HR Today Nr. 5/2017: Im Gespräch

«CEOs sollten dringend demütiger werden»

Edgar H. Schein, Organisationsentwicklungs-Ikone mit Schweizer Wurzeln, legt fast 90-jährig mit «Humble Leadership» ein neues Buch vor. Am 23. Mai wird er an einer gleichnamigen Konferenz in Zürich per Video-Livestream seinen neusten Ansatz der «vorurteilslosen Führung» präsentieren. Im Gespräch: Schein über «Führung mit Demut», Organisationsentwicklung und Holacracy – wir haben eine O-Ton-Auswahl und die deutsche Übersetzung des Video-Interviews.

Herr Schein, was sind die Kernelemente Ihres neuen Buches «Humble Leadership»?

Edgar H. Schein: Wenn man die Berater-Beziehung betrachtet, wird einem schnell klar, dass es sich um eine «helfende Beziehung» handelt. Insofern basiert die Grundidee meines Ansatzes auf dem Konzept des Helfens.

Was verstehen Sie unter Hilfe?

Ich habe beobachtet, dass es beim Konzept der Hilfe in erster Linie um Beratung geht. Kunden stellen eine Frage und als Berater sagt man ihnen, was sie zu tun haben. Dieses Konzept entspricht in der Realität jedoch nicht meiner doch ziemlich langen Arbeitserfahrung.

Sondern?

Ich habe realisiert, dass ein wichtiger Teil einer Kundenbeziehung darin besteht, dem Kunden zuzuhören und ihm Respekt zu zollen. Das verpflichtet mich als Berater zu Demut in dem Sinne, dass ich willens und fähig bin, dem Kunden zuzuhören und ihm dabei zu helfen, herauszufinden, was das eigentliche Problem ist, das es zu lösen gilt. Das ist das Kernelement.

Sie haben sich ein Leben lang mit Fragen der Organisationsentwicklung beschäftigt und gelten als Koryphäe in dieser Disziplin. Worin sehen Sie heute ihre Bedeutung?

Organisationsentwicklung ist zu einem unüberblickbaren Werkzeugkasten verkommen, der alles Mögliche vereint: von Diagnose-Tools über Teambuilding-Programme bis hin zu Leadership-Development-Instrumenten ... – Kurz: Es lässt sich mit dem Begriff viel Geld machen, denn Organisationen wollen nun mal Tools. Doch wenn Sie beim schier unüberblickbaren Angebot nicht mehr unterscheiden zwischen organisationaler Beeinflussung, dem Toyota-Produktionssystem und allerlei Führungskräfteentwicklungsprogrammen, bleibt Organisationsentwicklung Bruchwerk. Dennoch werden heute all diese Dinge dem Begriff Organisationsentwicklung zugeschlagen. Insofern macht es keinen Sinn, die Frage zu stellen, ob Organisationsentwicklung noch relevant ist. Es kommt viel mehr darauf an, worauf man sich konkret bezieht.

Sie haben in Ihrer Karriere schon viele Trends kommen und gehen sehen. Was halten Sie vom aktuell gehypten Begriff der «Holacracy»?

Zunächst ist er für mich Ausdruck davon, was heute an der Basis von Organisationen abgeht. Es geht darum, denjenigen Beschäftigen, die im direkten Kontakt mit den Kunden stehen, eine Arbeitsumgebung zu bieten, die Innovationen vorantreibt. Apple und Google sind ziemlich führend darin, den nachrückenden Talenten eine entsprechende Arbeitsumgebung zu bieten. Es ist eine gute Organisationsform, aber überhaupt nicht neu. Der Begriff basiert auf einem Konzept, mit dem man in Forschungszentren und Thinktanks schon immer gearbeitet hat. Aber für ein Verkaufsteam der Konsumgüterindustrie ist Holacracy bestimmt ein neues Konzept (lacht).

Wie lautet Ihr Rat an die Führungskräfte von heute und morgen?

Als ich das Buch «Humble Leadership» schrieb, musste ich zunächst definieren, was ich unter Leadership verstehe, damit es überhaupt Sinn macht. Am sinnvollsten ist mein Ansatz an der Spitze einer Organisation. Denn ich beobachte seit einiger Zeit immer öfter, dass CEOs von reifen oder alternden Firmen zerrissen sind zwischen den Ideen der Geschäftsleitung, den Marktansprüchen und den Vorstellungen der Analysten. Sie fragen sich ständig, was der nächste Schritt ist. Diese Art von CEOs sollte besser dringend demütiger werden, bevor sie Entscheidungen fällt, denn ein CEO wird niemals alleine genug Wissen haben, um zu entscheiden, was zu tun ist. Das ist eines der zentralen Ziele meines Konzepts. Der CEO der Zukunft wird in dieser modernen, hochvernetzten Welt schlicht und einfach nicht genug Wissen für vernünftige Entscheidungen generieren, wenn er alleine in seinem Büro sitzt. Dabei nehme ich CEOs von technologiegetriebenen Neugründungen explizit aus.

Sie werden am 23. Mai an der Konferenz «Humble Leadership» per Video-Livestream ein Referat halten. Was dürfen die Teilnehmer erwarten?

Ich denke, dass die Lektion am Ende eine persönliche Erkenntnis sein wird. Ich glaube wirklich, dass sich ein demütiger Führungsstil deutlich vom traditionellen Leadership-Verständnis unterscheidet. Allerdings setzt dies eine andere Geis­teshaltung und Denkart voraus, die zunächst einmal persönlich erreicht werden muss. Deshalb glaube ich, dass jede Führungskraft am besten bei sich selbst anfängt und zuerst seine eigenen blinden Flecken eliminiert, bevor er oder sie eine grössere Gruppe von Leuten beeinflussen will. Werden Sie sich bewusst, was Sie nicht gut machen. Suchen Sie nicht nach Fertigrezepten. Schauen Sie, dass Sie und die Leute in Ihrem Umfeld Ihr Repertoire erweitern und dass Sie als Führungskraft eine bescheidene beratende Haltung einnehmen. (Simon Bühler, basierend auf Video-Interviews von Gerhard Fatzer und Daniel C. Schmid)

Zur Konferenz

Am 23. Mai stellt die Konferenz «Humble Leadership» mit einer Videostream-Live-Keynote von Edgar H. Schein die Grundlagen von Scheins neustem Ansatz der «vorurteilslosen Führung» vor. Dieser ist eine konsequente Weiterführung seiner bahnbrechenden Werke der Organisationsentwicklung: Prozessberatung − Unternehmenskultur − Führung. Die Konferenz wird von Dr. Daniel C. Schmid, HWZ, und von Dr. Gerhard Fatzer, Trias, dem langjährigen Kooperationspartner Ed Scheins, organisiert. Nach einer Werkeinführung durch Gerhard Fatzer werden aktuelle Cases aus der Führungs- und Beratungspraxis in vier parallelen Workshops sowie an einem Podiumsgespräch eingehend bearbeitet und diskutiert. Exklusiv präsentiert Daniel C. Schmid auch neuste Erkenntnisse aus Ed Scheins Familienforschung. Abschliessend stellt Ed Schein – exklusiv im deutschsprachigen Raum – per Live-Keynote sein aktuelles Buch «Humble Leadership» vor.

  • Wann: 23. Mai, 13.30 –19.30 Uhr
  • Wo: HWZ (Sihlhof, Lagerstrasse 5; direkt beim HB Zürich)
  • Kosten: CHF 490.– (regulär)
  • Mit HR Today-Abo: CHF 390.–
  • Infos und Anmeldung: fh-hwz.ch/humble

Zur Person

Edgar «Ed» H. Schein (89) ist einer der Begründer der Organisationsentwicklung. Er wurde 1928 in Zürich geboren. Sein Vater wuchs in der K.-u.-k.-Monarchie auf, studierte in den 1920er-Jahren in Deutschland Physik und doktorierte an der Universität Zürich. Die Mutter stammte aus Deutschland und war ebenfalls Physikerin. 1935 emigrierte die Familie aufgrund einer verweigerten Arbeitsbewilligung der Schweizer Behörden zuerst nach Odessa, dann weiter nach Prag und 1938 über Zürich nach Amerika, wo sein Vater an der Universität Chicago unterrichtete. Das Schicksal der in der damaligen Slowakei verbliebenen jüdischen Familie ist ungewiss.

Ed Schein war Schüler von Doug­las McGregor am M.I.T. Massachusetts Institute of Technology und vorher an den Universitäten Chicago, Stanford und Harvard Schüler von Carl Rogers, Erving Goffmann, dem Ehepaar Kluckhohn und Talcott Parsons. Am M.I.T. arbeitete er am «Research Center of Group Dynamics» von Kurt Lewin unter anderem mit Warren Bennis, Chris Argyris und Richard Beckhard zusammen. In seiner langen Karriere schuf Schein die Grundlagen der Organisationsentwicklung und setzte diese in den Büchern «Philosophie des Helfens» und später «Vorurteilsloses Befragen, Beratung und Führung» um. Alle Werke entwickelte er in direktem Austausch mit seinen Kunden.

Ed Schein war bis zu seiner Emeritierung Sloan Fellows Professor of Management am M.I.T. und lebt heute in Kalifornien. Seine Werke sind allesamt Meilensteine der Organisationforschung. Im deutschsprachigen Raum pflegt er mit Gerhard Fatzer, Gründer des Trias Instituts, eine langjährige Kooperation mit Konferenzen und gibt mit ihm auch die Buchreihe «EHP Organisation» sowie die Zeitschrift «Profile» heraus. (Daniel C. Schmid)

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Ehemaliger Chefredaktor HR Today.

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Dr. Daniel C. Schmid leitet die Academy der HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich. Er berät seit über 15 Jahren renommierte Unternehmen in strategischen Weiterbildungsthemen. Mit 2´200 Studierenden und rund 500 Dozierenden aus der Praxis ist die HWZ die grösste Hochschule mit ausschliesslich berufsbegleitenden Studiengängen im Bereich Wirtschaft der Schweiz.

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Gerhard Fatzer ist seit 1991 Leiter des Trias Instituts für Coaching, Supervision und OE mit Ausbildungsgruppen in den DACH-Ländern: www.trias.ch

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