht sich auf die zunehmende Häufigkeit und Geschwindigkeit von Veränderung. Was gestern noch galt, kann heute aufgrund veränderter Rahmenbedingungen ganz anders sein.
- Das U steht für unsicher. Vorhersehbarkeit und Planbarkeit lösen sich mehr und mehr auf.
- Das K steht für komplex. Alles hängt zunehmend mit allem zusammen. Zahllose Verknüpfungen, Abhängigkeiten und Einflussfaktoren wollen bedacht sein. Ursache und Wirkung von Entscheidungen sind kaum mehr nachvollziehbar.
- Das A steht für ambivalent (mehrdeutig). Die Zeit der Königswege ist vorbei. Statt schwarz-weiß herrschen Widersprüchlichkeiten und vielfältige Schattierungen. Sowohl-als-auch-Fakten machen Entscheidungen schwierig.
VUKA nimmt zu – doch nicht in allen Lebens-, Wirtschafts- und Unternehmensbereichen gleich stark. Wichtig ist es herauszufinden, in welchen Bereichen VUKA dominiert und in welchen nicht, und welche Interventionen deshalb zielführend sind. Es gibt durchaus Koexistenzen von Stabilität und Instabilität.
Agile Organisation – eine Antwort?
Was dagegen tun? In Management-Kreisen wird in jüngster Zeit als mögliche Lösung das Thema «agile Organisation» diskutiert – also das Implementieren einer Unternehmenskultur, die sich der Veränderungsdynamik bewusst ist und darauf mit einer hohen Anpassungsfähigkeit antwortet. In einem solchen System, so die Hoffnung, organisieren sich die Menschen anders als bisher. Sie entscheiden schneller, tragen Verantwortung und tauschen sich aus. Doch wer sind die Träger einer solchen Kultur? Die Menschen in der Organisation und ihre Beziehungen zueinander. Also gilt es, hier den Veränderungshebel anzusetzen.
Dies ist unter anderem nötig, weil in einer agilen Organisation, die weitgehend auf starre Organigramme, Bereichsgrenzen und Aufgabenbeschreibungen verzichtet, die Orientierungsanker andere als in der klassischen Top-down-Organisation sind. Und die Mitarbeiter können sich bei ihrer Arbeit weniger auf Beschlüsse in der Vergangenheit sowie Vorgaben von aussen beziehen. Sie müssen «wach» sein und über die Fähigkeit verfügen, einzuschätzen, was gerade passiert – und hierauf sinnvoll zu reagieren. Statt Beständigkeit ist geistige Flexibilität gefragt. Statt Dienst nach Vorschrift sind Neugier und Selbstbewusstsein gefordert. Statt Stabilität findet Entwicklung statt.
Eine solche Form des Miteinanders hat dramatische Auswirkungen auf die Beziehung Unternehmen-Führung-Mitarbeiter. Wir sind im betrieblichen Kontext ein Beziehungsmodell gewohnt, in dem getroffene Vereinbarungen sozusagen dauerhaft Gültigkeit haben – seien dies Vereinbarungen bezüglich der Arbeitszeit, Entlohnung, Zuständigkeiten, Arbeitsinhalte oder Karrierepfade. Und dies wird von vielen Mitarbeitern weiterhin erwartet. Doch wie soll das funktionieren, wenn sich die Rahmenbedingungen ständig ändern? Müssen wir uns dann nicht stärker auf «agile Deals» zwischen den Unternehmen sowie deren Führungskräften und ihren Mitarbeitern einstellen? Vermutlich!
Beziehungskitt: gemeinsame Werte
Was hält das soziale System Unternehmen noch zusammen, wenn dieses zentrale Bedürfnisse seiner Mitglieder (wie die nach Sicherheit und Verlässlichkeit) nur noch bedingt erfüllen kann?
Wenn in Unternehmen die Veränderungsdynamik so gross wird, dass schriftliche Vereinbarungen das Papier nicht mehr wert sind, auf dem sie stehen, dann gewinnen die gemeinsamen Werte an Bedeutung: Sie schweissen zusammen. Und aus dem gemeinsamen Wertekanon erwächst der Zusammenhalt, den Planungen und Strategien nicht mehr schaffen können. Wenn die vielen Einzelnen, die dem System angehören, durch bestimmte Werte miteinander verbunden sind, gehen sie gemeinsam durch Dick und Dünn – unter anderem, weil dann die Beziehungspartner berechenbar bleiben und Vertrauen entstehen kann.
In die Unternehmenskultur eintauchen
Doch wie entsteht in Unternehmen eine solche gemeinsame Wertebasis? Was fördert einen entsprechenden Team-Spirit? Wie wächst das hierfür nötige Vertrauen? Die Antwort lautet: Indem das Unternehmen, die Führungsmannschaft (mit den Mitarbeitern) die Unternehmenskultur gezielt beeinflusst und prägt. Das ist keine leichte, jedoch eine spannende und lohnende Aufgabe ... und eines der Kernthemen von Führung in der VUCA-Welt.
Kulturentwicklung erfordert eine Art Tiefseetauchen. Wenn wir von Unternehmenskultur sprechen, sprechen wir vom kollektiven Gedächtnis einer Organisation – von den Erfahrungen, aber auch Narben, die im Untergrund wirken. Sie fliessen in die Haltung und das Handeln der Menschen ein. Reine Appelle hingegen verpuffen meist wirkungslos – ebenso wie bunte Poster mit Vertrauensslogans.
Wenn der Change als alltägliche Herausforderung akzeptiert und gelebt werden soll, dann bedeutet das für Führung vor allem: Schnorchel an und rein in die Tiefen der das (gemeinsame) Verhalten prägenden Werte und Prinzipien.