HR Today Nr. 8/2022: Skills- und Talentmanagement - Kündigungsgründe

Eigene Talente nicht für die Konkurrenz entwickeln

Wollen Unternehmen gute Mitarbeitende halten und wechselbereite anziehen, müssen sie deren Erwartungen kennen und erfüllen. Obschon viele glauben, sie wüssten, worauf es ankommt, belegen neue Studien zu den wichtigsten Kündigungsgründen, dass das nicht der Fall ist.

Ortsbegehung: Ein leerer Schreibtisch. Daneben ein zweiter. Zum Jahreswechsel arbeiteten dort noch zwei talentierte Nachwuchskräfte. Im Frühjahr waren sie weg. Gehen Mitarbeitende, wird es teuer: Die direkten und indirekten Kosten einer ungeplanten Fluktuation liegen bei rund einem Jahresgehalt.¹ Macht dieses Beispiel Schule und folgen weitere Kündigungen, droht der Eintritt einer Abwärtsspirale: Die Überlastung führt zu steigenden Ausfällen, diese wiederum zu einer nachlassenden Qualität, unfreundlicherem Service und schlechterer interner Kommunikation. Beschwerden und Konflikte nehmen zu. Der Druck steigt, die Stimmung sinkt und irgendwann geht der nächste Mitarbeitende, während es immer schwieriger wird, neue geeignete Bewerbende anzuziehen.

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Zwei Seiten des Fachkräftemangels

Corona hin, Corona her: Eine Deloitte-Umfrage im Sommer 2021 zeigte, dass sich Firmen nicht von den Folgen der Pandemie am stärksten bedroht fühlen, sondern vom guten alten Fachkräftemangel. Dieser hat zwei Seiten: eine quantitative durch die demografische Entwicklung und eine qualitative, deren Ursache im Strukturwandel liegt. Zur Quantität: Am Schweizer Arbeitsmarkt klafft eine jährliche Lücke zwischen Eintritten und Austritten von rund 270 000 Arbeitskräften. Diese wird sich bis 2030 auf 520 000 knapp verdoppeln und bis 2035 auf 680 000 steigen.² Zur Qualität: In der vernetzten Wissensgesellschaft wird diese immer entscheidender: Ist also in den wenigen Köpfen wenigstens das Richtige drin? Die Antwort darauf lautet immer häufiger: leider nicht.

Die Halbwertszeit des Wissens beschleunigt sich seit Jahren. Mit jedem Update und jeder Systemumstellung veralten weitere Kenntnisse. Der Forschungsbericht «Digitalisierte Arbeitswelt» des deutschen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zeigt, wie Digitalisierung und Strukturwandel die Entwicklung der Arbeitsplätze beeinflussen. Überträgt man die Zahlen auf die Schweiz, werden hierzulande in den nächsten acht Jahren 220 000 komplett neue Arbeitsplätze entstehen. Gleichzeitig fallen 195 000 alte Arbeitsplätze weg.³ Ein Beispiel? Schon heute bezahlen wir im Detailhandel immer häufiger am Automaten. Dieser steht stellvertretend für die sich öffnende Qualifikationsschere: Helferinnen und Helfer an der Kasse werden arbeitslos, während der Bedarf an Spezialistinnen und Spezialisten wächst, die neue Kassenautomaten entwickeln, programmieren und warten.

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Riskmanagement in der Skills- und Talententwicklung

Der Arbeitsmarkt in der Schweiz umfasst aktuell 5,17 Millionen Erwerbstätige. Ohne auf die Verflechtungen der obigen Zahlen tiefer einzugehen, zeigen sie, dass im Jahr 2030 in jeder fünften Stelle Probleme in irgendeiner Form entstehen werden. Aktuell ist das lediglich bei knapp acht Prozent der Fall. Bis 2035 wird sich die heutige Situation sogar um den Faktor drei verschärfen.

Um den qualitativen Aspekt der Entwicklung abzupuffern, investieren Schweizer Unternehmen jährlich 6,5 Milliarden Franken in die Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden. Die Investitionen werden jedoch ungleich verteilt: Sie richten sich bevorzugt an die bereits Gutqualifizierten. Während Unternehmer ihre Aktienportfolios diversifizieren, haben sie bei der Bindung ihrer Mitarbeitenden weniger Möglichkeiten. Verlassen diese den Betrieb, steigt das Risiko von Know-how-Lücken.

Arbeitnehmende auf Gewinnerseite

Der War for Talents ist vorbei: Die Talente haben gewonnen und die veränderten Machtverhältnisse bewegen die Fachkräftemärkte: 38 Prozent der Arbeitnehmenden sind offen für neue Angebote, 23 Prozent wollen im nächsten Jahr den Arbeitsplatz wechseln, 42 Prozent in den nächsten drei Jahren.

Dabei ist eines sicher: Wer selbst geht, will sich nicht verschlechtern. Um zu sehen, was sie nach der Bewerbung erwartet, konsultieren Talente ihr Netzwerk und Arbeitgeberbewertungsportale. Besonders begehrte Young Professionals sind kritisch: Jeder zweite klickt weg, wenn das Rating der neuen Firma nicht stimmt.⁶

Stickiness im Unternehmen erhöhen

Im Online-Marketing erhebt die Stickiness, wie lange Besucherinnen und Besucher auf einer Website bleiben. Das Ziel: je länger, desto besser. Im Personalbereich hängt jene des Betriebs von einer guten Antwort auf die entscheidende Frage ab: Warum verlassen Mitarbeitende ihre Arbeitgebenden? So leicht die Frage scheint, so schwer fällt die Antwort. Eine McKinsey-Studie zeigt, dass Arbeitgebende häufig im Dunkeln tappen.⁷ Von den vier wichtigsten Kündigungsgründen schätzen sie nur einen richtig ein: mangelnde Work-Life-Balance.

Wer den Scheinwerfer auf das Siegertreppchen richtet, sieht, was Mitarbeitenden wirklich fehlt: Wertschätzung durch die Organisation, Wertschätzung durch den Vorgesetzten und Zugehörigkeitsgefühl. Eine BCG-Studie mit global über 360 000 Teilnehmenden bestätigt die Ergebnisse: Im D-A-CH-Raum stellen Wertschätzung und gute Beziehungen zu den Kolleginnen und Kollegen die wichtigsten Kriterien guter Arbeit dar.

Parteien auf Augenhöhe

Doch wie lässt sich die Wertschätzung erhöhen? Von Grundsatz her hebt sie beide Parteien auf Augenhöhe. Beispielsweise dadurch, dass Verantwortung für zu treffende Entscheidungen soweit wie möglich in der Hierarchie nach unten gegeben wird. Das zeigt Vertrauen, macht das Unternehmen schnell und hält es in komplexen Umfeldern agil und handlungsfähig. Mehr Augenhöhe bietet auch Unbossing: Firmen wie Freitag, Novartis oder Umantis zeigen, wie das geht.

Wertschätzung entsteht durch eine Haltung, die Führung als Dienstleistung und nicht als Privileg versteht. Der enorme Erfolg der Drogeriemarktkette dm rührt unter anderem daher, dass ihr Gründer Götz Werner bereits in den 1980ern beschloss, das Management nicht mehr über die Mitarbeitenden zu stellen, sondern hinter sie. Heute ist dm Marktführer und seit Jahren der beliebteste Arbeitgeber seiner Branche. Fachkräftemangel? Fehlanzeige!

Doch lässt sich das Zugehörigkeitsgefühl fördern? Beispielsweise durch einen Workshop, mit dem Mitarbeitende gemeinsam den tieferen Sinn der Organisation entdecken. Vorhanden ist er zwar immer, geht im Laufe der Jahre jedoch regelmässig zwischen all den Zahlen verloren. Aber nicht alles, was man zählen kann, zählt. Und nicht alles, was zählt, kann man zählen. Menschen sind fühlende und sinnsuchende Wesen. Liegt der Sinn der Arbeit nur darin, jedes Jahr drei Prozent schneller im Hamsterrad zu laufen, steigt der Hamster irgendwann aus. Entdecken Mitarbeitende dagegen zusammen den tieferen Sinn ihres gemeinsamen Handelns, motiviert sie das und führt sie als Gemeinschaft zusammen.

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Die Frage nach den Kündigungsgründen gibt auch die Antwort auf die Fragen, was Bewerbende beim Wechsel wollen und was Unternehmen erfolgreich macht: Wertschätzung erhöht die Stickiness, zieht neue Talente magnetisch an und rechnet sich wirtschaftlich. Eine Heidrick-Studie mit global über 500 Unternehmen belegt, dass Firmen, die sich auf die Unternehmenskultur als Erfolgsfaktor konzentrieren, jene, die auf andere Faktoren setzen, mit einer mehr als doppelt so hohen finanziellen Performance (9,1 zu 4,4 Prozent) übertreffen.

Fazit: Damit Talente im Unternehmen bleiben und die erworbenen Skills in der Praxis auch einsetzen, braucht es wertschätzende Führung. Diese zeichnet sich durch Kontakt auf Augenhöhe aus und lässt sich vom tieferen Sinn der gemeinsamen Arbeit leiten. Das lohnt sich wirtschaftlich und zieht gleichzeitig Talente an, die sich gerade neu orientieren.

Quellen:

  • ¹ Gunther Wolf: Mitarbeiterbindung; Freiburg, 2020
  • ² Gunther Wolf: Mitarbeiterbindung; Freiburg, 2020
  • ³ BMAS – Aktualisierte Langfristprognose: «Digitalisierte Arbeitswelt»
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Christian Bernhardt ist Dozent für non-verbale Kommunikation und Kommunikationspsychologie. Er hält Vorträge und Trainings zu den Themen Recruiting und Kommunikation und berät Unternehmen in Deutschland und der Schweiz.

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