«Die HR-Szene hinkt hinterher»
Die Lehre gilt als Fundament und Erfolgsfaktor der Schweizer Wirtschaft und wird allseits gelobt. Doch es gibt auch Schwachstellen und Aufholbedarf. Michael Schweizer, Geschäftsführer des Verkehrsberufe-Ausbildungsverbundes «login», alt Nationalrat Rudolf Strahm und Urs Casty, Gründer der Lehrstellenplattform «yousty.ch» sprechen Klartext. Über Ausbildungsquoten, Strafsteuern für schwarze Schafe und die Rolle der HR-Verantwortlichen.
Michael Schweizer, Rudolf Strahm, Urs Casty (von links). (Fotos: Louis Rafael Rosenthal)
Das Schweizer Berufsbildungssystem wird von allen Seiten gerne als einer der Erfolgsfaktoren der Schweizer Wirtschaft angeführt. Welche volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung hat die Berufslehre aus Ihrer Sicht?
Rudolf Strahm: Ich stelle fest, dass die europäischen Länder, die ein duales Berufsbildungssystem haben, besser dastehen. Etwa wenn es um die Jugendarbeitslosigkeit geht. Insbesondere im Vergleich zu Ländern, die nur vollschulische Ausbildungen an Universitäten und technischen Hochschulen kennen. Länder mit dualer Berufsbildung sind auch eindeutig überlegen in Bezug auf die Arbeitsmarktintegration. Das ist statistisch gesichert. Diese Länder – namentlich die Schweiz, Deutschland, Österreich und Liechtenstein – stehen auch bei der wirtschaftlichen Performance besser da. Das gilt auch für Holland, Dänemark und Schweden. Die genannten Nationen sind auch die einzigen Länder, die in Europa noch eine nennenswerte industrielle Wertschöpfung aufweisen. Für besonders bemerkenswert halte ich den Umstand, dass diese Länder sozial Schwächere und die ausländische Bevölkerung (Schweden ausgenommen) besser integrieren sowie eine tiefere Armuts- und Sozialhilfequote aufweisen. Die genannten Länder haben erkannt, dass die «praktische Intelligenz» einen entscheidenden Erfolgsfaktor darstellt und das duale Berufsbildungssystem zu einer besseren Arbeitsmarktfähigkeit der Auszubildenden führt.
Urs Casty: Mir scheint die Innovationsfähigkeit ein bedeutungsvoller Faktor zu sein. Ich war kürzlich für einen Monat in den USA. Dort habe ich erfahren, dass der Mobiltelefon-Produzent Motorola die Endfertigung der Produkte in den Heimmarkt zurückholen wollte, um Arbeitsplätze zu schaffen. Dieses Projekt musste allerdings abgebrochen werden, weil dafür die nötigen Fachkräfte fehlten. Zwar waren im Engineering-Bereich ausreichend Innovationskraft und Potenzial vorhanden, aber nicht in der praktischen Umsetzungsfähigkeit. Genau diese ist bei uns in der Schweiz jedoch vorhanden. Davon inspiriert, nehmen sich im Ausland immer mehr Politiker dem Thema an und interessieren sich verstärkt für das duale Berufsbildungssystem.
Strahm: Innovation wird oft vernachlässigt, da gehe ich mit Ihnen einig. Arbeitnehmer müssen aber auch fähig sein, sich rasch auf neue Systeme umschulen zu können. Sie müssen sich schnell neue Prozesse aneignen und mit neuen Materialien umgehen können. Diese Debatte gibt es natürlich auch in den Vereinigten Staaten. So zeigt eine Studie der Harvard Business School auf, dass die US-amerikanische Wirtschaft eben nicht zuletzt genau wegen dieser fehlenden Umsetzungskompetenz schwächelt. Wir müssen keine Wissensgesellschaft mit immer mehr Akademikern heranzüchten, wie die Universitäten immer propagieren. Das ist falsch und auch hinlänglich widerlegt. Die Wissensgesellschaft muss alle Bildungsstufen durchdringen. Klar brauchen wir Akademiker, die Dinge erfinden und entwickeln. Aber wir sind genau so fest auf Praktiker angewiesen, die solche Innovationen dann auch in hoher Qualität umsetzen können. In allen Branchen – ob nun Verkehr, in der Gebäudeautomation oder in der Energiebranche. Wer eine Berufslehre absolviert hat und sich weiterbildet, ist genau zu solcher Adaption und Umsetzung fähig.
Casty: Deshalb sind praktisches Feedback und schnelle Lernerlebnisse unerlässlich. Das sehe ich auch so. Ich möchte noch ein weiteres Argument für die Berufslehre anfügen. Herr Strahm schildert in seinem Buch «Die Akademisierungsfalle» die blendenden Zukunftsaussichten, die eine Berufslehre eröffnen kann und wie schon in jungen Jahren eine steile Karriere möglich wird. So zeigen Statistiken, dass Jugendliche mit Berufslehre und einer Weiterbildung karriere- und einkommenstechnisch sehr gut mit Akademikern mithalten. Ich habe allerdings den Eindruck, dass dies in der breiten Öffentlichkeit noch viel zu wenig bekannt ist, was ich gerade in Anbetracht der volkswirtschaftlichen Bedeutung erstaunlich und bedauerlich finde. Wir sollten hier alle in Aufklärungsarbeit investieren.
Urs Casty, Gründer der Lehrstellen-Plattform yousty.ch
Urs Casty (48) stammt aus Trin im Bündner Oberland. Aus einem guten Schüler wurde ein unglücklicher Gymnasiast und schliesslich ein Studienabbrecher. Obwohl Urs Casty der Berufseinstieg sehr erfolgreich als Rohstoffhändler gelang, «verlor er den Spass» daran bereits mit 28 Jahren. Weil seine eigene Berufsinformation und sein Berufseinstieg nicht ideal waren, widmete er sich fortan als Partner eines Fachverlags für Berufsinformationsmittel und als selbständiger Berater im HR seinem wahren Interesse: dem Thema Jugend und Karriere. Er bereute es, keine Lehre gemacht zu haben und so entstand 2008 die Idee, mit yousty.ch, basierend auf Web-2.0-Technologie, ein Berufswahl- und Lehrstellen-Netzwerk aufzubauen. Heute beschäftigt Yousty 14 Mitarbeitende und ist mit monatlich über 80 000 Besuchern und rund 600 Firmenkunden privatwirtschaftlicher Marktführer in der Schweiz. Das Konzept wurde inzwischen auch in Deutschland erfolgreich gestartet. Eine Expansion in weitere europäische Länder wird geprüft.
Wo verorten Sie die grössten Bremselemente? Gibt es vielleicht gar «Feinde» des dualen Berufsbildungssystems, welche diese Einsicht bewusst hemmen wollen? Oder herrscht allerseits «Friede, Freude, Eierkuchen»?
Michael Schweizer: Nein, sicher nicht. Bei login stellen wir einfach fest, dass viele Jugendliche und deren Eltern dem gymnasialen Weg den Vorzug geben. Aber nicht etwa, weil sie diesen Weg bewusst gehen wollen, sondern oftmals, weil sie sich noch nicht festlegen wollen. Dabei wollen nach der Matura viele gar nicht an der Universität studieren. Für uns in der Berufsbildung sind das verlorene Nachwuchskräfte mit grossem Potenzial, die ja durchaus auch eine Lehre mit Berufsmaturität in Angriff hätten nehmen können.
Casty: Bei dieser Frage konstatiere ich ein grosses Stadt-/Land-Gefälle. Auf dem Land hat die Lehre tendenziell immer noch ein besseres Image. Die wirtschaftliche Elite besteht dort aus mittelständischen Unternehmen, wo die Berufslehre nach wie vor ein hohes Ansehen geniesst, weil allen bewusst ist, dass sie einen grossen Beitrag zu exzellenten Produkten beisteuert. In den Städten kann man jedoch eine hohe Zuwanderung an ausländischen Akademikern und bildungsfernen Gruppen beobachten, die das Modell der Berufslehre schlicht nicht kennen. Insofern liegt hier auch ein soziales Phänomen vor. Die Zürcher Goldküste beispielsweise weist eine Gymnasiasten-Quote von annähernd 90 Prozent auf. Wer in diesem Milieu eine Berufslehre in Angriff nehmen will, wird oft schräg angeschaut. Es ist definitiv ungenügend gelungen, die gewaltigen Vorteile der dualen Berufsbildung aufzuzeigen. Namentlich der Umstand, dass sich das Schweizer Bildungssystem durch eine ausserordentlich hohe Durchlässigkeit auszeichnet, welches auch Lernenden alle Wege zu Hochschulen und Studium offen lässt.
Rudolf Strahm, Ökonom, Bildungsexperte, alt Nationalrat
Rudolf Strahm (71) ist im Emmental aufgewachsen. Nach einer Laborantenlehre in Basel absolvierte er ein Chemiestudium an der Ingenieurschule Burgdorf und später ein Volkswirtschaftsstudium an der Universität Bern. Von 1991 bis 2004 war er für die SP während 13 Jahren im Nationalrat aktiv. Von 2004 bis 2008 bekleidete er das Amt des eidgenössischen Preisüberwachers. Strahm hat Lehraufträge an den Universitäten Bern und Freiburg und ist als Präsident des Schweizerischen Verbandes für Weiterbildung (SVEB) einer der profiliertesten Bildungsexperten der Schweiz. Rudolf Strahm ist wirtschaftspolitischer Kolumnist bei Tages-Anzeiger und Bund sowie Autor zahlreicher Bücher. 2014 ist sein vielbeachtetes Werk «Die Akademisierungsfalle – Warum nicht alle an die Uni müssen» erschienen. Strahm lebt im bernischen Herrenschwanden, ist ledig und hat einen Sohn.
Sollte es Agreements bei der Jagd auf die besten Talente geben – die ja teilweise schon in der achten Klasse rekrutiert werden?
Casty: Auch wir sind erstaunt, wie früh Jugendliche und Eltern unsere Plattform besuchen. Wir hatten bereits diesen Januar über 80 000 Besucher auf unserer Plattform. Und das ist kein klassischer Bewerbungszeitraum. Generell bemerken wir einen zunehmenden Druck der Eltern und auch sozialen Druck in den Schulklassen. Schon letztes Jahr beobachteten wir bereits Bewerbungen vor den Sommerferien für den Lehrstellenstart in eineinhalb Jahren. Vor dem Hintergrund von kleineren Jahrgängen ist die Situation in vielen Branchen aber eigentlich entspannter denn je: Da die Firmen Mühe haben, Bewerber zu finden, könnten sich Schüler auch später – also erst im Herbst oder Winter – erfolgreich bewerben. Das gilt natürlich nicht für Traumberufe oder für Nischen, wo es wenig Lehrstellen hat. Agreements gibt es – aber in der freien Marktwirtschaft und unter dem Wettbewerbsdruck werden sie schwierig umzusetzen sein. Auch für die Firmen wird es dadurch immer enger, denn diese müssen ja ihre Lehrstellen besetzen. Man greift also zu, sobald und wo man kann. Ich sage sowohl den Jugendlichen als auch deren Eltern, dass sie eigentlich beruhigt an diesen Prozess herangehen können. Gerade weil sich viele Firmen auch schwertun in Sachen Entscheidung für Bewerbende. Und weil auch immer noch später rekrutiert wird für Ausbildungsplätze, beispielsweise, weil Gymnasiasten dann aus dem Raster der Firmen fallen.
Strahm: Niemand getraut sich, das Modell der Berufslehre offen zu kritisieren. Und dennoch setzt die Bildungselite alles daran, den universitären Bildungsweg als überlegen zu propagieren. Auch in den Medien wird meist mehr über universitäre Spitzenforschung als über die Berufslehre berichtet. Bei der städtischen Bildungselite scheint die Berufslehre in der Tat teilweise sozial stigmatisiert zu sein. Viele städtische Jugendliche quälen sich mit einem Pulk an Nachhilfelehrern, und hin und wieder gar mit juristischer Unterstützung, bis zur Matura. Danach suchen sie sich dann irgendein Orchideenfach an der Universität aus, das möglichst angenehm zu studieren ist. Gerade Eltern mit Migrationshintergrund haben oft keine Wertschätzung für die Berufslehre. Aber auch bei vielen Schweizer Eltern ist die Durchlässigkeit des Systems noch nicht in den Köpfen angelangt. Sie betrachten die Berufslehre als eine Art Karriere-Sackgasse. Doch das trifft überhaupt nicht zu. Denn in der Schweiz gilt das Prinzip «kein Abschluss ohne Anschluss». Genau darin liegt die Stärke unseres höchst durchlässigen Bildungssystems. Dennoch befindet sich das Modell der Berufslehre immer noch in einem Legitimationszwang.
Michael Schweizer, Geschäftsführer login Berufsbildung AG
Michael Schweizer (42) startete seine Karriere mit einer Berufslehre als Bahnbetriebsdisponent bei der SBB und setzte diese als Zugverkehrsleiter in verschiedenen Sprachregionen der Schweiz fort. Später arbeitete er als Personalbereichsverantwortlicher im öffentlichen Verkehr und stiess 2002 zur login Berufsbildung AG, bei welcher er seit 2014 Geschäftsführer ist. login (www.login.org) ist die Berufsbildungspartnerin für die SBB, die BLS, die RhB und rund 60 weitere Verkehrsunternehmen. Hier bereiten sich über 2000 Lernende in über 20 verschiedenen Berufen auf eidgenössisch anerkannte Abschlüsse vor. login leistet so einen wichtigen Beitrag dazu, dass der öV in der Schweiz auch in Zukunft gut funktioniert. Michael Schweizer ist passionierter Marathonläufer, verheiratet, Vater zweier Töchter und wohnt in Rheinfelden.
Können Unternehmen und deren HR-Verantwortliche denn überhaupt Einfluss nehmen, gegensteuern und das Image der Lehre erhöhen?
Strahm: Ganz eindeutig ja. Deshalb kritisiere ich auch die HR-Leute, weil sie oftmals die Bildungssystematik der Schweiz schlicht und einfach zu wenig kennen. Sie kennen möglicherweise noch das eidgenössische Fähigkeitszeugnis. Aber dann ist auch schon das Ende der Fahnenstange erreicht. Viele HR-Menschen sind nicht in der Lage, das duale Berufsbildungssystem im Vergleich zu den akademischen Abschlüssen richtig einzuordnen. Auch sind ihnen die vielfältigen Weiterbildungsmöglichkeiten in der Höheren Berufsbildung nicht geläufig. Ich bin selbst in der Ausbildung von Berufs- und Laufbahnberatern aktiv und kann eines sagen: Die HR-Szene hinkt gewaltig hinterher bei der Valorisierung der Weiterbildungsstrukturen. Genau diese Kenntnisse wären jedoch der Schlüssel zur Innovation. Nicht nur die Berufslehre zählt, sondern auch was nachher kommt. Die HR-Leute schaden ihren Unternehmen enorm, indem sie viele Talente weder erkennen noch fördern, sondern lieber mit ihrer Titel-Manie im Hinterkopf vorzugsweise Akademiker rekrutieren – nicht selten sind das dann ausländische Kandidaten. Die Personenfreizügigkeit hat insofern zwar geholfen, den Fachkräftemangel etwas abzumildern, weil man ab 2007 einfach ohne Einschränkungen im Ausland rekrutieren konnte. Aber sie hat gleichzeitig auch verschleiert, wie dringlich bei der Fachkräfteförderung gehandelt werden muss. Zu einem relevanten Politikum ist der Fachkräftemangel insofern erst im Zuge der Abstimmung über die Masseneinwanderungs-Initiative geworden.
Welche Veränderungen wünschen Sie sich denn?
Strahm: Die HR-Leute müssen vor allem anders und besser geschult werden. Sie müssen die Bildungssystematik der Schweiz à fonds kennen und die Abschlüsse der Höheren Berufsbildung einordnen können. Und die oberste Führungsebene muss diesen Wandel vorantreiben. Einige schweizerische Konzerne haben hier eine Vorreiter-Rolle inne. Bei den Basler Pharmamultis beispielsweise wird die interne Berufsbildung auf der obersten Geschäftsleitungsstufe verantwortet. Die Ziele müssen genau hier gesetzt werden. Das ist jedoch noch immer die grosse Ausnahme. In vielen Unternehmen beträgt die Verweildauer der Top-Manager inzwischen gerade einmal vier bis fünf Jahre. Diese Herren haben keine Zeit, sich um das Humankapital und die Ausbildung zu kümmern, weil sie andere Prioritäten setzen.
Casty: Herr Strahm geht gerade ziemlich streng mit den HR-Verantwortlichen ins Gericht. Leider sehe ich das auch so. Dennoch möchte ich noch einen weiteren Aspekt hinzufügen. Sowohl das HR als auch die Geschäftsleitungen fordern zu wenig ein, dass das Fachkräfteproblem mit unternehmerischer Weitsicht angegangen wird. Man hat zwar vielleicht momentan gerade keine Probleme, Fachkräfte zu finden, zwei Jahre später dann aber schon. Deshalb rekrutiert man die benötigten Fachkräfte dann via Personalvermittler von irgendwo her und ist bereit, 12 bis 30 Prozent eines Jahresgehalts dafür auszugeben, anstatt vorher in die ach so teure und mühsame Berufsnachwuchsförderung investiert zu haben. Plötzlich spielt das Geld keine Rolle mehr. In diesem Punkt sollte die Unternehmensleitung dem HR mit mehr Weitsicht Unterstützung bieten. Das gilt auch für den Support der Berufsbildner. Diese sind für eine qualitativ hochstehende Ausbildung nämlich zentral. Trotzdem ist es immer noch so, dass man in viertägigen Kurzausbildungen zum Berufsbildner werden kann. Es gibt heute auch keinen Verband, der die Qualität und die Interessen der Berufsbildner vertritt. Noch gibt es für Berufsbildner Fachausweise und Fähigkeitszeugnisse. Da liegt ein ganz grundlegender Systemfehler vor. Hier müssten sich die Berufsverbände und deren Bildungsverantwortliche mehr in die Pflicht nehmen lassen.
Schweizer: Ich beurteile die Situation etwas differenzierter. Ich glaube, die Herausforderung ist erkannt, dass die Berufsbildung für die Nachwuchssicherung eine zentrale Bedeutung hat, aber leider noch nicht überall wunschgemäss umgesetzt wird. Es gibt jedoch auch verschiedene Branchen, die richtig agieren. Bei der SBB und zahlreichen weiteren Verkehrsunternehmen ist die Berufsbildung ebenfalls in der obersten Führungsebene sowohl thematisch als auch strategisch integriert. Generell ist es wichtig, dass Laufbahnkonzepte und Weiterbildungsmöglichkeiten bestehen – diese sollen bei Lernenden und jungen Nachwuchskräften früh transparent gemacht werden. Was den Status der Berufsbildner betrifft: Auch hier stelle ich fest, dass diese Rolle in vergangenen Jahren bei HR-Verantwortlichen und Linienchefs an Bedeutung gewonnen hat. So wird die Berufsbildner-Funktion häufig als Personalentwicklungsmassnahme gesehen, diese nebenamtliche Rolle wird in Stellenbeschreibungen aufgenommen, Berufsbildner werden zusätzlich geschult.
Casty: Gut, zugegeben, die SBB und viele Grossunternehmen sind ein sehr homogenes System mit einer ausgeprägten Qualitätskontrollen-Kultur. Wenn man jedoch die Gesamtwirtschaft betrachtet, präsentiert sich die Situation längst nicht überall so positiv. Sobald die Unternehmen kleiner werden, verschärft sich die Problematik, da die Berufsbildner oft Doppelrollen innehaben und der Druck somit sehr gross ist. Und 90 Prozent der Schweizer Unternehmen sind bekanntlich KMU.
Schweizer: Das stimmt sicher. Die Frage ist jedoch, warum ein Betrieb ausbildet. Bildet er aus, um während der Lehrzeit eine gewisse Wertschöpfung zu erzielen oder um Nachwuchssicherung zu betreiben? Da, wo Nachwuchssicherung betrieben wird, hat die Berufsbildung unweigerlich einen hohen Stellenwert.
Strahm: Nun ja. In den Gewerben, wo der Nettonutzen eines Lehrlings während der Lehrzeit grösser ist als die Nettokosten, dort wird automatisch auch mehr ausgebildet. Da muss nicht zwingend ein Widerspruch vorliegen. Es kommt aber auch sehr auf die Branchenkultur an. Bei Schweizer Unternehmen aus dem gewerblich-industriellen Sektor ist die Berufsbildung etabliert. Wer etwas auf sich hält, der bildet aus. Darauf schauen sogar die Banken, wenn sie Unternehmen analysieren. Denn die wissen genau: Wer ausbildet, der plant langfristig. Anders sieht das bei ausländischen Unternehmen aus. In Zug sind rund einhundert Rohstoff-Firmen ansässig. Doch nur eine einzige von diesen Firmen bildet aus – und auch diese eine nur zwei Lehrlinge. Diese Unternehmen rekrutieren ihre Leute vornehmlich im Ausland. Auch bei den neueren Berufsbildern sieht es ähnlich aus. Namentlich die IT-Branche bildet noch viel zu wenig aus. Aber auch in der Gesundheitsbranche, beispielsweise in Spitälern, wurde viel zu wenig ausgebildet. Diese zahlen lieber 10 000 Franken an einen externen Vermittler, der bereits ausgebildetes Personal in Deutschland rekrutiert. Die aufgewendeten Kosten werden dann vom Arbeitgeber mit geringeren Löhnen wieder amortisiert. So entsteht eine selbstverschuldete Ausbildungslücke. Dieses Vorgehen führt dazu, dass letztes Jahr 4500 Jugendliche, die sich zum Fachangestellten Gesundheit (FaGe) und Betreuung (FaBe) ausbilden lassen wollten, keine Lehrstelle finden konnten.
Wäre ein Inländervorrang ein Lösungsansatz?
Strahm: Ich habe grosse Skepsis gegenüber Kontingenten und einer Ventilklausel, bin aber heute klar für einen Inländervorrang. Ein solcher sollte jeweils pro Branche vereinbart werden. Wir haben im Gast- und Baugewerbe beispielsweise je über 15 000 Arbeitslose. Deshalb muss man nach Branchen differenzieren. Zusätzlich könnte festgelegt werden, dass Firmen eine gewisse Anzahl an Ausbildungsplätzen anbieten müssen, um Fachkräfte im Ausland rekrutieren zu dürfen. Bis 2007 hat man den Inländervorrang praktiziert. Dabei sollte man den Inländervorrang nicht einfach mit Abschottung gleichsetzen. Eine weitere wichtige Frage, die es im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit zu regeln gilt, ist die Titeläquivalenz, die das Prestige der Höheren Berufsbildung im Kern betrifft.
Sie würden also gerne die Ausbildungsquoten an Kontingente mit ausländischen Fachkräften knüpfen, habe ich das richtig verstanden?
Strahm: Richtig. Das ist aber sehr branchenabhängig. Die Lösung bestünde darin, bei Fachkräften aus dem Ausland Rekrutierungskontingente zu implementieren, unter der Bedingung, dass die Unternehmen eine Mindestzahl an Ausbildungsplätzen im Inland anbieten. Das könnte im Gesundheitswesen gut umgesetzt werden. Gerade bei Spitälern, die ja oft öffentlich finanziert werden. Beispielsweise könnte den Spitälern vorgeschrieben werden, pro hundert Vollzeitstellen zwölf Ausbildungsplätze zu garantieren. Deshalb sollte diese Entscheidung auch nicht den Spitälern selbst überlassen werden. Bei öffentlich finanzierten Organisationen – da bräuchte es eine gewisse Steuerungsfunktion. Denn wenn man das System sich selber überlässt, wird das teuer. Beispielsweise haben wir in der Schweiz dann eine steigende Sockelarbeitslosigkeit.
Früher war es gang und gäbe, dass eine Firma sechs bis zehn Lehrlinge pro hundert Mitarbeiter ausbildete. Wie sieht dieser Wert heute aus?
Strahm: Das stimmt im gewerblich-industriellen Bereich so immer noch. Aber bei den Spitälern haben wir eine 10-jährige Ausbildungslücke und einen steigenden Bedarf an Mitarbeitenden. Wir haben drei Prozent Realwachstum im Gesundheitswesen. Deshalb ist der Bedarf grösser.
Wären Strafsteuern oder gar Steuerbegünstigungen eine Lösung?
Strahm: Man sollte mit Anreizen arbeiten. Der Kanton Zug geht hier voran. Er führt englischsprachige Lehren ein, weil so viele ausländische Arbeitnehmer hier ihren Wohnsitz haben. Ich persönlich bin nicht für Strafsteuern. In den 90er-Jahren habe ich mal mit Peter Spuhler zusammen ein System ausgeheckt, bei dem Unternehmen Ausbildungskosten doppelt abziehen könnten bei den Steuern. Mit der demografischen Entwicklung ist diese Situation jedoch entschärft.
Schweizer: Innovative Konzepte wirken sich sicherlich positiver auf das System aus, als Strafsteuern oder finanzielle Anreize. Für uns ist es auch interessant, wenn wir beispielsweise Möglichkeiten haben, vermehrt über Sprachgrenzen hinweg auszubilden, wenn wir Lernende beispielsweise für einen gewissen Zeitraum in einem anderen Sprachgebiet einsetzen könnten und dies durch Berufsfachschulen unterstützt und begleitet wird.
Casty: Herr Strahms Vorschlag mit der «Steuerbelohnung» ist ein begrüssenswerter Ansatz. Ich gehe noch weiter: Wer in Klein- und Mikrounternehmen Lernende ausbildet, sollte zusätzlich belohnt und gefördert werden. Der deutsche Bundestag hat mit der assistierten Berufsbildung ein Berufsbildungskonzept verabschiedet, wo Millionen in das deutsche Bildungssystem fliessen, um während der Ausbildung sowohl den Unternehmen als auch den Berufslernenden Unterstützung zu bieten. Ich bin nicht für zusätzliche Gelder der öffentlichen Hand, sondern für eine bessere Steuerung der bestehenden Instrumente, wie zum Beispiel Berufsbildungsfonds. So motiviert man diejenigen, die sich schon auf dem richtigen Weg befinden.
Wohin sollten diese Millionen konkret fliessen?
Casty: Kleinunternehmen haben oft keine Kapazität, um Nachhilfe, spezielle Betreuung oder Coaching zu gewährleisten. Jugendliche sind dann oft isoliert. Mit ein Grund für viele Lehrabbrüche. Hier kann externer, menschlicher Support Wunder wirken. Es gibt ja auch schon viele Initiativen und Stiftungen, welche erfolgreiche Angebote umsetzen.
Strahm: Wir gehen immer davon aus, dass zu wenig Lehrstellen zur Verfügung stehen. Das stimmt so nicht ganz. Im gewerblich-industriellen Bereich gibt es gar zu viele Lehrstellen. Gemäss Lehrstellenbarometer konnten einige Tausend Lehrstellen nicht besetzt werden. Dagegen steht, dass Tausende keine Lehrstellen gefunden haben. Beispielsweise eben im Pflege- und Betreuungsbereich, wo 4500 Jugendliche keine Lehrstelle gefunden haben! Gleiches gilt für den IT-Bereich. Ausserdem haben wir auch ein Problem der verschiedenen Schichten. Es ist eine Tatsache, dass wir in der Schweiz eine Ausländergruppe mit bildungsfernen Eltern haben, welche in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren in die Schweiz geholt wurden. Das setzt sich fort. Mehr als ein Drittel der heutigen Zuwanderer sind bildungsfernen Schichten zuzurechnen.
Gleichzeitig werden die Profile in der Wissensgesellschaft anspruchsvoller und Berufe für Tiefqualifizierte verschwinden zunehmend. Was soll mit Jugendlichen passieren, die manuell zwar begabt sind, aber kognitiv Schwierigkeiten haben?
Strahm: Meine Antwort lautet: berufliche Weiterbildung und Höhere Berufsbildung! Weiterbildung ist ein Muss, auch mit 25 oder 35 Jahren. Denken Sie an den Beruf des Automechanikers. Heutzutage muss man die ganze Elektronik im Auto beherrschen. Deshalb gibt es die Ausbildung zum Mechatroniker entweder mit einer Zusatzausbildung oder für die Schulabgänger mit einer neuen, vierjährigen Berufslehre. Solche Entwicklungen sind wichtig, weil sie auch die Diffusion der neusten Technologien und Prozesse in die KMU-Wirtschaft fördern. Man kann nicht warten, bis die entsprechenden Leute aus der Hochschule ins Unternehmen kommen. Man muss sie bereits vorher selber ausbilden.
Casty: Deshalb hat man ja gerade die zweijährigen EBA-Ausbildungen (Eidg. Berufsattest Anm. d. Red.) eingeführt. Es sind nicht nur die intellektuellen, beziehungsweise kognitiven Voraussetzungen, die wichtig sind, sondern auch Skills wie Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit und ähnliches. Es sind also soziale Kompetenzen, die zählen, wenn die Integration solcher Profile gelingen soll. Viele Lehrbetriebe sagen mir jedoch, dass sie sich das doch nicht antun wollen, weil es einen grossen Aufwand und überaus viel Stress bedeute. Deshalb stellt sich die Frage, wie man Betriebe, die niederschwellige Profile ausbilden, unterstützen kann. Die Krux dieser Branchen liegt oft darin, dass die Margen tief sind und die Kosten steigen. Und in dieser Situation sollte dann auch noch ein Lehrling ausgebildet werden! Klagen hört man übrigens auch aus dem IT-Bereich: Dort sind die Ausbildungskosten hoch und die Spezialisierung der Berufslernenden nach der Lehre dennoch zu wenig tief. Die Ausbildungszeit, bis ein Unternehmen einen Programmierer mit den gewünschten Qualifikationen hat, scheint für viele Betriebe zu lang zu sein. Das ist eine weitere Herausforderung, der wir uns stellen müssen.
Schweizer: Es stehen tatsächlich grosse Herausforderung an. Ich gehe mit Herrn Casty einig, dass die Berufslehre betreffend Wertevermittlung einen sehr wichtigen Beitrag leisten kann. Man erwirbt in der Lehre nicht nur Fachkompetenzen, sondern Handlungskompetenz generell. Ich wehre mich aber dezidiert dagegen, dass wir Bildungsangebote konstruieren, für welche seitens Betriebe kein Bedarf besteht. Realität ist, dass für einzelne Berufe eine zweijährige Lehre einfach nicht ausreicht. Beispielsweise bei einem Gleisbauer. Vor zwanzig Jahren war das eine zweijährige Lehre. Die Anforderungen sind gestiegen. Heute müssen diese Mitarbeitenden beispielsweise Pläne interpretieren und umsetzen sowie mit komplexen Maschinen umgehen können.
Casty: Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir die Sozialkosten bedeutend senken, wenn Jugendliche gut ausgebildet und integriert sind. Integration ist eine Gratwanderung und es ist äusserst delikat, die Frage zu stellen, bei welchen Profilen eine Ausbildung Sinn macht und wo nicht. Ich plädiere für möglichst viele frühe Berufsstarter, auch auf tiefem Niveau, denn jede Integration in die Arbeitswelt ist sinnvoller und günstiger als Stützprogramme, Zwischenjahre oder Arbeitslosigkeit.
Strahm: Fakt ist: Wer eine Lehre absolviert hat, unterliegt einem dreimal kleineren Risiko arbeitslos, bzw. langzeitarbeitslos zu werden. Das ist statistisch belegt. Wer den «Knopf aufmacht», dem wird das eidgenössische Berufsattest für die weitere Berufslehre zur Erlangung des Fähigkeitszeugnis angerechnet. Das ist bei einem Drittel der jungen Leute mit Berufsattest der Fall. Ein weiteres Drittel steigt erfolgreich in einen anderen Beruf um. Ein letztes Drittel bleibt leider «liegen» und schwankt zwischen Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und Gelegenheitsjobs.
Welches Botschaften möchten Sie unserer Leserschaft aus dem HR-Bereich aussenden?
Schweizer: HR-Verantwortliche sind gut beraten, wenn sie sicherstellen, dass Lernende bereits in der Berufslehre Verantwortung übernehmen können. Berufsbildner/innen kommt hier unter anderem eine wichtige Rolle als Coach zu. Wichtig ist auch, dass Laufbahnkonzepte für Nachwuchskräfte aus der Berufslehre bzw. aus der höheren Berufsbildung bestehen und diese transparent gemacht werden. Übrigens: Die Generationen Y und Z sind nicht so unmotiviert und nicht so kapriziös zu handhaben, wie das gemeinhin dargestellt wird. Klar, sie sind sie anders als wir früher. Ich möchte das aber keinesfalls negativ werten. Es gilt, diese Eigenschaften der jungen Leute zu nutzen: Junge Menschen wollen weiterkommen im Beruf. Sie sind selbstbewusst und haben Selbstvertrauen. Das können Betriebe sehr konstruktiv nutzen, wenn sie sich darauf einlassen. Packen Sie diese Chance!
Casty: Ich glaube auch nicht, dass der Durchschnittsjugendliche schlechter geworden ist. Es gab in jeder Generation einfachere und schwierigere Jugendliche. Das hat Aristoteles schon vor mehr als 2000 Jahren konstatiert. Veränderungen müssen immer als Chance wahrgenommen werden. HR-Leute sollten genau hinschauen und sich fragen, wie sie ihre Rolle als HR-Partner, Lernbegleiter oder Berufsbildner definieren. Die meisten Unternehmen, die ein Fachkräfte-Konzept haben, nehmen diese Herausforderung sehr ernst. Ein HR-Mensch macht seine Arbeit gut, wenn er auch intern, gegenüber der Unternehmensführung eine klare, starke und proaktive Haltung vertritt, warum es eben Ausbildung im Unternehmen braucht. Er muss fähig sein, die gewaltigen Vorteile der Berufsausbildung als integraler Teil des Nachwuchskonzepts darstellen zu können. Wenn er die gesamte Nahrungskette des HR und des Recruitings kennt, weiss er, wo die Kosten anfallen und kann entsprechend für die Berufsausbildung argumentieren.
Strahm: HR-Leute sind gut, wenn sie das Hauptaugenmerk primär auf das Talent-Potential in der Schweiz richten. Sie sind gut, wenn sie die Bildungssystematik gut kennen und die Weiterbildungsmöglichkeiten gut und richtig einschätzen können, was die Weiterbildungen wert sind, denn es gibt national über 500 Abschlüsse der Höheren Berufsbildung. Schlecht sind sie, wenn sie ständig die Schablone der akademischen Abschlusstitel im Hinterkopf haben. Solche Firmen geraten unweigerlich in die Akademisierungsfalle.