HR Today 4/23: Wissensmanagement

Das grosse Vergessen: Wenn Wissen verloren geht

Die Generation Babyboomer geht jetzt schon in Rente und nimmt ihren ganzen Erfahrungsschatz mit. Mit kaum Nachwuchs in Sicht wäre die Vorbereitung auf Wissenslücken am besten bereits gestern erfolgt.

«Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein grosser für die Menschheit», sagte Neil Armstrong, als er als erster Mensch einen Fuss auf den Mond setzte. Das technische und wissenschaftliche Meisterwerk der Mondlandung inspiriert noch heute. Doch die NASA vergass, wie sie diesen Kraftakt mit der Saturn V im Jahr 1969 voll­bringen konnte. Am Ende des Apollo-Programms wurden Fabriken geschlossen, die Vorrichtungen abgebaut und die Formvorlagen zerstört. Die über 400'000 am Projekt beteiligten Menschen fanden bald schon eine neue Beschäftigung – und mit ihnen verschwand die gesamte Expertise: Die Tausenden von Tests, Optimierungen und detaillierte Ablaufverfahren aufgrund von Simulationen können nicht aus den Zeichnungen der Saturn V abgelesen werden.1 Um eine weitere Mondlandung zu ermöglichen, arbeitet nun die Weltraumorganisation mühselig daran, dieses Wissen zu rekonstruieren und gleichzeitig mit neuen Technologien und Materialien zu verbinden. Das Beispiel zeigt, wie viel unternehmens- und projektspezifische Expertise implizit vorhanden ist. Lässt sich nun bald eine gesamte Generation pensionieren, ohne ihre Erfahrungswerte weiterzugeben, sind die Probleme bereits vorprogrammiert.

Zeit gewinnen

Ist man als Unternehmen noch nicht sicher, die drohende Wissenslücken überbrücken zu können, hilft nur noch eines: Zeit gewinnen. Doch wie? Eine mögliche Lösung wäre, die pensionsreifen Mitarbeitenden zeitlich gestaffelt in die Rente zu verabschieden – beispielsweise wie die Axa Versicherung mit ihrem «Senior Flex Modell». «Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass sich unsere Mitarbeitenden vermehrt Schritt für Schritt pensionieren lassen möchten. Diesem Bedürfnis wollten wir mit verschiedenen flexiblen Pensionierungsmodellen Rechnung tragen», sagt Mediensprecherin Joëlle Jeitler. Demnach ist das Ziel des Modells nicht, die betreffenden Mitarbeitenden von der Frühpensionierung abzuhalten. Die Axa sieht es vielmehr als einen Benefit für die Altersgruppe 50 plus, bei welcher das Thema Altersvorsorge bald konkret wird. Mit «Senior Flex» können Mitarbeitende ab dem 58. Altersjahr das Pensum reduzieren und den bisher in der Pensionskasse versicherten Lohn beibehalten. Das Modell ist zusätzlich mit einer Teilpensionierung kombinierbar. Das hat den Vorteil, dass gute und erfahrene Mitarbeitende gewillt sind, länger im Unternehmen zu bleiben, als vielleicht ursprünglich geplant. Damit bleibt die Versicherung in Zeiten des Führungskräftemangels auch für erfahrene Führungskräfte eine attraktive Arbeitgeberin.

Welche Arten von Wissen gibt es?

  • Individuelles Wissen: kognitives, aber auch motorisches Wissen eines Individuums, das sowohl implizit als auch explizit wahrgenommen wird. Beispiel: Skills und Erfahrungswerte.
  • Soziales Wissen: soziales Kapital, das aus Beziehungen und Kollaboration entsteht und hauptsächlich implizit vorhanden ist. Beispiel: Zusammenarbeit im Team, Netzwerke und langjährige Partnerschaften.
  • Kulturelles Wissen: kollektiv weiterentwickeltes und meist implizites Wissen, Denkweisen und Verhaltensmuster, um in einem bestimmten Gruppenkontext, einer Organisation oder einer Abteilung zu operieren. Beispiel: Umgang mit Kunden, Teamdynamik, Kommunikation.
  • Strukturelles Wissen: in Organisationssystemen, Prozessen, Routinen und Tools eingebettetes Wissen, das explizit und regelbezogen angewandt wird und extern gespeichert wird. Beispiel: Dokumentation, Anleitung, Guidelines und weitere Ressourcen.

Aus: DeLong, David W. Lost Knowledge. Confronting the Threat of an Aging Workforce. Oxford University Press, 2004.

Wissenskultur aufbauen

Den demografische Wandel spürt auch die Schweizer Armee. «In der Gruppe Verteidigung wird bis 2030 ein Viertel der Belegschaft pensioniert», bestätigt Thomas Staub, Leiter der ICT Warrior Academy. Dass ihnen bald die Mitarbeitenden ausgehen, bestätigten auch die Analysen der Führungsunterstützungsbasis (FUB), welche unter anderem Leistungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie für das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) erbracht hat. Mit der zunehmenden Technologisierung und Digitalisierung wuchs auch die Gefahr im Cyber- und im elektromagnetischen Raum. Damit die Schweizer Armee in allen Lagen über den notwendigen Wissens- und Entscheidungsvorsprung verfügt, wird die Führungsunterstützungsbasis aufgelöst und per Januar 2024 in das Kommando Cyber weiterentwickelt. Kein leichtes Unterfangen, wenn erfahrene Mitarbeitende in den Ruhestand gehen und der Nachwuchs im ICT-Bereich fehlt. Zudem bedauert Staub, dass die laufenden Transformationen den Wissensaustausch zwischen den Generationen erschwere. Eine mögliche Gegenmassnahme: den Nachwuchs selbst heranziehen und eine Wissenskultur aufbauen. So entstand das Konzept der ICT Warrior Academy mit dem Ziel, bestehende Mitarbeitende auf die kommenden Veränderungen weiterzuentwickeln sowie neue, lernbegierige ICT- und Cyberfachkräfte an Bord zu holen.

Bei der Rekrutierung setzt die ICT Warrior Academy nicht nur auf Fachkräfte mit EFZ in Informatik, Mediamatik oder verwandten Berufen, sondern ist auch offen für Quereinsteigende mit vergleichbaren IT- und Cyber-Kenntnissen. Das Programm ist nicht ganz ohne: «Im Lehrgang ICT-Systemspezialist/in Junior werden die Teilnehmenden während zwölf Monaten für die Arbeit in komplexen IT-Umgebungen fit gemacht und in verschiedenen Themengebieten von Betriebssystemen, Netzwerk, Datenbanken, Automatisierung, Monitoring und Logging, Cyber Security sowie agilen Methoden weitergebildet», beschreibt der Leiter des Projekts. Im Anschluss an ihre erfolgreich absolvierte Ausbildung werden die Nachwuchskräfte im Kommando Cyber angestellt. Trotz der Intensität erhält das Programm gute Rückmeldungen. «Die Lehrgänge werden als herausfordernd, vielfältig in den Fachthemen und zielführend für die weitere berufliche Karriere angesehen», sagt Staub. «Mit ihren erworbenen Fachkenntnissen können sie viel­seitig in der Organisation eingesetzt werden.» ­Darüber hinaus konnten praktisch alle der bestehenden Mitarbeitenden der FUB respektive des künftigen Kommando Cyber von den Aus- und Weiterbildungen in Technik und Methodik profitieren. Mit dem Aufbau einer positiven Unternehmens- und Wissenskultur und einer Ausrichtung auf agile Arbeitsmethoden will das Project Kommando Cyber das bestehende Wissen der Schweizer Armee nicht nur sichern, sondern sich für die anbahnenden Veränderungen im Cyberraum wappnen können. Unternehmen in ähnlichen Situationen rät Thomas Staub: «Es benötigt den bewussten Ausstieg aus dem Hamsterrad und einen Change im Mindset. Essenziell ist, dass Zeit und Raum für den Wissenstransfer respektive den Aufbau von neuem Wissen geschaffen werden.»

Generationenübergreifende ­Zusammenarbeit fördern

Die grösste Herausforderung in der Wissenssicherung ist die Weitervermittlung von implizitem Wissen, das aus Erfahrung und Beziehungen entsteht. Die Pflege einer bestimmten Pflanzenart lässt sich leicht nachschlagen, doch ein erfahrener Gärtner, der seit Jahren die gleichen Rosen hegt, weiss intuitiv, was ihnen fehlt, wenn die Blätter gilben. Erfahrung setzt sich aus einer komplexen Kombination von Mikrobeobachtungen zusammen, die schwer zu dokumentieren sind. Weil solches Wissen nicht von heute auf morgen weitervermittelt wird, rät Ulrike Strasser, Expertin für generationenübergreifende Zusammenarbeit, möglichst früh damit anzufangen. So empfiehlt sie, bereits bei der Teamkonstellation auf Altersdiversität zu setzen, um Vertrauen und ­Verständnis herzustellen, Stigmatisierung zu vermeiden und natürliche Kollaboration zwischen den Generationen zu begünstigen. «Den Wissensaustausch muss man aber auch aktiv fördern.» Das könne über Tandems geschehen, indem man sich regelmässig über Erfahrungen und Werte austauscht und zum Beispiel mittels Brainstorming überlegt wird, welches Wissen erhalten und dokumentiert werden muss. Dieser Prozess findet wechselseitig statt und somit ist hierarchisches Denken fehl am Platz. Jung soll auch Alt instruieren, damit sich die Fähigkeiten der Generationen ergänzen. «Gerne auch bereichsübergreifend, um Silodenken zu vermeiden», ergänzt Strasser. Denn der Blick von einem Bereichsfremden helfe, für selbstverständlich erklärtes und somit implizites Wissen als solches zu erkennen. Der Erfolg eines solchen Projekts hänge im Endeffekt von der Haltung im Unternehmen ab. «Es braucht ein Bewusstsein dafür in allen Bereichen, nicht nur dort, wo es gerade akut ist.»

Diese 3 Faktoren sind wichtig für den Wissenserhalt in Unternehmen

  • Wissenserwerb: Dazu sind Prozesse und Routinen notwendig, die Wissen für die künftige Verwendung zur Verfügung stellen. Beispiele: persönliche Schulungen, ausführliche Anleitungen, firmenspezifische Vorgehensweise und Geschäftsmethoden bereits im Onboarding weitervermitteln.
  • Wissensspeicherung: Zuerst wird bewahrungswürdiges Wissen selektiert, dann in einem dafür geeignetem System gespeichert (am besten nicht nur an einem Ort). Damit das Wissen nützlich bleibt, muss es regelmässig und routiniert aktualisiert und ergänzt werden, um Überalterung und Lücken zu vermeiden. Beispiele: Server, Cloud-Speicher, Firmen-Wikis, physische Anleitungen, Video-Tutorials.
  • Wissensabruf: Beinhaltet den Zugang zu und das Zusammentragen von Wissen sowie das Know-how im Umgang mit dem Abruf von Wissen, um es bei Bedarf auch in neuen Situationen wiederzuverwenden. Beispiele: Schulung in Anwendung der Datenbank und im Umgang mit Firmen-Wiki, aber auch Reflektion und Dokumentierung von vergangenen Situationen, Brainstorming.

Aus: DeLong, David W. Lost Knowledge. Confronting the Threat of an Aging Workforce. Oxford University Press, 2004.

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Online-Redaktorin, HR Today. jc@hrtoday.ch

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