«In China ist alles weniger vorhersehbar, das mag ich»
Fast acht Jahre arbeitete Martin Meier in Asien, unter anderem als Vice President HR Asia für OC Oerlikon. Er kennt die Voraussetzungen, um im asiatischen Raum erfolgreich zu sein, und weiss, wie die HR-Prozesse dort aufgegleist werden müssen. Heute arbeitet er als Global Head HR bei Sulzer Chemtech – und würde wieder nach Asien gehen.
Asienkenner Martin Meier. (Foto: Markus Forte)
Herr Meier, sind Sie dank Ihren langjährigen Auslandserfahrungen interkulturell kompetent?
Martin Meier: Ich glaube, man kann für einen gewissen Kulturkreis oder ein gewisses Land interkulturell kompetent sein. Ich bin es zum Teil für Asien, da ich unter anderem längere Zeit in China, Taiwan, Singapur, Japan, Korea und Indien zu tun hatte.
Was bedeutet für Sie, interkulturell kompetent zu sein?
Es braucht ein theoretisches Grundverständnis für die Geschichte eines Landes, seine Kultur und es ist von Vorteil, wenn man die Landessprache spricht. Zudem muss man die wichtigsten Theorien über multikulturelles Management gelesen haben. Das Allerwichtigste ist für mich jedoch die eigene Reflexionsfähigkeit: die Fähigkeit, gewisse Situationen zu reflektieren und aus ihnen zu lernen. Das wiederum kann ich nur, wenn mein theoretischer Rucksack über Land, Leute und Kultur genügend gross ist.
Reicht dieses theoretische Wissen aus, um nicht in typische kulturelle Fallen zu tappen?
Nein. Weil man nicht aus seiner eigenen Haut schlüpfen kann, macht man die Fehler, über die man gelesen hat, trotzdem. Zum Beispiel habe ich am Anfang meines Einsatzes in Schanghai in einem Meeting jemanden zu fest persönlich kritisiert. Obwohl ich wusste, dass man Kritik individuell unter vier Augen anbringen muss und niemals in Meetings. Hier hilft es, die Situation genau zu analysieren, damit der Fehler nicht zweimal passiert.
Was hat Sie bei Ihrem früheren Arbeit geber, der OC Oerlikon, dafür qualifiziert, nach Asien zu gehen?
Schon vor und während meines Studiums reiste ich in Asien herum. Nach Studienabschluss arbeitete ich ein Jahr in Taiwan und lernte dabei Mandarin, die offizielle Sprache von China. Ich spreche die Sprache auf einfachem Niveau fliessend, kann sie aber nicht wirklich lesen oder schreiben. Zudem habe ich meine Diplomarbeit an der Uni St. Gallen über multikulturelle Teamentwicklung geschrieben und mir viel theoretisches Wissen über Geschichte und Kultur der Chinesen angeeignet. Praktisches Können lernte ich dann in dem Jahr Praktikum, das ich von der Universität aus in Taiwan in verschiedenen Firmen verbrachte. Bevor ich meinen langjährigen Auslandseinsatz antrat, war ich zudem für OC Oerlikon ein Jahr in Taiwan. In einer Sales- und Service-Organisation fungierte ich als General Administration Manager und war für die Finanzen, IT, HR und für das Marketing zuständig. Die Firma wuchs in der Zeit von zehn auf siebzig Leute.
Sie waren mehr als fünf Jahre in Schanghai stationiert – welche HR-Prozesse funktionieren dort ganz anders als in der Schweiz?
Die Rekrutierungen sind viel aufwändiger. Beispielsweise haben wir Produktionsmitarbeiter gesucht. Es wurden etwa hundert Leute mit dem Lastwagen vor unsere Firma gebracht, die dann dort Schlange standen. Wir haben einen Test von einem ganzen Tag erarbeitet, um die Leute zu selektionieren. Geschriebene Unterlagen geben oft nicht wirklich Auskunft über die Qualifikation der Leute, einerseits gibt es keine Lehre, andererseits werden CV relativ kreativ geschrieben. Auch Referenzen einholen, gerade bei höheren Funktionen, ist unmöglich. Das ist kein gängiger Prozess und man bekommt keine nützlichen Antworten.
Was sind kreativ geschriebene CV?
Sie werden angepasst je nach Stelle, auf die sich die Leute bewerben. Das betrifft auch die Diplome, die in der Realität nicht immer vorhanden sind, so wie im CV beschrieben. Das bedeutet, um jemanden einschätzen zu können, braucht es mehrere Gespräche. Ich habe mehrere informelle Anlässe veranstaltet, etwa Mittagessen und Events, um so den Bewerber besser einschätzen zu können. Rekrutierungen brauchen viel mehr Zeit als bei uns und es sind mehr Leute beteiligt.
Gibt es noch einen weiteren Prozess, der in China anders aufgegleist werden muss?
Die Mitarbeiterentwicklung. In Europa wird Weiterbildung oft auch durch interne Schulung abgewickelt. In China wird das nicht sehr geschätzt: Für die Leute ist eine externe Weiterbildung extrem wichtig. Nur wer von dort mit einem Zertifikat herauskommt, hat das Gefühl, einen wertschöpfenden Mehrwert erworben zu haben.
Was ist Ihnen speziell aufgefallen bei den chinesischen HR-Spezialisten?
Sie sind fachlich sehr kompetent, aber zu stark nur auf die HR-Prozesse fokussiert. Sie haben Mühe, über ihre Disziplin hinauszudenken, sich beispielsweise für die Schnittstellen mit den Finanzen zu interessieren. Oft fehlt ihnen auch das Verständnis oder Interesse für das Kernbusiness des Unternehmens.
Wie war die Zusammenarbeit mit der Linie, hat man Sie als Ausländer anerkannt?
Die Zusammenarbeit war sehr gut. Zum Zeitpunkt, als ich da war, waren die Chinesen den Ausländern gegenüber hilfreich, freundlich und interessiert daran, Arbeitsplätze zu schaffen und Know-how zu transferieren. Ich habe mich sehr willkommen gefühlt. Schwierigkeiten ergaben sich eher aus der stark gelebten Hierarchie. Gibt es Probleme, wird der Vorgesetzte nicht direkt damit konfrontiert, ist er dazu noch Ausländer, sowieso nicht. Ich hatte mit meinen HR-Kollegen ein enges Vertrauensverhältnis und bin daher an die nötigen Informationen gekommen.
Ihre Kollegen haben Ihnen verraten, wo bei den Mitarbeitenden der Schuh drückt?
Verraten ist nicht das richtige Wort. Die Mitarbeitenden wollten ja, dass ich die Infos bekomme, und haben sie entsprechend platziert. Es ist ein normaler Weg, nicht den (ausländischen) Vorgesetzten direkt zu konfrontieren, sondern die Anliegen einem Dritten anzuvertrauen, der sie dann weiterträgt.
Wie äussert sich das oft genannte Harmoniestreben der Chinesen im Arbeitsalltag?
Konflikte werden weniger offen ausgetragen. Das kommt daher, dass Privat- und Geschäftsbeziehungen fliessend ineinander übergehen. Es gibt nicht diese eher strikte Trennung wie bei uns. In der Firma werden langfristige Netzwerke und Freundschaften aufgebaut, darum ist auch das Harmoniebedürfnis sehr hoch.
Was bedeutete das für Sie, wenn Privates nicht vom Geschäft getrennt wurde?
Ich musste mehr von mir geben. Wenn man Respekt und Vertrauen bei den Leuten erzeugen will, gehört es dazu, gelegentlich auch an Wochenenden etwas mit ihnen zu unternehmen. Man macht zusammen Ausflüge, singt, trinkt und macht Spiele. Die Führungskraft muss so etwas wie der grosse Bruder sein und den Mitarbeitenden zeigen, dass er sich um sie kümmert, sie beschützt. Und das nicht nur im Bezug auf Geschäftliches, sondern auch bei privaten Problemen.
Ist Ihnen diese Vermischung von Privatem und Geschäft schwergefallen?
Rein von meinem Charakter her schon. Aber ich wusste ja, was mich erwartet, als ich nach China ging, und daher habe ich mich einfach darauf eingelassen. Es war eine neue Erfahrung und sie hat mir sogar gefallen.
Stichwort interkulturelle Konflikte: Welche waren häufig und wie haben Sie sie gelöst?
Am häufigsten gab es Konflikte mit eher kurzfristig, das heisst ein bis vier Wochen, in Asien anwesenden Mitarbeitern aus Europa oder den USA, die zwar schon in vielen Ländern waren, aber nur oberflächliche und oft stereotypische Kenntnisse von Land und Leuten hatten. Das konnten Schweizer, deutsche oder amerikanische Verkaufs- oder Serviceleiter sein, die nicht den Willen hatten und sich die Zeit nicht nehmen wollten, persönliche Beziehungen aufzubauen. In China funktioniert es aber schlecht, wenn sich die Beziehung nur auf die Geschäftsebene beschränkt. Die entstehenden Konflikte, Missverständnisse sind nicht zu unterschätzen. Ich habe daher den ausländischen Kadern gesagt, dass sie mehr Zeit einplanen müssen, auch privat etwas mit ihren Leuten zu unternehmen.
An welches positive Erlebnis in Asien erinnern Sie sich besonders gerne?
An einem Sonntag rief mich ein IT-Leiter privat an, den ich rekrutiert hatte und der am folgenden Montag seine Arbeit hätte beginnen sollen. Er wollte mich unbedingt noch vor Arbeitsbeginn treffen. Das kam mir etwas komisch vor und die erste halbe Stunde in einer Hotellobby wusste ich auch nicht, was den Mann bedrückte, da er über Gott und die Welt schwatzte. Aber dann: Er gestand mir, dass er das in den Unterlagen erwähnte Abschlussdiplom nicht besass, aber alle Prüfungen absolviert hatte. Der Professor hatte ihm wegen eines Konfliktes das Diplom verweigert. Ich sagte ihm, dass für mich die Leistung zähle und er nun ehrlich die Situation berichtigt habe. Ich war zwar damals gar nicht sicher, ob ich richtig gehandelt hatte. Der IT-Leiter wurde jedoch zu einem super Mitarbeiter, zu dem ich heute noch Kontakt habe.
Sie waren insgesamt fast acht Jahre in Asien. Wie wichtig ist die Dauer von Auslandseinsätzen?
Ich plädiere stark für langfristige Einsätze, also mindestens drei Jahre. Kürzere Einsätze sind für mich wie etwas riechen, ohne zu sehen, essen und verdauen. Ich bin überzeugt, dass längere Aufenthalte sowohl für die Firma wie auch für das Individuum besser sind.
Würden Sie wieder nach Asien gehen?
Ja, morgen (lacht). Die dauernde Herausforderung, jeden Tag nicht zu wissen, was er bringt, das finde ich spannend. Zwar gibt es auch hier immer wieder Turbulenzen im Geschäftsleben, aber in China ist alles noch weniger vorhersehbar, das mag ich.
Martin Meier hat Betriebswirtschaft an der Universität St. Gallen mit dem Spezialgebiet Internationales Management abgeschlossen. Er hat einen MBA absolviert, am Insead die Weiterbildung Asia HR Management und am IMD (Lausanne) mehrere Leadership Trainings abgeschlossen. Meier war ab 1997 in verschiedenen Funktionen bei OC Oerlikon (ehemals Unaxis) tätig, unter anderem als HR Director Greater China und Vice President HR Asia (Greater China, Japan, Korea und South East Asia). Seit 2006 arbeitet er als Global Head HR bei Sulzer Chemtech in Winterthur und ist für die weltweit etwa 3000 Mitarbeitenden zuständig.