Laufbahnzentrum Zürich
Zwischenmenschliche Beziehungen sind äusserst wichtig
Herr Mehr, wie erleben Sie die Lernenden?
Tony Mehr: Mehrheitlich als selbstbewusste junge Menschen, die wissen, was sie gelernt haben, und dies nun anwenden wollen. Sie präsentieren sich gut und bringen ihre Anliegen ein. Sie sind kritisch und sagen ziemlich ungeschminkt, was ihnen in der Lehrfirma und Berufsschule gefällt und was nicht – dabei sind sie durchaus konstruktiv. Andere sind eher vorsichtig und respektvoll. Sie sind während der Lehre an ihre Grenzen gestossen und froh, wenn sie die Lehrabschlussprüfung bestehen, was dann auch nicht allen gelingt.
Wo haben die Lernenden heute mehr Mühe als früher?
Sie sind etwas weniger zielgerichtet. Sie lassen Zukunftsfragen an sich herankommen und entscheiden relativ kurzfristig. Sie kommen mir teilweise unentschlossener vor, entscheiden spontaner, intuitiver.
Was erwarten die Lernenden von ihrem Ausbildungsunternehmen?
Die Lernenden fühlen sich dort wohl, wo sie verstanden werden. Die zwischenmenschliche Beziehung ist für sie enorm wichtig. Weiter möchten sie, dass ihre Anliegen aufgegriffen werden, sie erwarten Verständnis, Geduld und eine gute fachliche Einarbeitung.
Was bedeutet das für die Lehrlingsverantwortlichen?
Es muss jemand sein, der einen guten Draht zu Jugendlichen hat. Ich höre von Lernenden, dass sie es gut getroffen haben mit ihrem Chef. Oder aber sie beklagen sich, dass die Chefin «alt» sei, ihre Anliegen nicht verstehe und fachlich nicht auf dem neusten Stand sei. Oft ist das Lehrlingswesen in grösseren Firmen professionell aufgebaut und es kommt weniger zu Reibereien, weil die Lernenden verschiedene Ansprechpersonen haben. In KMU, hingegen hängt es stark von der Persönlichkeit des Lehrlingsverantwortlichen ab, wie die Lehrzeit empfunden wird.
Welches sind die Hauptgründe, wenn ein Lehrvertrag aufgelöst wird?
Die Gründe sind unterschiedlich. Es kommt auch darauf an, ob man den Lehrlingsverantwortlichen oder den Lernenden fragt. Ersterer nennt oft mangelndes Interesse und ungenügende Leistungsbereitschaft sowie allgemeine Überforderung. Lernende hingegen geben zwischenmenschliche Gründe an, wie etwa, dass es mit dem Lehrmeister nicht klappt oder man ihnen zu wenig Verständnis entgegenbringt.
Richten sich Unternehmen nach der Generation Y aus oder müssen sich die Jugendlichen anpassen?
Dort, wo regelmässig Standortgespräche stattfinden – wie es die Bildungsverordnung verlangt –, werden die Jugendlichen mehr miteinbezogen und können ihre Bedürfnisse äussern. Zudem erhalten sie bessere Einblicke in die Abläufe und Prozesse, was das selbständige Denken fördert. Auch scheint mir, dass vernetztes Denken und vernetzte Kompetenzen vermehrt gefördert werden. Im Gastgewerbe etwa wird der Fremdsprachenunterricht mit dem Fachunterricht gekoppelt.
Haben sich die Anliegen der Lernenden, die bei Ihnen Rat suchen, in den letzten zehn Jahren verändert?
Hauptanliegen sind nach wie vor der Umgang mit Geld und Freizeit und wie sie sich mit all den neuen Eindrücken und Kontakten zurechtfinden können. Ebenso werden Weiterbildungen und Stellensuche thematisiert. Weitere Fragen betreffen andere Szenarien, die nach der Lehre möglich sind, etwa Auslandsaufenthalte, Reisen, Sprachkurse.
Der Wunsch, nach der Lehre etwas anderes zu machen, ist verständlich. Aber wie oft wird er auch verwirklicht?
Aus der TREE-Studie der Uni Basel weiss man, dass ein Jahr nach Lehrabschluss rund 81 Prozent auf dem Arbeitsmarkt sind, 68 Prozent sogar im Lehrberuf erwerbstätig und nur etwa 3 Prozent gaben an, auf Reisen zu sein oder einen Sprachaufenthalt zu machen. Was auch gerne gewählt wird, ist die Berufsmaturität.
Wie viele Lernende bleiben nach dem Abschluss in ihren Lehrbetrieben?
Etwa die Hälfte. Oft haben sie vor der Lehrabschlussprüfung keine Zeit, eine Stelle zu suchen, weil sie lernen müssen. Es ist daher eine Erleichterung für sie, wenn ihnen die Firma anbietet, noch für ein halbes oder ganzes Jahr zu bleiben. Der Vorteil ist, dass sie in der Firma schon vieles kennen und nun das Gelernte vertiefen und Berufserfahrung sammeln können. Ungünstig ist jedoch, wenn sie das Lehrlingsimage behalten. Sie sollten daher eine neue Rolle erhalten und Verantwortung übernehmen.
Welche Ansprüche haben die Jugendlichen an ihre Zukunft?
Sie haben oft noch keine gezielten Zukunftsvorstellungen, eher diffus im Sinne von «Ich habe eine gute Ausbildung gemacht, nun will ich auch eine gute Stelle».
Was bedeutet eine «gute Stelle»?
Eine anspruchsvolle Arbeit, bei der sie Verantwortung übernehmen können. Auch der Lohn ist ein Thema, wobei sie oft erstaunt sind, dass der weniger hoch ist, als sie annahmen.
Machen sich die Jugendlichen auch Gedanken zur Work-Life-Balance?
Sie überlegen schon, wie sie Beruf und Hobbys unter einen Hut bringen können. Weniger Gedanken machen sie sich, wie sie später Arbeit, Partnerschaft und Familie vereinbaren können. In dieser Thematik versuchen wir sie ebenfalls zu sensibilisieren. Junge Erwachsene brauchen Anstösse, damit sie sich mit diesen Fragen auseinandersetzen.
Tony Mehr arbeitet beim Laufbahnzentrum Zürich und leitet einen Fachbereich, der sich um die Lernenden kurz vor Abschluss der Lehre kümmert.
Bücher zum Thema
Ewald Schamel: Das betriebswirtschaftliche Praktikum als Instrument zur Personalauswahl. Gabler Verlag, 2010. 192 Seiten, Taschenbuch, CHF 70.90
Detlev Kern: Der MBA Guide. Luchterhand Verlag, 2011, 10. aktualisierte und erweiterte Auflage. 424 Seiten, Taschenbuch, CHF 41.90
Anders Parment: Die Generation Y - Mitarbeiter der Zukunft. Gabler Verlag, 2009. 183 Seiten, gebunden, CHF 57.90