Porträt

Ein frischer Wind weht durch das Schweizer Banken-Establishment

Die neue Zentralsekretärin des Schweizerischen Bankpersonalverbands (SBPV) nimmt trotz aller Wirren auf den 
Finanzmärkten mehrere Grossprojekte in Angriff. Ein Porträt von Denise Chervet – polyglott, engagiert, umgänglich 
und vor allem bekannt durch die traurige Episode um die Markierungsgeschosse in Genf.

Das nennt sich in Teufels Küche landen: Die im letzten Februar zur Zentralsekretärin des Schweizerischen Bankpersonalverbands ernannte Freiburgerin Denise Chervet, 52, hat sechs turbulente Monate hinter sich. Man stelle sich die Herkulesaufgabe vor – nach dem Schreckensjahr 2008 befindet sich der Schweizer Bankensektor zurzeit in einer Phase der Umstrukturierung. Die Credit Suisse eröffnet Ende 2008 das Feuer und kündigt einen weltweiten Abbau von 5800 Stellen an, davon fast 600 in der Schweiz. Die UBS folgt einige Monate später und streicht in der Schweiz 2500 Stellen.

Denise Chervet soll den Aderlass stoppen. Eine Art Denise gegen Goliath. Hinzu kommt der Effekt des «Nicht mit meiner Bank»: Im Reich der internationalen Hochfinanz zum Sprachrohr der Bankangestellten zu werden, kommt einer Majestätsbeleidigung gleich. Und schon ist man in Teufels Küche. Aber das ficht sie nicht an. «Ich bin sehr beharrlich. Falls etwas beim ersten Mal nicht gelingt, versuche ich es nochmals. Sind aber einmal alle Türen aufgestossen, kann ich auch ein neues Kapitel aufschlagen und mich anderen Zielen zuwenden», meint sie.

«Das Engagement für die Basis 
verpflichtet mich zu Bescheidenheit»

Der Ton ist versöhnlich, meilenweit entfernt vom kämpferischen Syndikalismus eines Olivier Besancenot, des wortgewaltigen Chefs der Neuen Antikapitalistischen Partei Frankreichs. Seit ihrer Ernennung wird sie in den Medien nach Herzenslust kritisiert. «L’Hebdo» und «Largeur.com» widmen ihr die Rubrik «Réseau» (Netzwerk). «Le Matin» feixt. Von der Westschweizer Tagesschau zu den Entlassungen bei der UBS befragt, verfällt sie nicht in Melodramatik und versucht, Haltung zu bewahren. «Natürlich war ich enttäuscht. Mit einer allgemeinen Arbeitszeitkürzung hätte sich die Hälfte der Entlassungen vermeiden lassen. Aber ich bleibe eine Sozialpartnerin und muss die guten Beziehungen zu unseren Gesprächspartnern aufrechterhalten», erklärt sie auf der Terrasse des Café Belvédère in der Freiburger Altstadt.

Sie strahlt, und das hat einen einfachen Grund: Sie kommt gerade von der Maturfeier ihres einzigen Sohnes am Gymnasium St. Michel. Der Vater, ein englischer Journalist (BBC, ITV, Times), mit dem die Gewerkschafterin seit über 20 Jahren verheiratet ist, nimmt ebenfalls am Gespräch teil. Welches sind die Qualitäten seiner Frau? «Ihr Wunsch, anderen zu helfen, ist sehr 
ausgeprägt. Und sie spricht vier Sprachen: Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch.»

Sie lächelt über das Kompliment und versichert, dass sie in erster Linie für ihre Mitglieder da ist: «Als Zentralsekretärin muss ich die Meinung der Basis vertreten. Bei ihr liegt die Entscheidung und nicht umgekehrt. Diese Form von Demokratie fasziniert mich. Das Engagement für die Basis verpflichtet mich zu Bescheidenheit und kritischem Denken.» Auf den Hinweis, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Bankensektor mit 10 Prozent ziemlich gering ist, antwortet sie: «Ja, das ist ein ausgeprägter Trend in unserer Gesellschaft. Die Leute glauben, ihre Interessen besser allein wahrnehmen zu können. Aber das ist ein Irrtum.» Sie präzisiert, dass die Vertreter des Bankensektors sehr kompetent seien. Die Grossbanken, so versichert sie, gewähren den Vorsitzenden der Personalkommission Zeit, um ihre Dossiers zu bearbeiten. Hinzu kommt, dass rund 80 Prozent der Schweizer Bankangestellten dem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) unterstellt sind, da die Grossbanken zu den Unterzeichnern gehören.

Die Bankenwelt erlebt zurzeit eine kleinere Revolution. Seit dem letzten Juni ist die Arbeitgeberorganisation der Schweizer Banken auf Bundesebene konstituiert. Damit wird ein Jahrzehnt der kantonalen Zersplitterung beendet. Was bedeutet das konkret? «Die Banken können den GAV einhalten, ohne auf kantonale Verbände zu achten. Das vereinfacht die Situation erheblich.»

Während sie die Personalvertreter als Verhandlungspartner schätzt, steht sie den HR-Mitarbeitern distanzierter gegenüber. «Sie sind allgemein sehr kultiviert, und die Anliegen der Beschäftigten lassen sie nicht gleichgültig. Aber sie haben auch Kostenreduktionsziele zu erfüllen. Da geht es um Entscheidungen, für die andere Motive als die Interessen des Personals zählen. Vielleicht denken sie in Zeiten des Wirtschaftswachstums anders», ergänzt sie, wie um das Argument zu entschärfen. Und wie steht es um das strategische Gewicht des HR? «Meiner Ansicht nach ist das nur gering. In einem Unternehmen werden die Interessen der Beschäftigten durch die Personalkommission, also den Sozialdienst, vertreten. Das HRM steht auf der Seite der Geschäftsleitung. Darüber sollte man sich im Klaren sein.»

Engagierter Kampf für die Rechte der Frau und gegen Überstunden

Denise Chervet fährt fort: «Die HR-Abteilungen vergessen oft, dass es nicht genügt, mit Personalkommissionen eine Sozialpartnerschaft einzugehen. Die Sozialpartner müssen auch angehört werden.» Die von der UBS durchgeführte Anhörung hat Spuren hinterlassen. «In der Schweiz sind die Unternehmensverantwortlichen nicht verpflichtet, den Forderungen der Personalvertreter Rechnung zu tragen. Sie nehmen diese zwar zur Kenntnis, aber die Entscheidungen werden im kleinen Kreis gefällt.» Sie fügt an, dass sich viele Probleme mit einem offeneren Gehör für das Bankpersonal hätten vermeiden lassen. «Die Angestellten, die ich getroffen habe, waren mit den hohen Salären des Topmanagements nicht einverstanden. Einige hatten auch vor den komplexen Finanzinstrumenten gewarnt. Aber niemand hat ihnen zugehört», fährt sie fort, ohne in Schwarzmalerei zu verfallen.

Überhaupt blickt sie lieber nach vorn. Welches sind ihre heissesten Dossiers? Die nächste Verhandlungsrunde zur Vereinbarung über die Anstellungsbedingungen der Bankangestellten (VAB) im November*. Das Ziel ist die Einführung eines Systems zur Messung der Überstunden. «Bisher verfügten die Arbeitsinspektoren nicht über die nötigen Hilfsmittel, um Kontrollen durchzuführen. Und im Bankensektor sind Überstunden heute ein Management-Tool, sozusagen ein notwendiges Übel. Das ist nicht richtig. Auch das Bankpersonal hat Anrecht auf ein gutes Gleichgewicht zwischen Familien- und Berufsleben», argumentiert sie. Rolf Stämpfli, ein früherer Verhandlungspartner und Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, beschreibt sie als «sehr engagierte Gewerkschafterin». Und weiter: «Sie hat sich auch für die Rechte der Frauen stark gemacht.» Denise Chervet befasst sich zurzeit mit der Überarbeitung des Systems der Kinderzulagen, dies ebenfalls für den Bankensektor.

Nicht den Menschen ändern, 
sondern das System

Ein umfangreiches Projekt zur Gesundheit am Arbeitsplatz liegt ihr besonders am Herzen: «In der Schweiz fehlt es uns an zuverlässigen Indikatoren zur Messung von Stress am Arbeitsplatz. Wir möchten mehr Informationen sammeln, um die Ursachen von Absenzen zu verstehen. Wie viele Todesfälle und Selbstmorde gibt es jedes Jahr? Hängen diese Fälle mit den Arbeitsbedingungen zusammen?» Hinter diesen Hypothesen steht eine Überzeugung: «Ich bin überzeugt, dass Leiden am Arbeitsplatz Krankheiten hervorruft. Es liegt an uns, das zu beweisen.»

Dieses Engagement für die Gesundheit der Mitarbeitenden reicht weit zurück. Als Jugendliche träumte sie davon, Arbeitsärztin zu werden, «um den Arbeitern zu helfen». Wegen ungenügender Mathematiknoten entschliesst sie sich dann aber zum Studium der Sozialwissenschaften an der Universität Neuenburg. Sie arbeitet unter anderem im Frauengefängnis Hindelbank BE. «Dort habe ich gelernt, dass die Sozialwissenschaften, zu denen auch die Psychologie gehört, vor allem dazu dienen, die Menschen dem System anzupassen. Ich will aber das System ändern, denn es schafft Leiden und Ungerechtigkeit.»

Sie geht nach Genf, um Jura zu studieren. Die Freude am sozialen Engagement hat sie von ihrem Vater, im Geist Anarchist und von Beruf Direktionschauffeur bei Philip Morris. Aus Sugiez im Vully stammend, gehört Marcel Chervet zum «armen» Ast der Chervet aus dem Vully (die «Reichen» sind Weinbauern in Praz). Ihre Mutter stirbt an Krebs, als sie 14 Jahre alt ist. Als Älteste von drei Geschwistern sagt sie heute, dass diese Schicksalsprüfung zugleich eine Chance war. «Was ich sage, hört sich vielleicht schrecklich an, aber Mutterliebe kann manchmal auch erdrückend sein.» Sie sollte also frei sein. Frei und engagiert.

Den Schweizer Finanzplatz etwas 
humaner gestalten

Ihr Weg als Aktivistin führt sie in die Reihen der Mediengewerkschaft Comedia. Zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits einige bedeutende Schlachten geschlagen. Anlässlich der Schliessung des Filtrona-Werks in Crissier (150 Entlassungen) kämpfte sie zwei Monate lang um einen Sozialplan in Höhe von zwei Millionen Franken. Zuletzt intervenierte sie in Schmitten FR, um die «unmenschlichen» Arbeitsbedingungen in der Firma Schumacher anzuprangern. Das Unternehmen weigerte sich, die Frau eines an Krebs verstorbenen Mitarbeiters zu entschädigen. 1995 wird sie als sozialistische Abgeordnete in den Freiburger Grossen Rat gewählt. Dort begegnet sie Alain 
Carrupt, dem Walliser Präsidenten der Mediengewerkschaft, der sie «als sehr engagierte Frau» in Erinnerung hat.

Und dann wäre da noch die Episode um die Markierungsgeschosse am Bahnhof Genf. Wer bei Google den Namen Denise Chervet eingibt, kann alles über die Affäre nachlesen. Als sie im März 2003 an einer Demonstration gegen die WTO teilnimmt, treffen sie zwei von der Polizei abgefeuerte Markierungsgeschosse, eines an der Hüfte und eines an der rechten Schläfe. Sie erstattet Anzeige und beklagt die Gewalt der Genfer Ordnungshüter. Anfänglich bestreiten die Beteiligten den Vorfall geschlossen. Doch später bricht ihre Argumentation wie ein Kartenhaus zusammen. Der Polizeisprecher tritt zurück in der Meinung, dass er von seinen Vorgesetzten verheizt wurde. Beim Prozess wird der Polizist, der die Geschosse abfeuerte, zunächst freigesprochen. Denise Chervet legt Berufung ein und gewinnt. Der Betreffende erhält eine Busse von zehn Tagessätzen und die Verfahrenskosten aufgebrummt. Danach nimmt sie sich der nächsten Herausforderung an. Es geht darum, den Schweizer Finanzplatz etwas humaner zu gestalten.

Denise Chervet in aller Kürze

Ein Genuss? Ein ruhiger Abend auf der Terrasse, mit einem Buch.
Eine lästige Arbeit? Fenster putzen.
Ein Buch? «La pesanteur et la grâce» (Schwerkraft und Gnade) von Simone Weil.
Ein Gericht? Gekochter Kohl an Kokossauce mit Tofu und Zitrone, als Beilage Basmati-Reis.
Ein Getränk? Wein.
Ein Fetischobjekt? Meine Ohrringe.
Der beste Rat, den Sie erhalten haben? Fürchte dich nicht. Ich öffne dir einen Weg.

  • * 
Anmerkung der Redaktion: Die Verhandlungsrunde fand am 10. November statt. Die Sozialpartner der Bankbranche 
einigten sich auf die Revision einiger Anstellungsbedingungen für Bankangestellte. Neu erhalten Teilzeitangestellte auf den ausbezahlten Überstunden einen Ferienlohnzuschlag, unaufschiebbare Arzt- und Behördenbesuche 
werden auf die Arbeitszeit angerechnet und die eingetragenen Partnerschaften werden den Verheirateten gleichgestellt. Zudem wird die bestehende Empfehlung über die Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern bei Bankschliessungen und Massenentlassungen in eine Verpflichtung umgewandelt. Die Sozialpartner haben zudem beschlossen, den Branchen-GAV im Jahr 2010 einer Totalrevision zu 
unterziehen.
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Marc Benninger ist Chefredaktor der französischen Ausgabe von HR Today.

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