«Die Ära des Gewinnens ist vorbei»
Klimawandel, soziale Ungleichheit oder zunehmende psychische Erkrankungen zeigen, dass in der Wirtschaft viel schiefläuft. Buchautor Tim Leberecht über die Ursachen und weshalb das Verlieren-Können zur Bewältigung dieser Krisen künftig wichtiger wird.
«Ein menschlicher Arbeitsplatz ist nicht einer, der uns immer glücklich macht, sondern uns erlaubt, auch traurig zu sein», sagt Tim Leberecht, Buchautor, Unternehmer, Publizist und TED-Talker. (Foto: zVg)
Tim Leberecht, Ihr aktuelles Buch heisst «Gegen die Diktatur der Gewinner». Was verstehen Sie darunter?
Tim Leberecht: Gewinnen ist unsere Erfolgsformel. Wir dürfen aggressiv, rücksichtslos und gierig sein. Verlierer sein dürfen wir hingegen nicht. Verlierer, das sind die anderen: Jene, die mit der Globalisierung und Digitalisierung nicht mehr Schritt halten können. Wir fordern eine Siegermentalität, bewundern den Nimbus der Gewinnertypen und verstehen unter sozialer Gerechtigkeit vor allem, mehr Mitgliedern unserer Gesellschaft die Chance zu geben, zu Gewinnern zu werden. Gewinnen ist der Quellcode des Wachstumsprinzips, der Motor unseres Wohlstands. Ich nenne es deswegen eine Diktatur, weil es alternativlos scheint und uns mit psychologischer Gewalt aufgezwungen wird.
Was ist falsch am Gewinnen?
Die Corona-Krise hat tieferliegende strukturelle Krisen schonungslos aufgezeigt: Beispielsweise den Klimawandel, die zunehmende soziale Ungleichheit, den Anstieg psychischer Erkrankungen sowie den Verlust unserer Privatheit und Datensouveränität. All das offenbart systemische Defekte: die Entfremdung des Menschen von der Natur, von den anderen, von uns selbst. Eine unheilige Allianz zwischen enthemmtem Finanzkapitalismus, Digitalisierung und Wachstumswahn. Angesichts dieser Auswirkungen wird immer klarer, was wir zu verlieren haben, wenn Gewinnen um jeden Preis die einzige Option ist: alles.
Wir ahnen jetzt vielleicht, dass die Ära des Gewinnens vorbei ist und wir in Zukunft immer mehr und immer wieder verlieren werden. Deshalb brauchen wir eine neue Kultur des Verlierens. Ich glaube, dass das Verlieren-Können zur Kernkompetenz der Zukunft wird, am Arbeitsplatz, im Grunde aber in allen Lebensbereichen. Wir müssen das Verlieren emanzipieren und lernen, in einer weniger aggressiven und einer sanfteren Art zu wirtschaften, zu arbeiten und zu leben. Wir werden also lernen müssen zu verlieren, abzugeben, aufzugeben, nachzugeben und uns hinzugeben. Das ist eine der grossen Chancen der Corona-Krise.
Wir müssen uns also mit dem Verlieren beschäftigen, wenn wir eine menschlichere Wirtschaft wollen. Wo stehen wir heute?
Ich denke, wir waren schon einmal weiter. Der Sozialstaat wird sukzessive abgebaut, die «Wir-sind alle-Unternehmer-Mentalität» ist weiter auf dem Vormarsch und die Marktgesellschaft wird immer invasiver. Zu einer menschlicheren Gesellschaft werden wir, indem wir das Verlieren ins Zentrum rücken und salonfähig machen.
Was sind denn gute Verlierer?
Ein guter Verlierer ist jemand, der nicht um jeden Preis gewinnen will. Er akzeptiert die Niederlage und findet in ihr Bedeutung, Sinn und Würde. Ein guter Verlierer ist zudem jemand, der anderen dabei hilft zu verlieren, ohne zum «Verlierer» zu werden.
«Einzelne Personen, Unternehmen und Nationen können nur erfolgreich sein, wenn sie Bullys sind», also Despoten. Wie stehen Sie persönlich dazu?
Das ist schlichtweg nicht wahr. Die Niederlande, Neuseeland, Taiwan und natürlich auch Deutschland beweisen das Gegenteil. Zudem lautet die Frage auch immer: Was ist Erfolg? Definieren wir diesen als etwas, das nie zulasten anderer geht, ist der Mythos des Bullytums schnell entlarvt. Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern brachte es kürzlich auf den Punkt: «Ich rebelliere gegen die Idee, dass Politik voller Egos sein muss und man vor allem darauf aus sein sollte, den anderen empfindlich zu treffen. Man kann stark und gütig sein.» Das Problem ist, dass zu viele Menschen immer noch an das Bully-Prinzip glauben, an eine sozialdarwinistische Realität, die uns die Natur angeblich vorlebt. Ökologische Systeme sind jedoch nicht nur auf einen brutalen Verdrängungswettbewerb ausgerichtet. Im Gegenteil: Sie sind viel kooperativer, als wir annehmen.
Die Angst vor dem sozialen Abstieg sitze uns allen im Nacken, heisst es in Ihrem Buch. Wie zeigt sich das in der Gesellschaft?
Es zeigt sich, denke ich, in der vielzitierten Verrohung der Gesellschaft, der zunehmenden Aggressivität im Alltag, inklusive vieler kleiner Mikroaggressionen, sowie der Popularität rechtsextremer Bewegungen. Eine Studie der Organisation «More in Common» weist in diesem Zusammenhang auf ein «unsichtbares Drittel aus Enttäuschten» hin, die nicht mehr aktiv am politischen Prozess teilnehmen und sich immer einsamer und isolierter fühlen. Der innere Schaden ist dabei beträchtlich.
Sie nennen unter anderem künstliche Intelligenz als Treiber dieser negativen gesellschaftlichen Entwicklungen ...
Weniger als Treiber denn als Symptom. Aber ja, es stimmt, künstliche Intelligenz und die damit einhergehende Automatisierung von Arbeit schürt natürlich Verlustängste: den Verlust des Jobs sowie den Verlust der menschlichen Autonomie. Letzteren erleben wir bereits jetzt, insbesondere durch den Einfluss digitaler Plattformen auf die privaten Bereiche unseres Lebens. Die Sozialpsychologin Shoshana Zuboff spricht in diesem Zusammenhang von der digitalen Überwachungsgesellschaft.
Wie gerechtfertigt sind diese Verlustängste?
Da gehen die Meinungen weit auseinander. Einige Studien wie die Oxford-Studie aus dem Jahre 2012 gehen davon aus, dass bis zu 50 Prozent aller Arbeitsplätze durch künstliche Intelligenz ersetzt werden. Andere Gruppen wie PriceWaterhouseCoopers schätzen die Folgen der Automatisierung wesentlich moderater ein. Klar ist allerdings, dass der Arbeitsplatz der Zukunft radikal anders aussehen wird: Wir werden lernen müssen, mit künstlicher Intelligenz als Kollegen und Partner zu kooperieren. Daneben werden wir durch dezentrale und hybride Strukturen agiler handeln. Das bedeutet einen Verlust an gewohnten Verhaltensmustern, an Kontrolle, an Autorität und auch an Autonomie. Über diese Ängste müssen wir deshalb offen reden.
Wie könnte eine bessere Gesellschaft aussehen?
Wir müssen die Korruption durch die Marktgesellschaft überwinden und nicht-ökonomische Wertsysteme wiedererschaffen. Selbst Klaus Schwab, der Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums WEF, hält den Neoliberalismus inzwischen nicht mehr für zeitgemäss. Ökonomen wie Rebecca Henderson oder Sir Paul Collier haben Visionen für einen neuen, sozial gerechteren Kapitalismus präsentiert. Es fehlt also nicht an Ideen, sondern am politischen Willen, diese umzusetzen.
… und eine bessere Arbeitswelt?
Der hybride Arbeitsplatz der Zukunft wird von uns fordern, nicht nur zwischen realer und virtueller Welt zu pendeln, sondern zwischen verschiedenen Identitäten. Wir werden in flacheren und dezentraleren Hierarchien an Autorität verlieren sowie die Kontinuität und Stabilität fester, langfristiger Anstellungen. Wir werden zudem nicht immer neue Projekte starten, sondern alte immer öfters zu Grabe tragen. Wir gehen schneller Beziehungen ein und lösen diese ebenso schnell wieder auf. Wir müssen uns vom Vertrauten verabschieden und uns immer wieder neu erfinden.
Resilienz und Agilität werden somit noch wichtiger werden, als sie es ohnehin schon sind. Aus Agilität wird dann immer mehr eine «emotionale Agilität», um einen Begriff der Harvard-Sozialpsychologin Susan David zu verwenden: Die Fähigkeit, Emotionen, insbesondere «negative» Emotionen wie Wut, Traurigkeit oder Angst, nicht zu regulieren, sondern zuzulassen, dass wir von ihnen überwältigt werden. Ein menschlicher Arbeitsplatz ist nicht einer, der uns immer glücklich macht, sondern uns erlaubt, auch traurig zu sein.
Welche Rolle könnte die Utopie des Grundeinkommens dabei spielen?
Das ist keine Utopie, sondern ein konkreter Vorschlag. Wir müssen das Grundeinkommen viel intensiver diskutieren – nicht nur als Antwort auf Automatisierung und die von ihr verstärkten sozialen Ungleichgewichte, sondern als Mittel, um Erfolg und Misserfolg, Gewinnen und Verlieren, von Grund auf neu zu formulieren. Das Grundeinkommen erlaubt uns, Erfolg nicht länger nur an Produktivität und wirtschaftliche Leistung zu koppeln. Es wendet sich gegen die wachsende Kluft zwischen Vermögen und Lohnerwerb im Finanzkapitalismus und entkoppelt den individuellen und gesellschaftlichen Wert eines Menschen von dessen Arbeitskraft.
Guy Standing, der britische Ökonom und Mitgründer des Basic Income Earth Network, der seit Jahrzehnten für ein Grundeinkommen plädiert, glaubt, dass es schrittweise zu einer langfristigen europaweiten Realität werden könnte. Er ist überzeugt, dass Menschen durch das Grundeinkommen bessere Entscheidungen treffen, weniger Stress haben, ihre Ausbildung verbessern, produktiver und kooperativer arbeiten, altruistischer handeln und toleranter gegenüber Fremden sind. Claudia Cornelsen, Mitinitiatorin von «Mein Grundeinkommen», einem Verein, der in Deutschland crowdfinanzierte einjährige Grundeinkommen in Höhe von 1000 Euro monatlich verlost, berichtet von BGE-Empfängern, die das genauso empfinden.
Der häufig wiederholte Einwand von Gegnern, dass BGE-Empfänger weniger oder gar nicht mehr arbeiten würden, ist in diversen Studien widerlegt worden. Die Forscherin Minna Ylikännö, die ein BGE-Pilotprojekt in Finnland leitete, erzählt, dass die Testpersonen ein stärkeres Vertrauen in ihre Zukunft hätten und ihre eigenen gesellschaftlichen Mitwirkungsmöglichkeiten besser spürten.
Das BGE kann in der Tat der Vorbote einer anderen Wirtschaft sein. Es verkörpert die Hoffnung, dass wir die digitale Post-Corona-Gesellschaft selbst gestalten und nicht von der Effizienz der Maschinen, von der Logik der Märkte überrannt werden. Es verschiebt den Fokus vom Geldverdienen-Müssen aufs «Was-will-ich-aus-meinem-Leben-Machen?» Es stellt zudem unser leistungsorientiertes Denken auf den Kopf und löst die Rolle der Arbeit von der Idee der Aufstiegsgesellschaft. Es entwirft ein Modell von Erfolg und Wohlbefinden, das sich an nicht materiellen Werten orientiert. Das mag man als Resignation betrachten – oder als Anerkennung einer neuen Post-Corona-Realität und Ausdruck eines humaneren Menschenbilds.
Inwiefern sind Utopien auch Diktaturen, die sich nur mit Überwachung und Kontrolle durchsetzen lassen?
Was eine Utopie oder Dystopie ist, liegt immer im Auge des Betrachters. Es liegt in der Natur von Utopien, dass sie polarisieren. Wir sollten Utopien daher immer kritisch gegenüberstehen, aber auch zulassen, dass wir wieder grosse Träume träumen und uns trauen, unsere Gesellschaft neu zu denken, anstatt in den Back-to-Business-Pragmatismus und einen vorauseilenden Zynismus zu verfallen. Die nächsten zehn bis zwanzig Jahre werden die Weichen für die nächsten hundert Jahre stellen. Noch haben wir es in der Hand, unser Schicksal selbst zu gestalten.
Buchtipp
Das Dogma vom Gewinnen-Müssen ist nach wie vor ungebrochen. Durch die gesellschaftlichen Veränderungen werden jedoch immer mehr Verlierer geschaffen. Doch nur eine Gesellschaft, in der wir verlieren können, ist für Tim Leberecht eine humane Gesellschaft. In seinem Buch beschreibt der Unternehmer, Publizist und TED-Talker die Arten des Verlierens und wie wir konstruktiv damit umgehen können.
«Gegen die Diktatur der Gewinner», Tim Leberecht, Droemer, 2020, 232 Seiten