HR Today Nr. 2/2023: Studie

Das Produktivitätsdilemma des Fachkräftemangels

Wir erleben heute einen Arbeitnehmermarkt. Fachkräfte sind gefragt. Das wissen sie zu nutzen: Sie stellen mehr Ansprüche und Forderungen, ohne mehr leisten zu wollen. Das führt im Arbeitsverhältnis zu einer neuen Verteilung der Verhandlungsmacht.

Fachkräftemangel bedeutet, dass Arbeitgeber ihre Personallücken nicht füllen können. Um die geplante Wertschöpfung trotzdem zu erbringen, müssen Unternehmen eine Steigerung der Arbeitsproduktivität* erzielen. Das heisst nichts anderes, als erforderliches Wissen und den nötigen Arbeitseinsatz mit weniger Fachkräften zu erbringen. Das bedingt mehr Leistungsbereitschaft, mehr Produktivität, mehr Commitment und eine effizientere Nutzung der bestehenden Fachkräfte. Das ist in einem Arbeitnehmermarkt aber nicht möglich.

Beim sogenannten Arbeitnehmermarkt ­verschiebt sich die Verhandlungsmacht vom Arbeitgeber zu den Arbeitnehmern. Durch die Übernachfrage können diese sich den besten Arbeitgeber auswählen und ihre Ansprüche und Forderungen ausschöpfen. Unzufriedene oder überlastete Mitarbeitende verlassen das Unternehmen, im Wissen, eine bessere Alternative zu finden. Arbeitnehmer sind sich ihrer Machtstellung bewusst. Und dass Menschen optimieren, liegt in der Natur des Homo Oeconomicus.

Wie sehen die Forderungen in der Realität aus?

  • Pierre ist Portfolio-Worker und arbeitet seit sechs Monaten zu 40 Prozent bei einem Start-up. Er ­fordert ab sofort eine Lohnerhöhung von 35 Prozent, da er die zwei Tage sonst bei einer anderen Firma arbeiten wird, die ihm mehr zahlt.
  • Roland bewirbt sich für eine Vollzeitstelle. Im ­Erstgespräch scheint alles zu passen, ein fast ­perfekter Fit. Denn im Zweitgespräch macht er unmissverständlich klar, dass er auf mindestens drei Tagen pro Woche Homeoffice besteht. Er steht sonst als Kandidat nicht mehr zur Verfügung.
  • Franziska arbeitet Teilzeit 60 Prozent in einer Kaderfunktion. Aufgrund ihres höheren Lohnes muss sie keine Arbeitszeit erfassen. Sie fordert eine Lohnerhöhung, bekommt diese aber nicht. Deshalb will sie, dass sie ihre Überstunden aufschreiben kann und diese ab sofort ausbezahlt werden.

Das sind Arbeitssituationen, die es schon immer gab. Doch die Kompromisslosigkeit der Arbeitnehmenden ist eine Herausforderung für Arbeitgeber. Das führt dazu, dass jedes Arbeitsverhältnis individuell gestaltet werden muss und Richtlinien immer schwieriger durchzusetzen sind. Im Gegenzug erhöhen sich Leistungsbereitschaft, Loyalität oder Kompetenz der Fachkräfte nicht. Bei der Entwicklung der freiwilligen Fluktuation im Arbeitsmarkt, wird rasch klar, dass sich Arbeitnehmer einem Arbeitgeber gegenüber nicht mehr verpflichtet fühlen. Passt es mal nicht, ziehen sie weiter

Das führt zum Produktivitätsdilemma: Arbeitgeber brauchen mehr Produktivität der Fachkräfte, um den Fachkräftemangel zu kompensieren. Sie erfahren aber weniger Produktivität, weil die vorhandenen Fachkräfte für sich selbst optimieren. Diese Rechnung kann für viele Arbeitgeber nicht aufgehen. Aber welche Optionen bleiben ihnen?

  1. Mitmachen – mit einem tollen EVP und einer individualisierten Personalpolitik den War for Talents gewinnen wollen. Das ist anstrengend, teuer, aber kann für einige Firmen funktionieren.
  2. Ausweichen – auf andere Mitarbeiterzielgruppen schwenken, langfristige Entwicklungsarbeit leisten, Quereinsteigerprogramme lancieren und in die Ausbildung dieser Mitarbeiter investieren. Das fördert auch das Bewusstsein für Vertrauen und Loyalität. Diese Vorinvestition ist zwar mit einem gewissen Risiko verbunden, aber gerade im Ü55 Markt kann diese Strategie sehr gut funktionieren.
  3. Verzichten – kein Wachstum um jeden Preis und die Auftragslage den aktuellen Ressourcengegebenheiten anpassen. Fast alle Firmen betonen, primär auf qualitatives Wachstum zu setzen. Meist erleben wir das Gegenteil. Deshalb ist das für die meisten Betriebe unrealistisch.

* Arbeitsproduktivität heisst Arbeitsertrag im Verhältnis zum Arbeitseinsatz

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Pascal Scheiwiller ist CEO beim Outplacement-Unternehmen von Rundstedt. Das Unternehmen ist an neun Standorten in der Schweiz präsent und unterstützt Arbeitnehmende wie auch Arbeitgeber aller Branchen bei Personalabbau und Kündigungen. rundstedt.ch

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