HR Today Nr. 2/2023: Im Gespräch mit Judith Wissmann Lukesch

«Das grössere Problem ist, dass viele Mitarbeitende schweigen»

Konflikte sind menschlich und kommen überall vor, wenn unterschiedliche Ansichten und Vorgehensweisen aufeinanderprallen. Manchmal eskalieren sie aber zu Mobbing und Belästigung. Judith Wissmann Lukesch, Rechtsanwältin und Gründerin von Arbeit und Konflikt.

Sie beschäftigen sich beruflich mit Mobbing, sexueller Belästigung, Whistleblowing, Diskriminierung, Burnout und Machtspiele. Wie gut gehen Firmen damit um?

Judith Wissmann: In der Praxis funktioniert das besser als noch vor zwanzig Jahren. Damals herrschte im HR viel Unbeholfenheit im Umgang mit diesen Themen. Inzwischen haben sich Personaler aber grössere Kompetenzen angeeignet. Vor allem in jenen Firmen, die bereits damit konfrontiert waren. Vielerorts existieren dafür HR-Prozesse. Etwa bei sexueller Diskriminierung oder Mobbing. Dadurch sind HR-Fachkräfte besser auf das vorbereitet, was damit auf sie zukommt.

Was kommt am häufigsten vor?

Als Anwältin bin ich bei Untersuchungen und Beratungen am häufigsten mit dem Thema sexuelle Belästigung konfrontiert, gefolgt von Mobbing und Machtmissbrauch. Während der Pandemie ging es wegen der fehlenden Büro-Präsenz jedoch eher darum, dass sich manche Mitarbeitende schikaniert fühlten. Beispielsweise, weil sie mit der Videotechnologie nicht zurechtkamen und von Technikaffinen blossgestellt wurden. Daneben hatte ich mit einer grösseren Versicherung zu tun, bei der es zu krassen Führungsfehlern kam, als ein Vorgesetzter einer Unterstellten zu nahekam. Auch bei der Polizei zeigte sich ein solches Muster: Eine junge Polizistin wurde von einem Polizei-Kollegen zunächst mit Komplimenten eingewickelt, dann aber immer mehr unter Druck gesetzt, um sie gefügig zu machen. Auch im Spitalumfeld kam es wiederholt zu Mobbing und Belästigungen, die auch zu Kündigungen führten.

Judith Wissmann Lukesch

Judith Wissmann Lukesch ist Präsidentin und Gründerin des interdisziplinäres Netzwerks Arbeit und Konflikt. Die mitwirkenden Expertinnen und Experten unterstützen Firmen bei Vorwürfen wie sexueller Belästigung, Mobbing und Diskriminierung. Arbeit und Konflikt bietet Seminare und Inhouse-Workshops zum Schutz der persönlichen Integrität von Mitarbeitenden für Fach- und Führungskräfte, Anlaufstellen, HR und Mitarbeitende. arbeitundkonflikt.ch

 

Wie definieren Sie Mobbing?

Damit sind systematische, anhaltende Schikanen und herabsetzende Verhaltensweisen gemeint, mit dem Ziel jemanden «fertig zu machen» oder «rauszuekeln».

Wer steht in der Pflicht, Hilfe anzufordern?

Wenn es eine interne Anlaufstelle gibt, sollten Betroffene dieses Angebot nutzen, sofern diese Stellen nicht mit den Angeschuldigten verflochten sind. Sie können auch direkt Kontakt zum HR aufnehmen, sollten sich jedoch bewusst sein, dass das HR zum Handeln verpflichtet ist, wenn es sich um einen schwerwiegenden Fall handelt. Ansonsten bieten sich externe Fachstellen an. Beispielsweise die Beratungsstelle für Mobbing oder die Opferhilfestelle bei sexueller Belästigung. Führungskräfte, die ein unangebrachtes Verhalten wahrnehmen, sollten nicht zuwarten und HR rasch involvieren. Alles andere bringt nichts, weil sich eine Führungskraft schnell in einen Konflikt verwickelt, wenn sie nicht weiss, wem sie glauben und wie sie vorgehen soll.

Wie sollte sich HR verhalten, das zwischen allen Fronten steht?

Wichtig ist, Klarheit im Prozess zu schaffen – wo HR die Fallführung hat oder wo diese bei der Führungskraft verbleibt. HR muss zudem wissen, dass es als verlängerter Arm der Führung wahrgenommen wird und auch so handeln muss. Problematisch ist zudem, wenn HR jemandem Anonymität verspricht, dieses Versprechen dann aber nicht halten kann.

Was kann ein Externer thematisieren, was ein Interner nicht kann?

Das Hauptproblem besteht darin, dass es intern schwierig ist, die Distanz zu wahren, weil man die Leute kennt und kaum auseinanderhalten kann, was erwiesen ist und was nicht. Fehlt die Neutralität, sollten Personaler je nach Eskalationsgrad des Konflikts einen Coach engagieren oder eine Mediation durchführen. Bei sexuellen Belästigungen, insbesondere, wenn ein Machtgefälle zwischen Beschuldigten und Betroffenen besteht, sollte der Angelegenheit mit einer Untersuchung jedoch rasch auf den Grund gegangen werden. Bei Mobbingvorwürfen reicht es in vielen Fällen, wenn man mit «sanften» Methoden wie einem Coaching oder einer Mediation vorgeht, da häufig «bloss» grobe Führungsfehler vorliegen. Das hat den Vorteil, dass man keinen grossen Aufwand betreibt und man eher alle Mitarbeitenden behalten kann.

In Ihrer Medienmitteilung schreiben Sie, es komme seit der Rückkehr der Mitarbeitenden im Büro immer öfter zu Konflikt­situationen am Arbeitsplatz, welche die persönliche Integrität der Mitarbeitenden beeinträchtigen. Wie erklären Sie sich das?

Die Pandemie wirkte wie ein Dampfkochtopf. Solange man sich am Arbeitsplatz begegnete, musste man Konflikte direkt austragen. Vom Homeoffice aus war es einfacher, sich zu meiden. Als die Unternehmen wieder zur Normalität übergingen, kamen viele gärenden Konflikte nach der Rückkehr ins Büro zum Ausdruck. Durch Stress und Druck am Arbeitsplatz brannten vielen Menschen die Sicherungen durch. Es kam häufiger zu Wutausbrüchen und Szenen am Arbeitsplatz. Ich bemerke zudem eine Zunahme von Mobbing, Gewalt und Belästigungen. Einige dieser Situationen, in denen die persönliche Integrität von Mitarbeitenden verletzt wurden, haben wir in Schulungsvideos verarbeitet.

Was heisst «persönliche Integrität»?

Mit diesem Oberbegriff bezeichnet man die physische und psychische Gesundheit Integrität am Arbeitsplatz. Das ist auch im Arbeitsgesetz in Artikel 6 festgehalten, der auf den Gesundheitsschutz abzielt. Menschen müssen bei der Arbeit davor geschützt werden, persönlich so tangiert zu werden, dass sie ihre Leistung nicht mehr erbringen können. Arbeitgebende sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Mitarbeitende gesund bleiben. Nebst dem Arbeitsgesetz sind weitere Aspekte im Gleichstellungsgesetz geregelt. Artikel 4 verlangt beispielsweise den Schutz der Mitarbeitenden vor sexueller Belästigung und sexistischen Verhaltensweisen am Arbeitsplatz. Dabei muss ein Arbeitgeber präventiv tätig sein. Tut er das nicht, wird er entschädigungspflichtig und muss den Betroffenen bis zu sechs Monatslöhnen bezahlen.

Inwiefern leben wir in einer «übersensibilisierten» Kultur, in der aus jeder Mücke ein Elefant gemacht wird?

Das erlebe ich tatsächlich so. Beispielsweise, wenn das Wort «Mobbing» bei Konflikten vorschnell aufkommt. Droht HR dann mit einer Untersuchung, hören die Anschuldigungen jedoch schnell auf. Das grössere Problem ist jedoch, dass viele Mitarbeitende schweigen. Rund zwanzig bis fünfzig Prozent der Frauen erlebten am Arbeitsplatz Formen sexueller Belästigungen. Laut einer aktuellen Studie waren zehn bis zwölf Prozent der Lehrfachpersonen mit Mobbing innerhalb der Lehrerschaft konfrontiert, 35 bis 50 Prozent der Lehrfachkräfte mit Beleidigungen oder Gewalt seitens der Eltern oder der Kinder. Vor allem bei sexuellen Belästigungen schlucken Betroffene das Erlebte viel zu lange. Je länger sie aber zögern, solche Vorfälle zu melden, desto mehr verletzen sie sich selbst. Sie meiden die Cafeteria oder den Lift, weil sie einer bestimmten Person nicht mehr begegnen wollen, resignieren und kündigen innerlich oder reichen sogar ihre Kündigung ein.

Wann liegt ein ernsthaftes Problem vor?

Immer, wenn eine Seite leidet, die Arbeitsleistung beeinträchtigt ist oder jemand krank wird und daraus nicht mehr herauskommt. Das zeigt, dass sich ein Konflikt in eine ungute Richtung bewegt. Aufgrund seiner Fürsorgepflicht darf ein Arbeitgebender dann nicht wegschauen. Bei wiederholten Persönlichkeitsverletzungen wie Mobbing spielt der zeitliche Aspekt eine Rolle, der aus juristischer Sicht bei einem halben Jahr liegt. So lange sollte aber nicht zugewartet werden. Hinzu kommt die Wiederholung. Bei sexueller Belästigung reicht dagegen ein einziger Vorfall, um jemanden sogar fristlos zu entlassen, wenn nachweisbar ist, was die Betroffenen schilderten. Das ist jedoch schwierig zu belegen und erfordert eine externe Abklärung, wenn keine Beweismittel wie anzügliche Mails oder SMS vorliegen. Wichtig ist, dass die Beschuldigten mit der Anschuldigung konfrontiert, aber auch angehört werden. Je nach Reglement kann ein Unternehmen eine Kündigung androhen, fristlos kündigen oder eine Bewährungsfrist verhängen.

Treffen Menschen unterschiedlicher Werte bei der Arbeit ­aufeinander, sind Konflikte vorprogrammiert. Vieles lässt sich aber in einem Gespräch klären. Zum Beispiel Missverständnisse aufgrund unterschiedlicher Arbeitsweisen. Wann reicht das nicht mehr?

Stufe eins bis drei eines Konflikts – von Spannung und Verhärtung über Wortgefechte und Taten kann ein Unternehmen noch selbst bewältigen und eine Lösung finden, damit die Zusammenarbeit weiterhin funktioniert. Ab Stufe vier – der Gruppenbildung und Suche nach Verbündeten droht eine Eskalation, die ausser Kontrolle geraten kann und zu offenen Drohungen oder sogar Angriffen führt.

Wie fördert man das respektvolle Miteinander?

Allgemein, in dem Unternehmen auf Augenhöhe kommunizieren, Konflikte früh ansprechen, Gesprächsmöglichkeiten schaffen, wo darüber diskutiert wird, wie man miteinander redet, arbeitet und miteinander umgeht. Dafür reichen Team-Meetings und Kader-Tagungen sowie Schulungen von Führungskräften.

Häufig ist eine Partei am kürzeren Hebel. Zum Beispiel bei Konflikten zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden, wenn die Führungskraft von oben geschützt wird. Wie kann ein Konflikt unter diesen Umständen gelöst werden?

Das ist in der Tat ein Problem. Beispielsweise in Spitälern, die oft «Machtbetriebe» sind. Dem Machtgefälle und den damit einhergehenden Gefühlen des Ausgeliefertseins kann man fast nicht beikommen. Was eine Pflegerin gegenüber der Stationsleitung noch sagen kann, ist für eine Ärztin gegenüber einem Chefarzt fast nicht mehr möglich. Etwa, weil das Spital am Chefarzt festhält und ihn auf gar keinen Fall verlieren will. Oft haben Konflikte von Vorgesetzten und Unterstellten im Spitalbereich deshalb Mobbingqualitäten, einhergehend mit schwersten Führungsfehlern. Massnahmen zu ergreifen, fällt Spitalleitungen jedoch schwer. Ich habe schon erlebt, dass mein Untersuchungsbericht «schubladisiert» wurde, weil kein Staub aufgewirbelt werden sollte. Schreibt man sich die Unternehmenskultur auf die Fahne, sollte man sie aber auch leben und geeignete Rahmenbedingungen für Mitarbeitende schaffen.

Wann ist eine Führungskraft nicht mehr tragbar?

Das wird je nach Betrieb sehr unterschiedlich ausgelegt. Mir selbst hilft die Frage, ob die Integrität der Mitarbeitenden, aber auch der Kolleginnen und Kollegen auf derselben Hierarchiestufe verletzt wurden und ob die beschuldigte Führungskraft einsichtig ist. Wurde ein Fehlverhalten festgestellt und ist die Führungskraft nicht entwicklungsfähig, muss das Massnahmen nach sich ziehen, bis hin zu Trennungsempfehlungen.

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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