Die Idee des Seco ist praxisfremd
Menschen können entscheiden, ohne Uhren zusammenzuarbeiten. Die Frage ist, ob dies zu gelingendem Zusammenarbeiten beiträgt. Als Zeitforscher erkenne ich, dass Zusammenarbeiten ohne Uhren Konflikte mit sich bringt. Der Grund ist rein sachlicher Natur: Auch ohne Uhren müssen Menschen ihre Zusammenarbeit koordinieren und synchronisieren. Ohne Zeit können die Menschen weder leben noch zusammenarbeiten.
Die Stempeluhr wurde erfunden, um die Menschen zur Pünktlichkeit zu erziehen. Sind nicht alle Mitarbeiter beim Start des Fliessbandes am Arbeitsplatz, warten mehrere dutzend Arbeitskollegen auf eine einzelne Person, bevor sie ihre Arbeit aufnehmen können.
Die flexible Arbeitszeit wurde zunächst als Gleitzeit erfunden – und zwar überall dort, wo das Vertakten der Arbeitsgänge nicht so eng war, wie bei der Fliessbandarbeit – also im Büro. Gleitende Arbeitszeit erforderte erst recht Uhren, zur Messung der Arbeitszeit. Man registrierte den Beginn und das Ende der Arbeitszeit, um eine Tagesarbeitszeit zu ermitteln, die dem Gleitzeitsaldo zugerechnet wurde.
Würden wir der Vertrauensarbeitszeit «Arbeiten nach Gefühl» sagen, würde jeder Laie erkennen, warum Vertrauensarbeitszeit nicht funktioniert.
Niemand kann nach Gefühl wissen, wie lange er gearbeitet hat, ohne Beginn und Ende seiner Arbeitszeit zu registrieren. Die Idee des Seco, dass Kadermitarbeiter nur die Dauer, aber nicht die Lage der Arbeitszeiten erfassen sollen, ist deshalb praxisfremd. Heutige Zeiterfassungslösungen ermöglichen das Erfassen problemlos von jedem Handy aus. Man darf deshalb kritisch nachfragen, wie sich die Idee durchsetzen konnte, Gutverdiener von der Zeiterfassung zu «befreien». Können Menschen mit hohen Einkommen nach Gefühl arbeiten und Menschen mit niedrigen Einkommen können dies nicht? Wohl kaum. Viel eher gilt: Eine Ideologie hat sich durchgesetzt.
Kommen wir zur Gretchenfrage: Das Seco beschreibt mit der neuen Arbeitszeitverordnung sowohl eine Welt, die es gibt, als auch eine Welt, die es nicht gibt. Die Arbeitswelt, die es gibt, ist diejenige des Individualismus. Viele Menschen arbeiten lieber 50 Prozent für 100 000 Franken statt 100 Prozent für 50 000 Franken und das am liebsten nach Gefühl. Die Arbeitswelt, die es nicht gibt, ist diejenige, die es Menschen ermöglicht, nach Gefühl zu arbeiten. Trotzdem fordern Ideologen neue flexible Arbeitsformen, die für ein gelingendes Zusammenarbeiten untauglich sind. Erich Fromm hat im Buch «Es geht um den Menschen» den Grund hierfür treffend analysiert. Diesem Buchtitel ist in Sachen Zeiterfassung nichts anzufügen: Es geht um den Menschen.
Wer wissen will, warum es die Arbeitszeiterfassung braucht, muss sich nur an seine Primarschulzeit erinnern. Menschen sind unterschiedlich leistungsfähig und unterschiedlich leistungsbereit. Die Zeiterfassung ist eine objektive Messgrösse, die allen diesen Menschen und ihrem Zusammenarbeiten gerecht wird: den unterschiedlich leistungsfähigen und den unterschiedlich leistungsbereiten, egal wie wir sie entlöhnen.