«Die Quotendiskussion ist politische Effekthascherei»
Seit elf Jahren gibt Guido Schilling den gleichnamigen Report heraus, der akribisch Veränderun gen in der Zusammensetzung von Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten der 100 grössten Unternehmen dokumentiert. 2016 hat Schilling nun zum ersten Mal auch den stark beachteten «schillingreport public sector» veröffentlicht, der die Top-Kader-Profile im öffentlichen Sektor untersucht. Mit erstaunlichen Resultaten. Ein Gespräch.
Guido Schilling ist Berater bei der Besetzung von Verwaltungsräten und Positionen im Top-Management und Managing Partner der Guido Schilling AG. (Foto: Guenter Bolzern)
Was sind die wichtigsten Beobachtungen des diesjährigen Schillingreports?
Guido Schilling: Die SMI-Unternehmen sind in den meisten Fragen Trendsetter. Egal, ob es um Gender Diversity oder um die Internationalisierung geht. Das färbt auf die weiteren Top-100-Unternehmen ab und beeinflusst mittelfristig auch das Verhalten der mittelständischen Unternehmen. Beispielsweise beobachten wir, dass auffällig viele Führungskräfte von grossen Unternehmen zu mittelständischen Firmen wechseln und nicht umgekehrt. Grosse Schweizer Firmen sind im Inland oft Branchenprimus. Eine ABB oder Sulzer kann ihre Führungskräfte in der Deutschschweiz aber nicht in erster Linie bei Bühler und Geberit oder bei Bobst in der Westschweiz rekrutieren.
Warum nicht?
Zu 80 bis 85 Prozent besetzen diese Firmen ihre Top-Positionen intern. Das haben sie von den Grössten gelernt. Weltkonzerne wie Nestlé oder Hilti sind stolz darauf, dass sie nur ganz punktuell extern rekrutieren müssen. Diese Firmen haben eine Wertekultur, die sie erfolgreich macht. Man kommt dort praktisch nur intern nach oben. Gleichzeitig nehmen diese Unternehmen die Führungskräfte teilweise bereits im Alter von 50 Jahren aus der obersten Unternehmensleitung, um wieder Raum für internen Nachwuchs zu schaffen. Eine starke Zirkulation gehört unter dem Motto «up or out» zur Kultur dieser Firmen. Ähnlich wie man dies bei den Big-Four-Beratungsfirmen kennt.
Zur Person
Guido Schilling ist Berater bei der Besetzung von Verwaltungsräten und Positionen im Top-Management. Als Managing Partner der Guido Schilling AG setzt er sich seit Jahren für eine bessere Gender Diversity in den Führungsgremien der Schweizer Unternehmen und anderer Institutionen ein. Einerseits in seiner täglichen Arbeit als Executive Searcher, andererseits gibt er den «schillingreport» heraus, in dem er seit 2006 jährlich die 100 grössten Schweizer Unternehmen bezüglich Zusammensetzung der Geschäftsleitung und des Verwaltungsrates untersucht.
Eigentlich schlecht für Ihr Geschäft. Wie kommen Sie trotzdem ins Spiel?
Wenn eine Firma extern rekrutieren muss, zeigt dies, dass die interne Talententwicklung für diese spezifische Position nicht funktioniert hat. Wenn sich Unternehmen auf eine externe Suche einlassen, dann suchen sie substanzielles Markt-, Kunden-, oder Technologie-Know-how. Also sucht man im Normalfall bei der Konkurrenz. Da die grössten Schweizer Firmen ihre Konkurrenz im Ausland haben, suchen sie entsprechend oft im Ausland nach Top-Führungskräften. Die Akzeptanz, dass Schweizer Firmen an der Spitze ausländische Führungskräfte engagieren, ist in den letzten zehn Jahren in der Bevölkerung gewachsen.
Worin sehen Sie namentlich für HR die Relevanz dieser Fakten?
Es ist ein Phänomen, mit dem HR umgehen muss. Dass man Ausländer integrieren kann, ist essenziell für den Erfolg international ausgerichteter Unternehmen. Bei der Frage, wie man diese Führungskräfte identifizieren, anwerben, onboarden, entwickeln und integrieren kann, ist HR sehr zentral.
Stichwort Gender Diversity: Damit haben Sie schon früh ein Thema besetzt, das heute in aller Munde ist. Welche neuen Erkenntnisse konnten Sie auf diesem Feld gewinnen?
Leider kommen wir bei diesem Thema auf Stufe Geschäftsleitung kaum voran. Da stagnieren wir. Deshalb hat es mich ausserordentlich gefreut, dass wir animiert wurden, den vorliegenden Public-Sector-Report herauszugeben. Wir waren positiv überrascht, dass wir an der Spitze von öffentlich-rechtlichen Organisationen offenbar fast dreimal mehr Frauen haben als in der Privatwirtschaft. Es stimmt mich sehr zuversichtlich, dass die Privatwirtschaft dem Thema Gender Diversity nun noch mehr Aufmerksamkeit schenken wird, etwas über den Gartenzaun schaut und sich fragt, warum dies im Public Sector so ist und was man bei dieser Frage von der öffentlichen Hand lernen könnte.
Sie stellen also einen Paradigmenwechsel fest?
Genau. Im Volksmund heisst es ja «einmal Beamter, immer Beamter». Deshalb hat es mich enorm überrascht, dass 50 Prozent der obersten Führungskräfte in den Verwaltungen einmal in ihrer Karriere in der Privatwirtschaft gearbeitet haben. Ich bin der Meinung, dass es in den öffentlich-rechtlichen Organisationen hervorragende Top-Leute gibt, die in der Öffentlichkeit unterschätzt werden. Sobald ins Bewusstsein eindringt, dass Verwaltungs-Top-Kader nicht immer in der Verwaltung gearbeitet haben, wird für die Privatwirtschaft ein grösserer Druck entstehen, auch auf diesem Feld zu recherchieren, mit dem Ziel, Top-Leute zurückzuholen. Gerade auch weil in der Privatwirtschaft profundes Know-how vom Regulator von grossem Interesse ist – etwa bei der FINMA. Früher war es ein Malus, bei der Finanzmarktaufsicht gearbeitet zu haben. In Zukunft werden aus solchen Institutionen ganz gezielt Profile rekrutiert. Deshalb war es hoch interessant, an diesem Report mitwirken zu können.
Sie möchten also auch 2017 einen Report für den Public Sector herausgeben?
Ich bin zuversichtlich, dass nächstes Jahr noch einmal deutlich mehr Kantone mitmachen werden, weil wir nun den Mehrwert aufzeigen konnten. Die Kantone haben erkannt, dass sie durch den Report nicht denunziert werden, sondern dass dieser im Gegenteil sogar auf ihre Arbeitgeberattraktivität einzahlt. Die Arbeit am Report bindet bei uns allerdings mindestens ein Jahrespensum und wir werden diese nur fortsetzen, wenn auch der Bund mitmacht. Denn es ist natürlich hochspannend, dass wir heute mit den zwölf Kantonen in allen Landesteilen bereits rund fünf Millionen der Bevölkerung abdecken. Aber es wäre für uns schon sehr wünschenswert, dass auch der Bund zusagt. Erst dann wäre der gesamte Public Sector abgedeckt. Dabei ist das keine Frage von Geld. Mitmachen heisst, die Daten zur Verfügung zu stellen.
Ist der Anteil Ihrer Kunden aus dem öffentlichen Sektor gestiegen im Vergleich zur Situation vor zehn Jahren?
Eindeutig. Wir arbeiten heute immer noch ungefähr zu 80 Prozent für die Privatwirtschaft, erachten aber die 20 Prozent aus dem Public Sector als signifikant. Vor zehn Jahren haben vielleicht gewisse Bundesräte punktuell auf unsere Dienstleistung zurückgegriffen, wenn sie oberste Chefpositionen besetzen wollten. Heute lassen sich auch viele Kantone von unserer Branche extern begleiten. Die Evaluationsprozesse in der Besetzung der obersten Verwaltungsschlüsselpositionen haben sich substanziell professionalisiert. Das Thema ist in der Öffentlichkeit auch visibler.
Eine Erkenntnis aus dem neusten Schillingreport ist die, dass der Frauenanteil in Verwaltungsräten zwar gestiegen, in Geschäftsleitungen jedoch gesunken ist. Spürt man da bereits einen gewissen «Sommaruga-Effekt», nachdem diese 2014 während ihrer Bundespräsidentschaft für Verwaltungsräte eine Frauenquote gefordert hatte?
Jede Aussage, die zu einer besseren Gender Diversity beiträgt, ist hilfreich. 2014 wurde in der Schweiz jedes dritte VR-Mandat von einer Frau besetzt. Die Quotendiskussion auf Stufe Verwaltungsrat ist jedoch politische Effekthascherei, weil wir 2022 das Ziel der geforderten 30 Prozent Frauenanteil sowieso erreichen werden – mit oder ohne Quote. Es hat sich nicht nur in besonders fortschrittlichen, sondern auch in klassisch männerdominierten Verwaltungsräten die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine gute Gender-Durchmischung in Teams bessere, nachhaltigere und risikobalanciertere Entscheidungen produziert. Ich bin aber ein Gegner jeglicher Zwänge. Jede Reglementierung von aussen behindert Unternehmen gegenüber der Konkurrenz.
Deshalb ziehen Sie als dezidierter Quotengegner auch gerne das britische Modell heran, wo der Frauenanteil auch ohne staatlich vorgeschriebene Quote gestiegen ist. Was sind die Erfolgsfaktoren, damit Gender Diversity gelingt?
Erfolgreiche Gender Diversity hängt aus meiner Sicht von vier Faktoren ab: erstens von den staatlichen Rahmenbedingungen betreffend Tagesstrukturen für arbeitstätige Frauen mit Kindern, damit nicht die Hälfte des Einkommens von der Kinderbetreuung weggefressen wird. Zweitens von den Individuen, also den Frauen selbst. Drittens von den Rahmenbedingungen in den Unternehmen. Und viertens von der gesellschaftlichen Akzeptanz. Frauen mit Kindern, die sich im Beruf stark engagieren und eine Karriere anstreben, werden von weiten Kreisen immer noch stigmatisiert. Da hinken wir in der Schweiz dem Ausland – beispielsweise Frankreich – noch sehr hinterher.
Stellen Sie auch innerhalb der Schweiz Unterschiede fest?
Interessanterweise sind in der Romandie ein Grossteil der Frauen in Managementpositionen Französinnen. Die Westschweiz verfügt also über einen grossen Pool. Im Gegensatz zur Deutschschweiz, die in Deutschland auf keinen entsprechenden Pool zurückgreifen kann, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland ähnlich gelagert sind wie in der Deutschschweiz.
Sie forderten in früheren Interviews von den Schweizer Wirtschaftskapitänen einen «Winkelried», der für die Sache in die Bresche springen soll – allerdings ohne zu sagen, wer in der Schweiz ein solcher Winkelried sein könnte. Ich stelle die Frage noch einmal anders: Welche Firma geht Ihrer Meinung nach mit gutem Beispiel voran?
Eine der Leuchtturmfirmen sind die SBB, die in den letzten Jahren überdurchschnittlichen Erfolg hatten bei der Gender-Durchmischung des Top-Managements. Bereits jede vierte Top-Management-Position der obersten 50 Positionen ist heute durch eine Frau besetzt. Das ist beeindruckend. Das wird sich für die SBB noch auszahlen, weil sie sich für viele junge Frauen als Leuchtturm ins Bewusstsein gesetzt haben, wenn diese ihre Laufbahn nach einer Top-Ausbildung starten wollen. Dort werden zukünftig auch die Männer tätig sein wollen, weil sie bei den besten Firmen arbeiten möchten, also bei solchen mit einem hohen Frauenanteil.
Wie sieht es aus mit Leuchtturmbeispielen in der reinen Privatwirtschaft?
(Zögert) Danach werde ich oft gefragt. Obwohl wir mit vielen Firmen in Kontakt sind, fehlen uns leider entsprechende Daten. Allerdings garantieren wir jedem Auftraggeber auf unserer Shortlist mindestens eine Frau. Das ist für uns Standard. Der Kunde erwartet und fordert das immer mehr. Wir haben in unserem Team Silvia Coiro, die sich hauptsächlich darum kümmert, Frauen für Top-Positionen zu identifizieren. So stossen wir auf Frauen, die wir sonst gar nie gefunden hätten. Eine Frau für einen Stellenwechsel zu gewinnen, erfordert ein anderes Vorgehen als bei einem Mann.
Konkret? Sind Männer leichter mit einem höheren Salär zu überzeugen?
Männer sind grundsätzlich neugieriger, Alternativen zu prüfen. Wobei sich Frauen vielleicht stärker mit dem bestehenden Umfeld identifizieren und sich damit gewissermassen «care-ing» verhalten. Männer haben immer zumindest einen Seitenblick auf andere Optionen, während Frauen ihren Fokus ganz auf das Hier und Jetzt richten. Die Männer streben grundsätzlich nach oben, während sich Frauen am Inhalt einer Aufgabe orientieren. Wenn Sie heute eine Frau ansprechen, sagt sie: «Es ist im Moment ganz ok, ich habe noch zu tun.» Ein Mann sagt: «Lass uns das einmal diskutieren.»
Was bedeutet das nun für Ihren Beruf?
Wir müssen Frauen frühzeitig identifizieren, wir müssen ihre Aufmerksamkeit gewinnen, wir brauchen aber auch ihr Zutrauen, dass wir sorgfältig mit ihrem Vertrauen umgehen. Erst dann können wir sie punktuell auf das eine oder andere Angebot aufmerksam machen. Erst wenn man sich gegenseitig einschätzen kann, wächst die Zuversicht, dass wir nichts Falsches empfehlen.
Im Schillingreport beschreiben Sie Führungskräfte-Prototypen: Eine typische Frau, die eine Geschäftsleitungsfunktion innehat, ist 50 Jahre alt, seit vier Jahren in der GL und ist in einer «Servicefunktion». Was meinen Sie damit?
Frauen absolvieren eine fundierte Ausbildung und streben eine Laufbahn in einer Servicefunktion an wie HR, Legal oder Communication. Den wirklichen Durchbruch werden Frauen auf GL-Ebene allerdings erst erleben, wenn sie genauso wie Männer Businessfunktionen verantworten, also Finanzen, Marketing, Produktion, Produktentwicklung, Sales. Deshalb brauchen wir auch dringend einen Impuls, dass junge Frauen vermehrt MINT-Berufe studieren oder Betriebswirtschaft, wie das eine Barbara Frei gemacht hat. Sie startete als Maschineningenieurin ETH bei der ABB ihre Karriere im Business und übernahm rasch die Führung von Geschäftseinheiten in der Schweiz, bevor sie für den italienischen Markt und später für ganz Südeuropa die Verantwortung übernommen hat. Bis vor Kurzem führte sie Nordeuropa und ist nun auf dem Weg zu weiteren beruflichen Erfolgen. Parallel sitzt sie auch im Verwaltungsrat der Swisscom. Solche Profile könnten in Zukunft sehr attraktiv sein für oberste globale HR-Positionen, weil sie wissen, was in der Linie und im Business gefordert wird – also dort, wo das Human Capital eingesetzt wird.
Und damit über eine höhere Glaubwürdigkeit verfügen?
Genau. Solche Personen müssten dann zwar noch die HR-Thematiken und -Instrumente im Detail kennenlernen. Aber wenn Sie auf ein Top-HR-Führungskader mit diesem Instrumenten-Know-how zurückgreifen können, ist es einfacher, sie aus dem Business-Know-how in solche Servicefunktionen zu bringen, als aus der Servicefunktion heraus das Business kennenzulernen. Sobald wir Frauen haben, die das entsprechende Rüstzeug und die Bereitschaft haben, werden wir nochmals einen weiteren Sprung machen in Bezug auf die Akzeptanz von Frauen im Top-Management. Wenn sie also nicht nur «careing» sind, im Sinne von Service, sondern sich auch als Business-Leader bewiesen haben.
Gemäss einer gemeinsamen Studie von Korn Ferry und Partnermodell-Pionier Dave Ulrich soll der HR-Chef-Posten künftig ein ideales Sprungbrett sein für die CEO-Rolle. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ich habe kürzlich an einem Workshop teilgenommen, wo der Wandel der einflussreichsten Business-Positionen seit der Industrialisierung besprochen wurde: angefangen bei den Produktionsdirektoren im 19. Jahrhundert über die Verkaufsdirektoren in der Ford-Ära anfangs des 20. Jahrhunderts, die den Absatz maximierten, bevor die Marketingdirektoren mit ihrem Cluster-Denken neue Zielgruppen und Bedürfnisse schufen, bis hin zu den Finanzdirektoren, die Prozesse hinterfragen, runtersparen und die Wertschöpfung verlagern. Da sind wir im Prinzip noch immer mittendrin. In Zukunft werden jedoch die Unternehmen die Gewinner sein, welche die besten Leute haben. Insofern müsste in der Quintessenz die Zukunft den HR-Direktoren gehören. Allerdings müssen die HR-Direktoren zwingend etwas vom Business verstehen.