Der Chef mitten unter uns
Früher konnten Vorgesetzte ihre Mitarbeitenden zu sich ins Einzelbüro bestellen. Heute sitzen sie oft mitten unter ihnen – oder weit entfernt im Home Office. In neuen räumlichen Konstellationen zu arbeiten bietet Chancen, erfordert aber einen ganz anderen Führungsstil.
Auch der Chef hat kein Einzelbüro mehr: In immer mehr Büros gibt es keine Türen und keine festen Arbeitsplätze. (Bild: 123RF)
Danny Schweingrubers Büro hat eine Grösse von etwa 30 auf 45 Zentimeter. Darin hat gerade mal ein Laptop mit Zubehör Platz, ein Kugelschreiber, Visitenkarten und Kopfhörer. Mehr braucht der Leiter Workspace Consulting bei Witzig The Office Company auch nicht – im Gegenteil: «Auf den Chefsessel, den Schreibtisch und die vielen Ordner zu verzichten, war sehr befreiend», meint er. Heute arbeitet er mitten in seinem Team, unterwegs oder von zuhause aus.
Das türlose Büro
Die Zeiten sind vorbei, in denen man die Position eines Mitarbeitenden an der Grösse seines Büros ablesen konnte – auch bei der Mobiliar. Dort leitet Schweingruber ein Pilotprojekt, bei dem rund 160 Mitarbeitende, darunter der CEO, in eine «neue Arbeitswelt» umziehen. Wände und Türen werden auf das Nötigste reduziert und dafür Zonen für konzentrierte Arbeit oder für kreativen Austausch geschaffen.
Angeleitet werden sie von Nathalie Bourquenoud, Leiterin Human Development bei der Mobiliar und Initiantin des Projekts. Sie hat bereits bei der PostFinance ein grosses Projekt für neue Arbeitswelten umgesetzt. Wie es ist, als Vorgesetzte mitten unter ihren Leuten zu sitzen, weiss sie aus Erfahrung, verzichtet sie doch wie Schweingruber seit Jahren aufs Einzelbüro.
Bitte stören!
Sie kann es Vorgesetzten gut nachfühlen, wenn diese etwa fürchten, von ihren Mitarbeitenden dauernd unterbrochen zu werden: «Manche Mitarbeitende möchten zum Beispiel ihre Leistungen beim Vorgesetzten ins rechte Licht rücken», sagt die Leiterin Human Development. Das kann in ihren Augen aber durchaus produktiv sein. So entfällt manche Sitzung, weil sich im informellen Gespräch spontan eine Lösung findet. «Die Arbeit im Open Space-Büro beschleunigt die Prozesse», bestätigt auch Schweingruber und erinnert ans Sprichwort «each door a day» – Informationen brauchen pro Tür einen Tag. In einem Büro ohne Türen gehts naturgemäss schneller.
Status verlieren – Vertrauen gewinnen
Mit den Türen fallen auch die Hemmungen: Der Umgang wird ungezwungener und direkter, die Beziehung zwischen Mitarbeitenden und ihren Vorgesetzten verändert sich: «Die Mitarbeitenden sehen, dass Vorgesetzte Ähnliches tun wie sie, zum Beispiel E-Mails beantworten», meint Nathalie Bourquenoud. Das mache die Chefs menschlicher und schaffe gegenseitiges Vertrauen.
Die unmittelbare Nähe zum Team hat allerdings ihren Preis: Verzicht auf Quadratmeter Bürofläche, auf den Chefsessel, den eigenen Arbeitsplatz und weitere Privilegien. Menschen, die dies gleichsetzen mit dem Verlust von Status, tun sich mit der neuen Arbeitssituation schwer. Doch Bourquenoud kann sie trösten: «Die Fähigkeit etwas zu bewegen zählt weit mehr als die Macht auf dem Sessel», meint sie.
Welche Vorteile das bringt, könnten sich die meisten jedoch nicht vorstellen, bis sie es selbst erlebt haben, stellt sie fest. Der Gewinn ist jedoch beträchtlich, meint Danny Schweingruber: «Das Einzelbüro empfand ich als Trennung von meinen Leuten. Heute bin ich Teil des Teams und damit der Lösung, arbeite spontaner mit und bringe meine Meinung ein.» Das komme bei den Mitarbeitenden gut an, sagt er: «Sie schätzen den direkten Zugriff auf meinen Erfahrungsschatz.»
Mitarbeitergespräche auf dem Sofa
Wie mit vertraulichen Gesprächen umzugehen ist, mussten Schweingruber und sein Team aber erst lernen: «Im Open Space hat die Vertraulichkeit eine andere Symbolik», stellt er fest. Zieht er sich für eine Besprechung zurück, fällt dies anderen Mitarbeitenden sofort auf. Wenn es um Vertrauliches geht, nutzt er daher gerne das Home Office, etwa für bestimmte Kundengespräche. Aber auch privilegierte Rückzugsräume sind eine Option: Müssen Vorgesetzte regelmässig heikle Gespräche führen, können ihnen Räume, auf die sie speziellen Zugriff haben, die nötige Diskretion bieten.
Aber auch der Gewöhnungseffekt spielt, und Rückzugsmanöver fallen nach einer Weile weniger auf. Mitarbeitende finden es mit der Zeit selbstverständlich, dass man sich in den neuen Arbeitswelten oft verschiebt und den jeweils günstigsten Arbeitsplatz aufsucht. Ausserdem nimmt das Bedürfnis nach geschlossenen Räumen ab, beobachtet Bourquenoud: «Mit der Zeit genügt den Leuten eine Rückzugszone völlig, und sie führen offene Gespräche auf dem Sofa mitten im Open Space.»
Zusammenwirken? Zusammen wirken!
Auch wenn sich vieles spontan ergibt: Ohne Fixpunkte geht auch in den neuen Arbeitswelten nichts. Welche Regeln für ihr Team sinnvoll sind, erarbeiten sich die Führungskräfte der Mobiliar derzeit in Workshops. Sie werden mit ihren Leuten individuell vereinbaren, wie sie miteinander kommunizieren und arbeiten wollen. Wie viele Tage Home Office sind sinnvoll? Auf welche digitalen Kommunikationsmittel einigt man sich? Wie oft trifft sich das Team im Plenum, wann sind Einzelgespräche angesagt? Sollen sich die Mitarbeitenden jeden Tag woanders hinsetzen, um mit neuen Leuten ins Gespräch kommen?
Solche Regeln und Tools dienen nicht nur der Organisation des Arbeitsalltags, sondern fördern auch den Teamgeist. Bourquenoud hat mit ihren Mitarbeitenden zum Beispiel eine WhatsApp-Gruppe eröffnet. So erfahren alle, womit sich die anderen beschäftigen, egal, ob sie gerade im Büro, unterwegs oder im Home Office arbeiten.